Argumentreduktion im Passiv
Die Verwendung von Passivformen ist meist verbunden mit Argumentreduktion: Ein semantisch impliziertes Argument bleibt ungenannt. Zugleich ist eine Thematisierung des entsprechenden Gegenstands im Satz ausgeschlossen.
Zwei Verwendungszusammenhänge lassen sich hierbei unterscheiden:
Fall (a):
Ein ungenannter Gegenstand kann aus einschlägigem Situationswissen, Sachwissen oder Weltwissen zu erschließen sein:
- Bei gemeinsamer direkter Beobachtung eines
Geschehens:
Der wird ja ganz schön verdroschen.
[Zuschauer beim Boxkampf zum Nachbarn] - Bei allgemein bekannten Ereignissen und
Ereignisbeteiligten:
Der Krieg war lange vorgedacht und vorbereitet, Stalins Freibrief von 23. Aug. macht jeden Zweifel zum Dummfug, daß wirklich "zurückgeschossen" wurde.
[Martin Blumentritt, Deutschlands Kriegsschuld an zwei Weltkriegen, http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr42s.htm] - Wenn allein durch den Gebrauch bestimmter
Handlungsbezeichnungen (verhaften,
sicherstellen, beschlagnahmen,
obduzieren, konfirmieren,
beisetzen, vereidigen usw.)
klargestellt ist, wer diese Handlung vollzieht:
Bei Hausdurchsuchungen wurden zum Teil mehrere tausend CD¿s beschlagnahmt.
[http://www.jusos-nds.de/newsletter/20_99/antifands.htm]
Schon 1938 wurden Luftschutzübungen für den Kriegsfall angeordnet und mußten Gruft und Weinkeller als Luftschutzräume eingerichtet werden.
[http://www.elisabethinen.or.at/wirueberuns/geschichte/nsregimetext.htm]
Der bisherige Vizepräsident Johnson ist bereits heute Abend in Dallas als neuer Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden.
[Karl Heinz Köpke, ARD Tagesschau vom 22.11. 1963]
Auch in Gebrauchsanweisungen, Kochbüchern, Spielregeln, Gesetzestexten, Verwaltungsvorschriften, Erlassen, Geschäftsordnungen ist es üblich, den konventionell oder institutionell auf die Rolle des Agens festgelegten Adressaten nicht zu thematisieren. In diesem Fall ist das Passiv die Konstruktion der Wahl:
[Grundgesetz, Art. 4 (3)]
[http://kochbuch.unix-ag.uni-kl.de/bin/rezept?15615]
Außerhalb von Anweisungstexten werden Ereignisbeteiligte dann nicht thematisiert, wenn verallgemeinernde oder allgemeingültige Aussagen gemacht werden sollen:
[Die Zelle I, Leben aus Licht und Luft, IWF-CD-ROM]
In solchen Fällen - Textsortenbindung oder angestrebte Verallgemeinerbarkeit - geht man in der Regel davon aus, dass der ungenannte Gegenstand aus verfügbarem Wissen erschlossen werden kann. Anders in Fällen, in denen der Gegenstand
- dem Sprecher oder Schreiber unbekannt
ist
Von dem Edelmut, mit dem das uneheliche Kind heimlich mit Land dotiert wurde, gar nicht zu reden.
[Kurt Tucholsky, Digitale Bibliothek Bd 15, S. 4952]
Ein anderer wird schwer verletzt.
[Birgitta Assheuer, Die 60er Jahre, DERHÖRVERLAG, München 1999] - nach Auffassung des Sprechers unwichtig
ist
Der eine-millionste Gastarbeiter wird am 10. September 1964 am Bahnhof von Köln-Deutz noch freudig mit Blumenstrauß und Moped als Geschenk empfangen.
[Peter Heusch, Die 60er Jahre, DERHÖRVERLAG, München 1999] - bewusst anonym bleiben
soll
Die Erkenntnis, erneut "verraten" und "betrogen" zu werden, stellt sich damit heute in erster Linie bei all jenen ein, die mit ihrer Wahl der ODS eine Rückkehr alter Verhältnisse verhindern wollten, deren konservatives Glaubensbekenntnis von der Politik Margaret Thatchers und Ronald Reagans bestimmt wurde.
[die tageszeitung, 10.12.1992, S. 10]
Bei subjektlosem werden-Passiv einwertiger Verben (etwa lachen, tanzen, schweigen) hat Argumentreduzierung eine besondere Wirkung: Da kein Ereignisbeteiligter genannt wird, erscheint das beschriebene Handeln als reines Geschehen - unter Ausblendung der Akteure. Man findet Formulierungen dieser Art vor allem in Situationsschilderungen oder situierenden Passagen von Erzählungen:
[Berliner Zeitung, 27.11.1997, S.1]
Fall (b):
Ist ein im Passivsatz aufgrund von Argumentreduktion nicht aufgeführter Agens im Kontext genannt, kann seine Identität aus diesem systematisch erschlossen werden.
In erster Linie handelt es sich dabei um Fälle, in denen, wer als Agens in Frage kommt, im Vortext - gelegentlich auch im Folgetext - der Passivkonstruktion thematisiert bzw. als thematischer Gegenstand genannt wird. Es handelt sich also um implizite Themakontinuität. Die Passivkonstruktion erlaubt, den dabei in den Hintergrund gerückten Gegenstand ungenannt zu lassen. Das Passiv vermeidet hier Redundanz , kann also gegenüber dem Aktiv als ökonomischer gelten.
Unter dem Gesichtspunkt des Aufbaus und der Strukturierung von Diskurs- oder Textwissen ist die Folge:
gegenüber der umgekehrten Reihenfolge:
eher zu erwarten.
Folge 1:
[LGB, 110]
[H. Mann, Henri Quatre, 65]
Folge 2:
Die Gefahr einer "Heroin-Welle" im kommenden Frühjahr wird (...) von der Bundesregierung nicht gesehen.
[Mannheimer Morgen, 28.2.1975, S.13]
Kolb, MA 24, Tel. 851269.[Mannheimer Morgen, 18.2.1975, S.40]
Charakteristisch für die ungewohntere Folge 2 sind Kontexte wie 'Artikelschlagzeile - Artikeltext' oder auch 'Inserattext - Adresse des Inserenten'.
Kontextuelle Präsenz des im Passivsatz nicht genannten Gegenstandes
wird häufig als "anaphorische" oder "kataphorische Ellipse" betrachtet.
Mit dem Begriff der Ellipse ist dann die Vorstellung verbunden, durch
Einsetzung zuvor - oder auch später - verbalisierter Teile sei
Vollständigkeit wiederherzustellen. Dies ist jedoch nicht zutreffend, da
die Einsetzung einer entsprechenden Gegenstandsbezeichnung als
Kprp
in die Passivkonstruktion nicht in allen Fällen zu Sätzen mit
gleichen Wahrheitsbedingungen führt. In skopussensitiven
Passivkonstruktionen ohne Kprp ist dann mit Änderungen der
Skopusverhältnisse zu rechnen. So würde etwa bei
Später schrieb jede der
beiden nach Pau, an Henri. Die Briefe wurden gewöhnlich in
verschiedenen Zimmern des Schlosses von Blois
geschrieben.
durch Einsetzung von von
jeder der beiden eine zusätzliche, in der Regel nicht gemeinte
Lesart entstehen:
Die Briefe wurden von jeder der
beiden gewöhnlich in verschiedenen Zimmern des Schlosses von Blois
geschrieben.
Neue Lesart: Jede der
beiden suchte mehrere verschiedene Zimmer auf.
Die kontextuelle Erschließung des im Passiv nicht genannten
Ereignisbeteiligten darf nicht mit der Einsetzung einer entsprechenden Phrase
gleichgesetzt werden. Es handelt sich um eine Operation im Text- oder
Diskurswissen, nicht um eine Operation auf der Ebene der sprachlichen
Repräsentation.
Verwandt mit kontextueller Präsenz des Gegenstandes sind Fälle, in denen der ausgesparte Agens aus bestimmten Angaben innerhalb der Passivkonstruktion erschlossen werden kann, ohne dass er durch eine Gegenstandsbezeichnung direkt thematisiert würde. Hier sind insbesondere lokale Adverbialia zu nennen:
[XAM, 46]
[WPE, 313]
oder qualifizierende Adverbialia, die als denominale Adjektive wie gesetzlich, wissenschaftlich, polizeilich einen Bezug zu entsprechenden Gegenstandsbezeichnungen herstellen lassen:
[XBY, 2]
[ XCO, 29]
Auch Gegenstandsbezeichnungen, die als Attribute dazu dienen, andere Gegenstände erst zu spezifizieren, können als Hinweis auf den ungenannten Ereignisbeteiligten dienen:
[XAS, 10]