Das Blockierungsargument in der Wortbildung
Einige Möglichkeiten, die das Wortbildungssystem zulässt, sind normwidrig, d.h. sie sind markiert als ungebräuchlich, als auffällig: So sind z.B. deverbale Bildungen mit dem Suffix -ung relativ uneingeschränkt (z.B. Begehung, Bewährung, Erregung, Leistung, Streuung, Verstädterung, Vertreibung), aber auffällig wären *Besuchung, *Freuung, *Fliegung, *Gehung, *Genießung. Vgl. System und Norm in der Wortbildung.
Die Gründe für die Nichtnutzung systematischer Möglichkeiten sind nicht immer zu erkennen. Mitunter wird angenommen, dass bereits etablierte Wörter synonyme Wortbildungsprodukte blockieren: "Ein Leser ist eine Person, die liest, und ein Dieb ist eine, die stiehlt. Ein Dieb könnte auch Stehler genannt werden, wenn es das Wort Dieb nicht gäbe. So aber brauchen wir Stehler nicht. Es ist ein mögliches Wort, d.h. es genügt allen Wohlgeformtheitsbedingungen an Wörter. Dass es nicht oder fast nicht verwendet wird, liegt an der Existenz von Dieb. Man sagt auch, Stehler existiere nicht aus externen Gründen, seine Bildung sei blockiert. Es gibt keinen Bedarf für das Wort. Blockierung muss strikt von Nicht-Wohlgeformtheit unterschieden werden" (Eisenberg 1998: 202). Die wohlgeformten, systemgerechten Bildungen *Besuchung, *Freuung, *Fliegung, *Gehung und *Genießung wären in diesem Sinne blockiert durch Besuch, Freude, Flug, Gang und Genuss.
Auch, dass bereits etablierte Homonyme existieren, blockiert eventuell die Bildung mancher Wörter: Als Alfred Biolek in seiner Talkshow am 17.12.1994 die Ministerin Nolte fragte, wie sie ministriere, wurde gelacht: ministrieren 'im katholischen Gottesdienst als Ministrant assistieren' blockiert den Gebrauch von ministrieren 'ein Ministeramt ausführen'.
Das Blockierungsargument ist allerdings fraglich, weil es bekanntlich viele Fälle von Synonymie und Homonymie gibt. Problemlos koexistiert reden neben sprechen und sagen oder Rabenmutter neben Schraubenmutter. Es gibt sogar einige Fälle gleicher Bildungen mit verschiedenen Wortbildungsmitteln, z.B. Schwachheit, Schwäche; Getratsche, Tratscherei; Getränk, Trank, Trunk; erklärbar, erklärlich; verstehbar, verständlich; gräten, entgräten. Vgl. dazu ausführlich Plank (1981: 175ff).
Das Blockierungsargument kann also allenfalls die Tendenz meinen, Wortschatzdubletten und unliebsame Verwechslungen zu vermeiden. Voraussagbar ist Blockierung aber offenbar nicht. Es ist sogar anzunehmen, dass "unter Berücksichtigung der Vorkommensstruktur eines Wortes [...] offensichtlich jedes modellgerechte Wortbildungsprodukt akzeptabel gemacht werden" kann (Fleischer/Barz 1995: 59), d.h. dass im entsprechenden Kontext jedes systemgerechte, wohlgeformte Wortbildungsprodukt passt.