Komplexe kommunikative Ausdruckseinheiten mit konditional interpretierten Aufforderungsausdrücken
Die Verknüpfung eines Aufforderungssatzes oder einer nicht-finiten kommunikativen Ausdruckseinheit im Aufforderungs-Modus mit einem Aussagesatz mit Hilfe der Konjunktoren und oder oder bildet ein spezielles Muster, in dem der Aufforderungsteil als so genannter 'konditionaler Imperativ' oder - treffender - 'konditional interpretierter Aufforderungsausdruck' fungiert:
- Arbeiten Sie, und Sie werden bezahlt.
- Kürze die Bezüge der Beamten, und du hast ihre Lobby auf dem Hals.
- Bleiben Sie stehen, oder ich schieße.
- Räum dein Zimmer auf, oder du bekommst Fernsehverbot.
- Hände hoch, oder du bist ein toter Mann.
Häufig wird hier der Aufforderungsteil als Ausdruck einer Bedingung interpretiert, sodass sich als Paraphrasen anbieten:
- Wenn Sie arbeiten, werden Sie bezahlt.
- Wenn du die Bezüge der Beamten kürzt, hast du ihre Lobby auf dem Hals.
- Wenn Sie stehen bleiben, schieße ich
nicht.
oder
Wenn Sie nicht stehen bleiben, schieße ich. - Wenn Du dein Zimmer aufräumst, oder bekommst du
kein Fernsehverbot.
oder
Wenn Du dein Zimmer nicht aufräumst, oder bekommst du Fernsehverbot. - Wenn du die Hände hoch hebst, bist du kein toter
Mann.
oder
Wenn du die Hände nicht hoch hebst, bist du ein toter Mann.
Der Aufforderungs-Modus ist aufgrund seiner Wissensqualität dazu geeignet, im Rahmen von Voraussetzung-Folge-Argumenten jeweils die Voraussetzung zu spezifizieren. Mit dem Aufforderungsteil wird dabei derjenige adressatenspezifische Sachverhalt angegeben, der erst einmal zu erfüllen ist, wenn - Fall [a] - ein anderer Sachverhalt eintreten oder verwirklicht werden soll oder wenn - Fall [b] - das Eintreten eines anderen Sachverhalts verhindert werden soll. Dabei wird also das spezielle Erfüllungswissen des Aufforderungs-Modus herangezogen.
Komplexe kommunikative Ausdruckseinheiten mit konditional interpretiertem Aufforderungsteil haben diese allgemeine Form:
kommunikative Ausdruckseinheit im Aufforderungs-Modus | Aussagesatz -- | |
p | und oder | q |
Dabei steht und im Fall [a], oder im Fall [b].
Dieses Muster ist gemäß der aussagenlogischen Definition von und bzw. ausschließendem oder zu interpretieren. Der konditionale Effekt kommt dadurch zustande, dass die genannte Voraussetzung erst noch zu schaffen ist. Die und/oder-Verknüpfung selbst setzt erst beim gedachten Zielzustand des Erfüllungswissens an, sie setzt also den Fall, dass es bereits der Fall ist, dass p, oder eben auch nicht der Fall ist, dass p.
Die Voraussage für den vorweggenommenen Zielzustand besagt bei [a], dass eine Kookkurrenz mit q bestehen muss; 'p und q' wird nur wahr, wenn beide Teilaussagen wahr sind. Bei [b] hingegen besagt sie differenzierter, dass eine Kookkurrenz von p und q ausgeschlossen ist. 'p oder q' wird (bei ausschließendem oder) dann wahr, wenn nur eines von beiden wahr ist, nicht jedoch beides.
Während [a] sich nur mit einem Zielzustand befasst, in dem p erfüllt ist, befasst sich [b] auch mit einem Zielzustand, in dem p nicht erfüllt ist: In ihm wird, um die Gesamtaussage wahr zu machen, q erfüllt sein.
Die Konstellation 'p nicht erfüllt, somit q' ist was Sprecher bei einer Verwendung im Auge haben. q ist dabei stets ein vom Adressaten äußerst negativ bewerteter Sachverhalt, den es in jedem Fall zu verhindern gilt. Der Aufforderungsteil gibt an, wie dies zu erreichen ist, nämlich durch Erfüllung von p. Ähnlich wie [b] ist auch 'p, sonst q' zu verstehen. Auch hier wird auf den Fall 'p nicht erfüllt, somit q wahr' abgehoben.
Bei Fall [a] hingegen erfährt man streng genommem nichts über einen künftigen Zustand, in dem p nicht eingetreten ist. Das heißt, q mag der Fall sein oder auch nicht. Daher ist es durchaus berechtigt, auf
zurückzufragen
Dagegen ist diese Frage überflüssig bei:
Dennoch wird auch eine und-Verknüpfung häufig verstanden, als wäre formuliert:
Würde nämlich diese Verschärfung nicht hinzugedacht, wäre die Voraussage weniger bedrohlich. Man wüsste zwar, dass bei Befolgung des Aufforderungsteils ein erstrebenswerter Effekt zu erreichen wäre, aber es könnte Wege geben, ihn zu erreichen, ohne den Preis dafür zu zahlen, der mit dem Aufforderungsteil p dafür gesetzt wird.
Fall [a] kann mit positiv oder mit negativ bewerteten Konsequenzaussagen verknüpft sein:
Sind beide Teile negativ bewertet, d.h. ist p aus der Sicht des Sprechers nicht besonders wünschenswert und q für den Adressaten unangenehm, so ergibt sich nur über die angedeutete Verschärfung eine sinnvolle Interpretation. Mit
ist gemeint:
In Fall [b] hingegen nennt q nie einen Sachverhalt, den der Adressat nach Meinung des Sprecher positiv bewerten würde.
Vor allem zur Formulierung allgemeiner Erfahrungstatsachen ohne spezifischen Adressatenbezug kann der Aufforderungsteil auch Aufforderungsformen enthalten, die dem semantischen Rahmen für echte Aufforderungshandlungen nicht genügen:
Neben kommunikativen Ausdruckseinheiten mit Aufforderungsteilen zur Angabe einer Bedingung und Aussagesätzen zur Angabe einer Folge, gibt es konditional zu interpretierende Aufforderungsausdrücke, bei denen in beiden Positionen Aufforderungen formuliert werden. Ein solcher Fall liegt etwa hier vor:
Hier sind beide Teile so verknüpft, dass die eigentliche Handlungsinformation im Wesentlichen durch den zweiten Aufforderungsteil geliefert wird, während der erste eine Interpretation dieses Handelns im Lichte sozialer Wertmaßstäbe ('nett sein', 'einen Gefallen tun', 'vernünftig sein') usw. bietet.
Häufig ist der erste Aufforderungsteil katadeiktisch durch so, soviel oder die Formen von der, die, das auf den zweiten Aufforderungsteil bezogen:
[www.abda.de/bpa/literatur/lehmann.html]
Der Vorverweis kann jedoch auch entfallen:
Die Sprachkritik - so etwa Wustmann "Sprachdummheiten" 141966: 216 - steht dieser Konstruktion kritisch gegenüber und empfiehlt stattdessen entsprechende Infinitivkonstruktionen, etwa
Grundlage dieser Kritik ist die Annahme, es werde gegen die Semantik der Konjunktoren verstoßen, die grundsätzlich 'gleichwertige Gedanken' additiv verknüpfen. Dabei wird verkannt, dass die Konjunktoren häufig die Annahme weitergehender Relationen, z. B. zeitlicher Folgerelationen, erlauben.
Der Gebrauch der Konstruktion in der Alltagssprache kann sich im Übrigen auf literarische Vorbilder berufen; die Konstruktion ist belegbar von Goethe über Stifter und Hauptmann bis Grass.
Dem ersten Aufforderungsteil kommt die im Wesentlichen pragmatische Aufgabe zu, vermittelt über die ausgedrückte bewertende Handlungsklassifikation den illokutiven Status des zweiten Aufforderungsteils zu spezifizieren, gegebenenfalls eine als harsch empfundene pure Aufforderung abzumildern:
[eher Spezifikation eines Rats, einer Empfehlung]
[eher Spezifikation einer höflichen Bitte]