Schwa bei den Flexionsmarkern der Verbflexion

Das folgendes Flexionsparadigma gibt die traditionellen Darstellung nach Person und Numerus schwacher und starker Verben im Präsens Indikativ mit den Flexionsmarkern der Verbflexion -(e), -(e)n, -(e)t, -(e)st wieder:

Sg.Pl.
1. Ps.lachelachen
2. Ps.lachst / redestlacht / redet
3. Ps.lacht / redetlachen

Bei diesem hinsichtlich Tempus und Modus unmarkierten Paradigma des Indikativ Präsens treten die schwalosen Varianten -st, -t (z.B. lachst / lacht) und die schwahaltigen Varianten -e und -en (z.B. lache / lachen) an den Verbstamm. Unter Berücksichtigung phonologischer Regeln sind bei bestimmten Verben alle Personal-/Numerussuffixe schwahaltig (redest / redet). Bei schwachen Verben gilt dies auch für den dentalen Präteritalmarker (-(e)t-/-(e)t(e)-), der je nach Sichtweise in Bezug auf Schwa unterschiedlich segmentiert werden kann. Für die Konjunktiv-Paradigmen starker und schwacher Verben ist das Erscheinen von Schwa als Modusmarker in allen Formen charakteristisch (z.B. du lachest, er/sie/es lache). Unabhängig von diesen Betrachtungen wird Schwa in der gesprochenen Sprache häufig nicht gesetzt.

Varianten mit/ohne Schwa bei den Personal-/Numerussuffixen

Die Distribution von schwahaltigen und schwalosen Varianten bei den Personal-/Numerussuffixen in der Verbflexion ist also von verschiedenen Faktoren abhängig, die auch in Wechselwirkung stehen können:

  • Häufiger Wegfall unbetonter Vokale in der gesprochenen Sprache, insbesondere Schwa [ə]
  • Abhängigkeit von phonologischen (genauer: phonotaktischen) Regularitäten, die beim Bau einer Silbe oder eines Morphems im Deutschen herrschen.
  • Markierung von Flexionskategorien, d.h. morphologisch signifikante Distribution von Schwa.

Nicht-Setzung von Schwa in der gesprochenen Sprache

Auf der Grundlage des Flexionsparadigmas schwacher und starker Verben im Präsens Indikativ sind u.a. folgende Beispiele erklärungsbedürftig:

"Ja, ja", erwidert sie, "jetzt ein Foto, das wär’s, ich lach’ mich kaputt." [Berliner Zeitung, 22.03.2001]

"Am Anfang sitzt nur im Zimmer und redst mit keinem. Das ist schlimm", sagt der 22jährige Mario. [Neue Kronen-Zeitung, 10.01.1999]

Der Wegfall des Schwa-Lautes im Auslaut (offene Silbe) und in der Endsilbe vor Nasalen [m, n] und [l] ist ein verbreitetes Phänomen der gesprochenen Sprache. Davon betroffen sind auch Verbformen, die die Flexionsmarker -(e) und -(e)n tragen, insbesondere in der die 1. Person Singular Präsens wie in Beispiel (1). In der Schrift kann der Wegfall eines Schwas durch ein Apostroph gekennzeichnet werden (z.B. ich geh').

(1) ich habehab' [hap/ha:p]; lachelach'

(2) wir redenred'n [re:dn̩]

Zu mehreren unterschiedlichen Varianten kommt es bei Verbstämmen auf -el oder -er (z.B. sammeln, ändern), die aus phonotaktischen Gründen (vgl. Beispiel 7) die schwalose Variante des Flexionsmarkers -n besitzen (sie sammeln, nicht: *sammelen). Die anderen Flexionsmarker -(e), -(e)t, -(e)st werden oft in ihrer schwahaltigen Form gewählt und im Gegenzug das Schwa im Verbstamm weggelassen, was in Laut und Schrift zu mehreren Varianten führen kann, z.B. ich sammele / sammle / sammel / (samml) ['zam̩l].

Beispiele:

Haben Sie sonst noch eine Sammelleidenschaft? Ja, ich sammle Reisebücher. [Züricher Tagesanzeiger, 23.10.1999]

Holz zum Brennen sammele ich mir selber. Das kaufe ich nicht. [die tageszeitung, 12.11.1993]

"Das nimmt mir niemand mehr. Ich sammel alles, denn ich will mich auch noch daran erinnern, wenn ich 80 bin." [die tageszeitung, 15.12.2000]

In Fällen, in denen Schwa die Aufgabe zukommt, markierte Flexionskategorien zu kennzeichnen, wird es auch in der gesprochenen Sprache regelmäßig gesetzt. Auf diese Weise können Homonymien gezielt vermieden und Formen, die außer Schwa keine weiteren spezifischen Marker wie den Vokalwechsel haben, disambiguiert werden. Schwaloses lach' ist deutlich indikativisch, *er lach' (Konj. I) ist nicht möglich. Ebenfalls nicht möglich ist *er lacht' (Prät./Konj.II), welches mit der Präsensform gleichlautend wäre. Diese Einschränkung kann auch für die Formen des Adressaten bei starken Verben gelten, bei denen z.B. eine schwalose Konjunktivform *riefst (stattriefest) mit der Präteritalform gleichlautend wäre (vgl. Eisenberg 2006:141).

Tendenziell kann Schwa bei der Verbflexion in der gesprochenen Sprache folglich immer dann wegfallen, wenn dadurch keine phonotaktischen Regularitäten verletzt werden und ihm keine intendierte flexionsmorphologische Markierungsfunktion zukommt.

Phonologische Bedingungen

Für das Vorhandensein bzw. Fehlen von Schwa bei den Personal-/Numerussuffixen sind phonotaktische Faktoren und die Beschaffenheit des Auslauts des Verbstammes von besonderer Bedeutung. Schwa kann, wie auch in anderen Bereichen der Flexion, dazu dienen, Silbigkeit herbeizuführen, die zur morphologischen Transparenz wie in Beispiel (3) und/oder zur Erleichterung der Aussprache bzw. zur Einhaltung von Silbenbaugesetzen wie in Beispiel (4) beiträgt.

(3) Verbstamm auf Dental: betet, nicht: *bett

(4) Verbstamm auf Plosiv/Frikativ + Nasal: atmet, nicht: *atmt

Tritt ein Schwa zwischenVerbstamm und Suffix bleiben beide Teile besser identifizierbar und verschmelzen nicht, wie es sonst z. B. bei Verbstämmen auf -d/-t mit dem schwalosen Flexionsmarker -t der Fall wäre (Beispiel 3). Die dadurch gewonnene morphologische Transparenz des Personal-/Numerusmarkers geht aber zu Lasten der potenziellen Modusdifferenzierung im Präsens, denn die Konjunktivformen des Adressaten fallen in diesen Fällen mit den entsprechenden Indikativformen zusammen. Die mögliche (in der gesprochenen Sprache allerdings häufig nicht realisierte) Unterscheidung von Indikativ und Konjunktiv der 2. Person (Adressat) schwacher Verben und starker Verben ohne Vokalwechsel ist bei Verben mit eingeschobenem Schwa nicht möglich:

du lachst / ihr lacht (Ind.) — du lachest / ihr lachet (Konj.). Aber: du redest / ihr redet (Ind./Konj.)

Bei Verbstämmen auf Dental, die schon durch einen Vokalwechsel gekennzeichnet sind, wird hingegen kein Schwa gesetzt:

du giltst; er wandte sich an...

Die Distribution von Schwa bei dem Personal-/Numerussuffix -(e)n ist nie flexionsmorphologisch signifikant, d. h. es wird nicht zur Unterscheidung verbaler Flexionsformen genutzt, sondern ist nur von phonologischen Bedingungen abhängig. Nach der genormten Lautung des Duden-Aussprachewörterbuchs wird -(e)n immer schwalos als [n̩] realisiert (silbisches n), wenn der Verbstamm nicht auf Vokale, Nasale oder Liquide endet (5). Endet der Verbstamm hingegen auf einen dieser Laute, wird das Suffix als Schwasilbe gesetzt [ən] (6). Bei Verbstämmen auf -el/-er, z. B. füttern, wird das Suffix aus phonotaktischen Gründen ebenfalls schwalos als -n realisiert und an den silbischen Liquid bzw. das vokalische r angehängt, d. h. die Silbenzahl der Wortform bleibt gleich. Die Nicht-Setzung von Schwa wird aber nur bei diesem nicht-silbischen, schwalosen n (bei Verben auf -el/-er) orthographisch berücksichtigt (7), im Falle des silbischen n (5) wird e dennoch geschrieben:

(5) Verbstamm auf Konsonant außer Nasale/Liquide: hatten ['hatn̩], bremsen ['brɛmzn̩], röntgen ['rœtgŋ̩], pantschen ['pantʃn̩]

(6) Verbstamm auf Vokal, Nasal [n, m, ŋ], [l] oder [r]: sahen ['za:ən], öffnen ['œfnən], zählen ['tsɛ:lən], waren ['va:rən]

(7) Verbstamm auf -el/-er [əl], [ɐ] (vokalisches r): sammeln ['zaml̩n], rudern ['ru:dɐn]

In anderen komplexen lautlichen Umgebungen wie in (8) ist ein Schwa phonotaktisch nicht notwendig und wird nicht eingeschoben:

(8) Verbstamm auf [r] + Nasal: lernt ['lɛrnt], nicht: *lernet (aber: lernen ['lɛrnən], nicht möglich: *lern'n)

Auch in den folgenden Beispielen (9) und (10) wird kein Schwa gesetzt. Es liegen besondere Bedingungen vor, da die Suffixe -st und -t ohne das Schwa direkt auf einen gleichlautenden Auslaut des Verstammes treffen und somit Geminaten bilden würden, die nach den phonologischen Regeln des Deutschen nicht vorkommen.

(9) Verbstamm auf [z, s, ʃ]: küsst, nicht: *küsset

Bei Formen wie in (9) sind in der 2. und 3. Person Singular nur noch diejenigen unterscheidbar, deren Verbstamm auf [ʃ] ausgeht (z.B. du naschst, er/sie/es nascht), die anderen Formen auf [z,s] fallen an den besagten Positionen zusammen (z.B.du//er/sie/es küsst), da in der 2. Person das [s] des Verbstammes und das des Suffixes zu einem einfachen [s] reduziert wird (Geminatenreduktion).

(10) Verbstamm auf Dental mit Vokalwechsel:t, nicht *rätet

In letzten Beispiel betrifft die Geminatenreduktion das [t] von Verbstamm und Suffix in der 3. Person, d.h. ein Formzusammenfall wie in (9) findet aber nicht statt. Die morphologische Transparenz bleibt zudem durch den Vokalwechsel erhalten.

Vereinzelte, von lautlichen Bedingungen unabhängige Bildungen mit Schwa sind veraltete oder poetische Formen (stilistisch markiert):

"Nehmet dies teure Pfand wohl in acht und lasset es nicht von Euch noch von Eurem Geschlecht kommen; [...]" [Die Frau von Alvensleben (1818), In: Deutsche Sagen, gesammelt von J. und W.Grimm.]

Markierung von Flexionskategorien

Die Distribution von Schwa kann auch flexionsmorphologisch signifikant sein. Wenn keine phonotaktischen Regeln verletzt werden, treten in den markierten Teilparadigmen des Präsens Konjunktiv sowie des Präteritum Indikativ und Konjunktiv die schwahaltigen Varianten der Personal- und Numerusendungen an den Stamm:

Präs. Konj.Prät. Ind./Konj.
Nicht-Adressatlachelachte
Adressatlachestlachtest

Im Präsens sind die Formen mit schwahaltigen Varianten der Personal-/Numerussuffixe modusmarkiert (mit Ausnahme derer, die diese aus phonologischen Gründen besitzen, z.B. atmest). Durch die potenzielle Weglassbarkeit von Schwa fallen Konjunktivformen in der geprochenen Sprache oft mit entsprechenden Indikativformen zusammen. Formen mit schwalosen Personal-/Numerussuffixen und ohne Vokalwechsel sind nicht modusmarkiert.

Die unter Nicht-Setzung von Schwa in der gesprochenen Sprache erläuterten Bedingungen bewirken also, dass nur einige Formen in den verbalen Flexionsparadigmen als deutlich konjunktivisch (vgl. Fabricius-Hansen 1999) bezeichnet werden können. Dies sind Formen, die neben dem potenziell weglassbaren Schwa noch weitere Modusmarker besitzen (z.B. Umlaut) oder an der entsprechenden Position im Flexionsparadigma aufgrund des Synkretismus der 1./3. Person (Nicht-Adressat) im Konjunktiv durch eine von der 3. Person Indikativ abweichende Form gekennzeichnet sind. Als deutlich konjunktivisch können also nur die folgenden Formen bezeichnet werden:

Flexionsklasse + Stammformendeutlich konjunktivische FormenBeispiel IndikativBeispiel Konjunktiv
1.Schwache VerbenPräsens, 3. Person, Singularer lachter lache
2.Starke Verben ohne sekundäre StammformenPräsens, 3. Person, Singularsie reitetsie reite
3.Starke Verben mit sekundären StammformenPräsens, 2. und 3. Person, Singulardu fährst – es fährtdu fahrest – es fahre
Präteritum, ±Adressat, Sg./Pl. ich/es fuhr – wir/sie fuhrenich/es führe – wir/sie führen
4.Modalverben und wissenPräsens, ±Adressat, Singularich/man will – du willstich/man wolle – du wollest
außer wollen/sollenPräteritum, ±Adressat, Sg./Pl.ich/man muss – du musstich/man müsste – du müsstest

Sein besitzt deutlich konjunktivische Formen in allen Tempora und Personen/Numeri (aber: Präsens Adressat Plural seid/seiet ist nur in der Schrift deutlich), haben und werden verhält sich diesbezüglich wie in 3.

Im Präteritum kann das Schwa der Suffixe bei schwachen Verben (und wollen/sollen) je nach Segmentierung als Teil des Präteritalmarkers oder als Personal-/Numerussuffix angesehen werden. Bei starken und gemischten Verben (und haben, sein, wissen Modalverben außer wollen/sollen) werden separate Tempus- und (deutliche) Modusmarkierungen im Präteritum auch nicht durch das Schwa, sondern durch den Umlaut sekundärer Präteritalstammformen geleistet (z.B. ich/man lag vs. läg(e); du hattest vs. hätt(e)st)

Segmentierung des Präteritalmarkers bei schwachen Verben

Bei schwachen Verben wird der Tempusmarker Präteritum durch ein agglutinierendes Suffix (bzw. Infix) gebildet, wie man an den Teilparadigmen des Präteritum Indikativ/Konjunktiv von machen und beten zeigen kann. Dabei können das Präteritalsuffix und das ihm unmittelbar folgende fusionierende Personal-/Numerussuffix hinsichtlich des Schwalautes auf unterschiedliche Weise segmentiert werden.

Variante A (Tempusmarker -t- / -et-)

SingularPlural
Nicht-Adressatmach-t-e
bet-et-e
mach-t-en
bet-et-en
Adressatmach-t-est
bet-et-est
mach-t-et
bet-et-et

Hier kann das Präteritalsuffix (bzw. -infix) -t- angenommen werden, das eine schwahaltige Variante-et [ət] besitzt, deren Auftreten phonotaktisch geregelt ist. Sie ermöglicht es, das Suffix deutlich vom Stamm abzugrenzen, z. B. in Verben wie bet-et-e, red-et-e.

Für die Wortformen des Präteritums schwacher Verben ist neben dem Präteritalsuffix -t /-et die Silbigkeit der gesamten Endung charakteristisch, z.B. mach-te, mach-test und nicht *mach-t und *mach-tst. In der unmarkierten, produktiven Klasse der schwachen Verben zeichnet sich die markierte Kategorie Präteritum (bzw. Konjunktiv) dadurch (als ikonisch) aus, dass die entsprechenden Formen immer mindestens zweisilbig sind, während im Präsens auch Einsilbigkeit möglich ist, z.B. ich mach' (vgl. Eisenberg 2006, 1, S. 1993f.). Für die Silbigkeit der Endung sorgt also das durchgehend nach dem -t- / -et- erscheinende Schwa. Das Auftreten schwahaltiger Varianten der Personal- und Numerusendungen wie -e oder -est ist hier somit morphologisch relevant.

Variante B (Tempusmarker -te- / -ete-)

Alternativ könnte das Schwa zu einer Einheit mit -t- / -et- zusammengefasst werden mit der Begründung: Es markiere - indem es die Silbigkeit herbeiführe - mit diesem zusammen die Kategorie Präteritum. Gemäß dieser Interpretation müssten einzelne Wortformen wie folgt zerlegt werden:
SingularPlural
Nicht-Adressatmach-te_
bet-ete_
mach-te-n
bet-ete-n
Adressatmach-te-st
bet-ete-st
mach-te-t
bet-ete-t

Hier wird das Präteritalsuffix -te- / -ete- angenommen. Die Wortform machte erscheint demzufolge ohne Personalendung. Die Wortform wird zur Markierung des Nicht-Adressaten gebraucht, also in den gleichen Fällen, in denen bei starken Verben ebenfalls eine Wortform ohne Personalendung gebraucht wird, z.B. schrieb vs. schriebst usw.

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