Kommunikative Wirkung der Argumentstrukturierung im Passiv
Was Aktiv und Passiv im Hinblick auf ihren Einsatz in kommunikativen Handlungen unterscheidet, kann an diesen beiden Erscheinungen festgemacht werden:
- Die Subjektposition wird bei Passivformen anders besetzt als bei entsprechenden Aktivformen. Bei subjektlosen Passivformen bleibt sie gänzlich unbesetzt.
- Dem Subjekt des Aktivsatzes entspricht, sofern es überhaupt eine explizite Entsprechung hat, ein Kprp das semantisch nicht als Argument fungiert.
Zwischen Passiv-Subjekt und dem Kprp, das dem Aktiv-Subjekt entspricht, besteht hinsichtlich der Fokusstruktur häufig wechselseitige Abhängigkeit als jeweiliger Vorder- und Hintergrund.
Zwei Fallgruppen lassen sich unterscheiden:
- Das Passivsubjekt ist thematisch [unmarkierter Fall]
- Das Passivsubjekt ist hervorgehoben [markierter Fall]
Neben diesen Fallgruppen ist auch die Wirkung subjektloser sein- und werden-Passivformen zu berücksichtigen, bei denen es ein Passivsubjekt nicht möglich ist.
Ausschlaggebend für die Wahl des Passivs gegenüber dem Aktiv können auch eher stilistische und textgestalterische Vorteile sein.
Passivsubjekt thematisch
Bei dieses insgesamt häufigsten Fallgruppe - je nach untersuchtem Korpus 50-70 % aller Passivkonstruktionen - findet sich das Passivsubjekt im Vorfeld und trägt keinen Gewichtungsakzent:
[U r t e i l Az.: L 4 Kr 156/95 S 6 Kr 60099/94 (SG Oldenburg)]
(2) Symbolisch soll es darstellen den Kampf zwischen Gut und Böse.
(3) Und zwar ist das Gute versinnbildlicht durch zwei Erzengel (...)
(4) Jeder hat aus Karton ein Paar Flügelchen in weiß oder rosa am Rücken hängen.
(5) In der Hand schwingen sie ein Holzschwert und ein Schild, um die Mächte des Bösen abzuwehren.
(6) Das Böse wird repräsentiert durch die Teufel, daher auch der Name Diabolita.
[XAB, 2]
Das Passivsubjekt erlaubt hier einen unmittelbaren thematischen Anschluss von minimaler Distanz, thematische Kontinuität in maximal unmarkierter Form, einen "Gleichlauf" von Thema, Subjekt und Topik. Aktiv und Passiv verhalten sich hier komplementär zueinander:
- Soll ein Thema fortgeführt werden, das bei aktivischer Formulierung mit dem Subjekt wiederaufgenommen würde, ist das Aktiv Mittel der Wahl, um den Gleichlauf zu erreichen - so beim Übergang von (3) zu (4).
- Wäre das fortzuführende Thema dagegen im zu formulierenden Satz bei aktivischer Formulierung als Kakk anzubinden, ist das werden-oder sein-Passiv das Mittel der Wahl - so beim Übergang von Gut und Böse in (2) zu das Gute in (3) und zu das Böse in (6). Das Aktiv würde hier entweder bei Positionierung im Mittelfeld die thematische Anknüpfung weniger deutlich machen oder bei Positionierung im Vorfeld eine kommunikativ unangemessene Hervorhebung des thematischen Hintergrundelementes mit sich bringen.
Das dem Aktiv-Subjekt entsprechende Kprp findet sich bei dieser Fallgruppe, wenn es überhaupt vorhanden ist, unmarkiert im Schwerpunktbereich des Satzes am Ende des Mittelfelds, bei Verbletzt-Stellung meist in unmittelbarer Nähe des Verbs. In dieser Position trägt es in der Regel den Gewichtungsakzent:
[XAP, 4]
Das Kprp ist häufig Träger neuer Information. Dies entspricht der Tatsache, dass Weglassbares, wenn es denn gesetzt wird, in der Regel gewichtiger ist als Strukturnotwendiges.
Ein dem Aktiv-Subjekt entsprechendes Kprp kann bei thematischem Passiv-Subjekt auch Vordergrundinformation ausdrücken und dann unter Kontrastakzent ins Vorfeld rücken:
[XFD, 8]
[Kurt Tucholsky, Digitale Bibliothek Band 15: S. 614]
Thematisch kann ein dem Aktiv-Subjekt entsprechendes Kprp auch bei thematischem Passivsubjekt sein. Dabei handelt es sich um einen relativ seltenen Fall, bei dem Kprp nicht entfallen kann:
Das Parlament [Thema 1] muss eine starke Regierung [Thema 2] wird ja schließlich von ihmwollen und wünschen, denn diese Regierung [Thema 2] [Thema 1] gestellt.
Passivsubjekt hervorgehoben.
Bei dieser Fallgruppe tritt das Denotat des Passivsubjekts in den Vordergrund, weil es sich um einen neu-thematisierten Gegenstand handelt:
[XEE, 6]
oder allgemeiner um Vordergrundinformation:
[XAO, 18]
Wie sich hier zeigt wird bei hervorgehobenem Passivsubjekt das Vorfeldnicht selten durch ein expletives es besetzt. Sind weitere Komplemente und Supplemente nicht vorhanden, kann nur so das Subjekt in den Schwerpunktbereich gerückt werden.
Häufig wird ein dem Aktiv-Subjekt entsprechendes Kprp nicht aufgeführt oder liefert Hintergrundinformation etwa als thematisches Element
[Süddeutsche Zeitung, 14.1.1983]
oder als Ausdruck für ein Subthema:
[Rhein-Neckar-Zeitung, 7.3.1990, 3]
Kein Passivsubjekt:
Im unmarkierten Fall werden hier andere Komplemente oder Supplemente ins Vorfeld gerückt:
[Rhein-Neckar-Zeitung, 7.3.1990, 6]
Sind keine Komplemente vorhanden, liegt eine rein 'prädikatskonstituierten' Informationseinheit vor. Das Prädikat bildet dabei in der Regel die Vordergrundinformation:
[Jean Paul: Hesperus, S. 466. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur]
[Friedrich Gerstäcker, Der Flatbootmann, zit nach Gutenberg-De, Die digitale Bibliothek]
Es kann aber auch - kennzeichnenderweise bei Vorfeldposition des Partizips II - zum Hintergrund gehören:
[XAO, 12]
[A. Brandstetter, Die Abtei 1977, 36 ]
Stilistische und textgestalterische Vorteile durch die Wahl des Passivs
- Strukturelle Identität mit der Möglichkeit der Analepse
So kann etwa durch passivische Formulierung einzelner Koordinationsglieder erreicht werden, dass referenzidentische Argumente jeweils in allen Gliedern die Subjektstelle einnehmen, wodurch Analepse ermöglicht wird; gleichzeitig kann so auf ökonomische Weise thematische Kontinuität signalisiert werden:
[Rhein-Neckar-Zeitung, 7.3.1990, 5]
[TPM, 53]
[Süddeutsche Zeitung, 11./12. 4. 1975]
- Strukturelle Identität mit der Möglichkeit des Anschlusses einer Infinitivkonstruktion
Passivische Formulierung erlaubt den Gebrauch von Infinitivkonstruktionen in Fällen, in denen eine aktivische Formulierung ohne den nötigen Bezug im Obersatz bliebe:
[Oberlandesgericht Dresden, Urteil Geschäftsnummer: 14 U 433/98]
- Strukturelle Identität zwischen Ober- und Untersatz
Passivische Formulierung kann identische Satzgliedfunktion eines Ausdrucks als Subjekt in Ober- und Untersätzen ermöglichen, während in entsprechenden Aktivsätzen unterschiedliche Satzgliedfunktion - etwa. als Subjekt und Kdat oder Kakk - gegeben wäre. Dadurch kann u.U. ein deiktischer Ausdruck eingespart werden und insgesamt ein durchsichtigerer Bau komplexer Sätze erreicht werden:
[BUNDESSOZIALGERICHT, Urteil in dem Rechtsstreit Az: B 4 RA 33/98 R]
[Kurt Tucholsky, Werke und Briefe: 1927, S. 955. Digitale Bibliothek Band 15]
[ Zeit, 18.1.1974, 50]