Vertiefungstext: Zum Gebrauch des Futurs im Deutschen (aus französischer Sicht)


Der alte Streit zwischen "Modalisten" und "Temporalisten" soll hier nicht noch einmal ausgefochten werden.

Nur soviel: Die "Modalisten" vertreten die Ansicht, das Deutsche besitze kein echtes Futur (sondern nur präsentische Ersatzformen), da die Form werden+INF als Grenzfall der modalen Bedeutung von werden aufzufassen sei, wie sie etwa in dem Satz

Hans wird (wohl (jetzt (schon))) in London angekommen sein.

vorliegt. Außerdem sei der Mensch ohnehin nicht fähig, Aussagen über die Zukunft zu machen. Tatsache ist, dass das Deutsche keine futurischen Flexionsformen (wie etwa das Französische: Paul ira à Rome), sondern nur futurbezeichnende Periphrasen kennt (die es als futur proche auch im Frz. gibt: Paul va faire un voyage à Rome).


Dennoch lässt sich gegen die modalistische Auffassung einiges einwenden, spontan vor allem zwei Dinge:

A) Tilgt man in obigem Beispiel die zusätzlichen Adverbien und setzt man den verbleibenden Satz in verschiedene Kotexte, so wird zweierlei klar: (1.) für sich genommen kann der Satz sehr wohl eine Voraussage darstellen, hier in Form eines "abgeschlossenen Futurs" (Futurperfekts); (2.) es bedarf ko-/kontextueller Elemente und auch besonderer Intonation, um klarzustellen, welche von beiden Bedeutungen intendiert ist:

(a) Hans wird (wohl inzwischen) in London angekommen sein. (Es sieht ganz danach aus/nach menschlichem Ermessen muss es so sein). [modal] - (Depuis le temps) Jean doit être arrivé à Londres.

(b) Hans wird (mit dem "Eurostar") (bereits) in London angekommen sein (, während wir noch in Calais auf das Schiff warten). [temporal]. - (Par l'Eurostar), Jean sera déjà arrivé à Londres (pendant que nous serons encore à Calais à attendre le bateau).

B) Geht man von der Sprecherintention aus, so muss man einräumen, dass der Sprecher sehr wohl die Absicht haben kann, eine Voraussage zu treffen. Beispiele dafür sind der Wetterbericht, Erklärungen von Einsatz- und anderen Plänen, Karriere-Prognosen, biblische Vorhersagen und Visionen. Ob das Vorausgesagte dann auch eintrifft, liegt nicht mehr im Bereich linguistischer Forschung. Es liegt eine ähnliche Situation wie bei der Entscheidung "Lüge oder Wahrheit" vor. Die Grammatik ist nicht daran schuld, wenn das Gesagte nicht stimmt. Allerdings übernimmt der Sprecher mit seiner Voraussage eine gewisse Verantwortung, ein gewisses Engagement für das Gesagte. Dem trägt z.B. Jean Fourquet Rechnung, wenn er argumentiert, bei Voraussagen liege der Zeitpunkt der Verifizierung des Gesagten in der Zukunft.


Die "Temporalisten" erkennen die soeben dargestellten Fakten weitgehend an. Für sie gibt es unabhängig von der modalen Verwendung von werden einen Futur-Marker werden+INF. Jedoch bleiben auch bei ihnen Zweifel, und zwar hinsichtlich des Verhältnisses zwischen "werden-Futur" und "Präsens mit Futurbedeutung". Dazu einige Hinweise und Denkanstöße.


Ein Präsens kann allein keine Futurbedeutung haben. Das Präsens ist dadurch definiert, dass der Sprechzeitpunkt mit der Ereigniszeit, d.h. mit der Gültigkeit des Ereignisses zusammenfällt, zunächst einmal ohne Berücksichtigung des Parameters "Dauer". Dies gilt auch für die sogenannten zeitlosen Ereignisse, allgemeinen Wahrheiten usw.:

Drei mal drei ist neun.
Bei uns geht die Sonne im Osten auf.
Grönland ist eine Insel.

Fiele der Sprechzeitpunkt aus der zeitlichen Gültigkeit des Ereignisses heraus, könnte das Ereignis nicht im Präsens (außer metaphorisch: historisches Präsens) berichtet werden. Umgekehrt kann ein in einem anderen Tempus als Präsens berichteter Sachverhalt nicht in der Gegenwart liegen (literarische Kunstgriffe immer ausgenommen). Präsens impliziert a priori die Deckung von Ereignis- und Sprechzeit.

Drei mal drei war neun. [Hier ist die Rede von einer anderen, versunkenen Welt.]

Damit ist klar, dass irgendein Element hinzukommen muss, das die Futurbedeutung ermöglicht. Es kann ein explizites oder implizites Element sein, ein Adverb, oder einfach nur kontextuelles Wissen. Ein untrügliches Kriterium ist der Vergleich mit der realen Gegenwart. Die Futurbedeutung resultiert also aus Präsens + X, wobei X der Futur-Anzeiger ist:

Beispiel:Kriterium:Tempus:
Paul kennt sich da gut aus; er fährt oft/regelmäßig nach Rom. Verankerung in präsentischem Kotext-->kein Futur
Paul ist nicht zu Hause.
Er sitzt im Zug
und fährt gerade nach Rom.
echtes Präsens-->kein Futur
Paul fährt gern nach Rom.allgemein wertend-->kein Futur
Paul ist ein begeisterter Rombesucher. allgemeine Aussage-->kein Futur


ABER:

Beispiel:Kriterium:Tempus:
Paul fährt nächste Woche nach Rom. futurbezogenes Zeitadverb-->Futur
Paul fährt nach Rom. Hoffentlich macht er interessante Fotos.futurbezogenes Satzadverb im Kotext-->Futur
[Ich sage, während Paul neben mir sitzt:] Paul fährt nach Rom.Er ist jetzt real hier bei uns-->Futur
Paul fährt nach Rom, (das ist absolut sicher).besondere Betonung, (klärender Kommentar)-->Futur


In einigen Fällen ist in präsentischem Kontext das Präsens mit Futurbedeutung obligatorisch, da durch Elemente mit syntaktischer Relevanz die Futurbedeutung klargestellt ist. So in Nebensätzen, die durch wenn (= falls), bis, bevor, damit eingeleitet werden. Hier reicht schon die Bedeutung des Subjunktors zur Klarstellung aus, hinzu kommt der Bezug auf das im Hauptsatz erwähnte Ereignis. Die französische Sprache hat ganz andere Sorgen als die deutsche. In ihr lässt sich keine für alle entsprechenden Subjunktoren gemeinsame Zeit-Behandlung erkennen. Jeder Nebensatz-Typ erfährt eine auf spezifischen Regeln beruhende syntaktische Gestaltung. Dabei ist allerdings die Tendenz zu erkennen, die steifen konjunktivischen Formen zu umgehen.

Wenn/Falls Paul nach Rom fährt, besuche ich solange meine Eltern.

Kriterium: erfüllbare Hypothese, also: Futur.
Si Paul va à Rome, j'irai voir pendant ce temps-là mes parents.
Si = wenn verbietet Futur, wohl weil dieses als Voraussage-Tempus Affirmativität implizieren würde, siehe den futurischen Nachsatz. Si = ob würde Futur gestatten.]
Au cas où Paul irait à Rome, j'irai voir mes parents.
[Das Gegenstück zu falls hebt mit dem Konditional die Unentschiedenheit hervor.]

[Drückte der Satz einen Irrealis (unerfüllte Hypothese) aus: Wenn Paul nach Rom führe, würde ich ... besuchen, fiele der Satz aus unserer Thematik heraus; er hätte Präsensbedeutung.]

Bis Paul nach Rom fährt, hat die Familie noch alle Hände voll zu tun.

Kriterium: die Präposition drückt einen zeitlichen Abstand von der Sprechergegenwart zu einem Punkt in der Zukunft aus, also: Futur.
Bis Paul nach Rom fährt, hat die Familie noch alle Hände voll zu tun.
[Im Frz. könnte dieser Satz schriftsprachlich mit dem Subjunktor jusqu'à ce que gebildet werden, der generell Konjunktiv (subjonctif) erfordert und damit Futur ausschließt:] jusqu'à ce que Paul parte à Rome,…
[Geläufiger da weniger steif wäre allerdings eine andere Gestaltung der Rede, bei der eine Präpositionalphrase möglich wird:]
Paul voudrait partir à Rome. D'ici là, sa famille a encore beaucoup à faire.]

Bevor du nach Rom fährst, lässt du bitte unsere Alarmanlage reparieren.

Kriterien: Die Nebensatz-Handlung wird durch die Präposition als nachzeitig zur Hauptsatz-Handlung situiert; letztere ist ihrerseits durch das Satzadverb bitte als nachzeitig zur Sprechergegenwart ausgewiesen; also: auf beiden Ebenen Futur. [Hier setzt das Französische lieber eine Struktur aus Präposition+INF ein, die an um zu, ohne zu und statt zu erinnert. Ein Nebensatz mit dem Subjunktor avant que würde wieder den Konjunktiv erfordern (avant que tu partes à Rome…):]
Avant de partir à Rome, pense à faire réparer l'alarme.

Paul hat sich extra Urlaub genommen, damit er zu Ostern nach Rom fahren kann.

Kriterium: Jede Finalität enthält eine temporale Komponente; daher muss die Nachzeitigkeit im Finalsatz nicht materialisiert werden; dies würde vielleicht sogar als redundant empfunden.
[Auch hier gibt es im Frz. die Alternative Nebensatz oder Präposition+INF; letztere erlaubt die eleganteren Lösungen:]
Paul a réservé quelques jours de congé pour pouvoir passer Pâques à Rome.


Man kann für das Deutsche auch argumentieren, im Nebensatz sei die Handlung nicht aktualisiert (also auch nicht verzeitet), sondern nur konzeptuell aufgerufen, worauf die Endstellung des Verbs (die ja eine unmarkierte ist) hinweist. Insofern sei ohnehin keine Futurform zu erwarten; ja selbst die präsentische Form sei eigentlich kein Präsens, sondern stehe hier als eine Art unmarkierte Basisform des finiten Verbs.

Zum Gebrauch der beiden Futurperiphrasen:

Anhänger von in der Nachfolge Reichenbachs stehenden Theorien (die jedes Tempus als Doppelrelation zwischen Ereigniszeitpunkt, Beobachtungspunkt und Sprechzeitpunkt definieren) könnten versucht sein, jeder der beiden Periphrasen einen festen Platz im System zuzuweisen, nämlich:

  • dem Präsens mit Futurbedeutung die Funktion "Prospektiv des Präsensbereichs" als Ausdruck der Nachzeitigkeit des Ereignisses zu einem Basis-Präsens, das dem Sprech- und Beobachtungspunkt entspricht;
  • dem "werden-Futur“ die Funktion "imperfektives Basistempus des Futurbereichs", das das Ereignis als nachzeitig zum Sprechzeitpunkt aber als gleichzeitig zum Beobachtungszeitpunkt lokalisiert; auf dessen Grundlage ließe sich das Futur II als Tempus der Vorzeitigkeit zu diesem Basistempus definieren und vollwertig in das System einbeziehen.
    In der Praxis scheinen die Sprecher keine systematische Entscheidung vorzunehmen. Eher sind beide Periphrasen an bestimmte Gebrauchsformen gebunden, die aber auch sehr viel Spielraum lassen. Vorsichtig könnte man sagen, das ungezwungene Präsens mit Futurbedeutung ist eher im mündlichen, das steifere "werden-Futur“ eher im schriftlichen Bereich anzutreffen, aber auch das ist nicht durchgängig nachweisbar. Über den Unterschied, besonders über das "werden-Futur“, ist viel Widersprüchliches geschrieben worden. Überzeugend erscheint uns die Ansicht, das "werden-Futur“ verleihe der futurischen Aussage einen gewissen Nachdruck, denn es ist ja auch als Befehlsform anzutreffen. Der Sprecher versetzt sich innerlich in den Futurbereich, lässt ein persönliches Engagement erkennen, zeigt sich als Visionär:
Wir werden es schaffen, daran besteht kein Zweifel.
An dieser Stelle wird die größte Brücke Frankreichs entstehen.
Du wirst dich jetzt beim Nachbarn entschuldigen!

In anderen Fällen hat das "werden-Futur“ fast idiomatischen Charakter angenommen oder ist Teil eines Idioms:

Wir werden versuchen, Ihnen zu helfen.
Keine Sorge, unser Chef wird etwas möglich machen.

Müller kennt sich gut in Informatik aus ? Nun, das wird sich zeigen. [nicht: Das zeigt sich.]
Du wirst schon sehen, wo du mit deiner Arroganz landest. [nicht: Du siehst schon,...]

Allerdings wird auch von bestimmten Verwendungsweisen des Präsens mit Futurbedeutung behauptet, es sei das energischere von beiden, siehe Trotzreaktionen oder Antworten auf Widersprüche:

Ich fahre nach Rom, das steht fest!
In fünf Jahren gehört diese Firma mir, das schwör' ich dir!

Zum Text

Letzte Änderung
Aktionen
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen