Präteritum versus Präsensperfekt
In der Literatur werden die beiden Tempora Präteritum und Präsensperfekt in ihrer Beziehung zueinander unterschiedlich betrachtet. Die Spannweite bewegt sich zwischen einem absoluten Bedeutungsunterschied und einer synonymen Verwendung der beiden Tempora.
Tatsächlich können die beiden Tempora oft gegeneinander ausgetauscht werden, ohne dass sich die Bedeutung des Satzes signifikant verändert. Dies heißt jedoch nicht, dass Präteritum und Präsensperfekt in ihrer Funktion identisch sind.
Der Bedeutungsunterschied zwischen Präteritum und Präsensperfekt kann nicht kontextlos bzw. kotextlos beschrieben werden, da verschiedene Kriterien zum Bedeutungs- bzw. Verwendungsunterschied beitragen. Nur einige Kriterien sollen hier angesprochen werden.
Unter folgenden Gesichtspunkten wird hier kurz der Unterschied zwischen Präteritum und Präsensperfekt betrachtet:
Aspekt, Aktionsart der Verben, regionale Varianten, textsortenspezifische Verwendung, Register/Stil, phonetische Kriterien.
Aspekt
Wenn man im Deutschen überhaupt vom Vorhandensein des Aspekts ausgehen kann, müssten zwei Aspektformen unterschieden werden: die Perfektivität und die Imperfektivität. Mit dem Begriffspaar wird die Abgeschlossenheit bzw. die Nichtabgeschlossenheit von Vorgängen bezeichnet. Bedingt korrelieren die zwei Aspektformen mit den mit den selben Stammmorphemen gebildeten Tempora Präsensperfekt und Imperfekt/Präteritum. Das Präsensperfekt beschreibt ein vergangenes vollendetes Geschehen mit einem Bezug zur Gegenwart, da die Betracht- bzw. die Orientierungszeit bis an die Sprechzeit heranreichen kann. Präsensperfekt kann neben der prototypischen Vergangenheitsbedeutung aufgrund seiner besonderen aspektuellen Verwendung neben dieser Vergangenheits- auch eine Gegenwarts- oder eine Zukunftsbedeutung besitzen, wenn z. B. entsprechende Temporaladverbialia verwendet werden. Präsensperfekt ist in den letzten beiden Bedeutungen dann kein Ausdruck für Tempus, es wird eher zu einer Aspektform.
Wird in den Beispielsätzen das Präsensperfekt durch das Präteritum ausgetauscht, verändert sich im ersten Beispiel die Bedeutung des Satzes. Der zweite Beispielsatz fällt durch seine semantische Inkongruenz auf:
Aktionsart
Die Aktionsart ist eine Paradigmenkategorie des Verbs. In manchen sprachlichen Ausdrücken geraten Aktionsart und Aspekt miteinander in Konflikt. Beobachtbar ist dies z. B. bei punktuellen Verben, die eigentlich die Abgeschlossenheit einer Handlung oder einen Zustand ausdrücken. Der Aspekt tritt dann zu Gunsten der Aktionsart in den Hintergrund, wenn das punktuelle Verb im Präteritum verwendet wird. So überlagert im Satz Maria pflückte eine Gänseblume die Verbbedeutung des punktuellen Verbs pflücken den Aspekt, nämlich die Imperfektivität, die durch das Präteritum ausgedrückt wird. In diesem Fall sind die Sätze im Präsensperfekt und im Präteritum tatsächlich (nahezu) bedeutungsgleich verwendbar:
Der noch vorhandene geringe Bedeutungsunterschied ist erklärbar durch die Betrachtperspektive des Sprechers. Der Satz im Präteritum lässt den Sprecher den auch nur punktuellen Vorgang des Pflückens miterleben (Binnenperspektive). Er ist beobachtender Teilnehmer der sich vollziehenden Handlung Marias.
Hiermit ist auch schon ein weiterer Gesichtspunkt angesprochen der bei der Unterscheidung Präteritum versus Präsensperfekt berücksichtigt werden kann. Nämlich die
textsortenspezifische Varianz
Die Verwendung von Präteritum oder Präsensperfekt ist oftmals textsortenabhängig. In Erzählungen z. B. herrscht das Präteritum vor. In verschiedenen Zeitungssorten (Schlagzeilen, Sensationsmeldungen) wird ebenfalls das Präteritum bevorzugt. Das Präsensperfekt dagegen dominiert in den Printmedien z. B. in Kurzmeldungen (Latzel 1975).
regionale Varianten
Alle bisher genannten Unterscheidungskriterien sind für den süddeutschen Sprecher bezüglich seiner gesprochenen Sprache nicht relevant. Seit dem 16./17. Jahrhundert ist im Oberdeutschen der sog. Präteritumsschwund belegt.
Der Präteritumsschwund ist in einigen Regionen Süddeutschlands in der gesprochenen Sprache absolut, in der geschriebenen Sprache teilweise ausgeprägt.
An Stelle des Präteritums tritt das Präsensperfekt als einzige Vergangenheitsform. Aspektuelle Unterschiede (Perfektivität und Imperfektivität) werden dann mit Hilfe lexikalischer Mittel ausgedrückt.
Im folgenden Beispielsatz wird z. B. durch die Fokuspartikel gerade klar, dass Rosetta ihr Schnitzelessen noch nicht beendet hatte, als die Nachricht gesendet wurde.
Aufgrund des nicht vorhandenen Präteritums wird in logischer Folge das Präteritumperfekt durch eine "superkomponierte" Form ersetzt, da auch das im Präteritum stehende Hilfsverb des Präteritumperfekts durch die periphrastische Form des Präsensperfekt ausgetauscht wird (diese Konstruktion wird auch Doppelumschreibung genannt):
für:
Ich hatte gegessen.
Register/Stil
Regional übergreifend ist in der gesprochenen Sprache eher das Präsensperfekt, in der geschriebenen Sprache das Präteritum das vorherrschende Tempus. Ähnlich verhält es sich mit der Umgangssprache versus der Hochsprache. Während in der Umgangssprache eher das Präsensperfekt verwendet wird, wird in der geschriebenen Hochsprache eher das Präteritum gebraucht. Darüber hinaus bestimmen verschiedene sprachliche Register die Tempusverwendung: In formellen Kommunikationssituationen wird z. B. der Anteil der Sätze im Präteritum höher sein als in informellen Gesprächssituationen.
Präsensperfekt | Präteritum |
in der gesprochenen Sprache | in der geschriebenen Sprache |
im Oberdeutschen | im Niederdeutschen |
in der Umgangssprache | in der Hochsprache |
in informellen Gesprächssituationen | in formellen Gesprächssituationen |
Freilich drücken diese Polarisierungen nur Tendenzen aus, eine absolute Gültigkeit beanspruchen sie nicht.
phonetische Gründe
Phonetische Gründe sind verantwortlich für die Vermeidung von Präteritumformen einiger Verben in der 2. Person Singular und Plural. Die Aussprachschwierigkeiten führen dazu, dass Präsensperfektformen bevorzugt werden:
ihr rastetet vs. ihr habt gerastet
ihr arbeitetet vs. ihr habt gearbeitet
Verwendungsunsicherheit besteht bei heute ungewöhnlich gewordenen Formen starker Verben, welche sich teilweise im Übergang zu schwachen Verben befinden. Die Präteritumsform wird vermieden bzw. umgangen: