Die Rückbildung

Unter Rückbildung wird in der Forschungsliteratur eine Wortbildungsart verstanden, bei der Wörter aus expliziten Derivaten mittels Tilgung des Wortbildungsaffixes gebildet werden, z.B. sanftmütig -> Sanftmut. Die Rückbildung ist sozusagen die Zurücknahme einer expliziten Derivation. Als typische Rückbildungsprodukte, auch Pseudokomposita, Scheinkomposita oder retrograde Derivate genannt, gelten in der Forschungsliteratur Wörter wie Sanftmut aus sanftmütig, Unnatur aus unnatürlich, Eigensinn aus eigensinnig, Mondsucht aus mondsüchtig, notland(en) aus Notlandung, bauchland(en) aus Bauchlandung. Gelegenheitsbildungen, die üblicherweise als Rückbildungsprodukte interpretiert werden, sind u.a. Nicht bei denen - bei uns haben sie hausdurchsucht (Seghers 1933: 131), eine Gesamtheit, die auf sehr komplizierte Art und Weise in sich selbst wechselwirkt (Schnabel/Sentker 1997: 279).

Zu einer von der traditionellen Forschungsliteratur weitgehend abweichenden Definition der Rückbildung vgl. Eschenlohr (1999: 144f).

Die Rückbildung ist ein auf sprachhistorischen Recherchen beruhendes Erklärungsmodell, das sich zum einen auf nicht immer zuverlässige Quellenrecherchen bzw. fragwürdige Spekulationen stützen muss und zum anderen synchron gegenwartssprachlich gesehen nicht unbedingt gebraucht wird:

Zum einen beruht die Rückbildungshypothese auf der Annahme, dass ein Wort (z.B. Sanftmut) zeitlich nach einem anderen (z.B. sanftmütig) aufgekommen sei. Weil jedoch prinzipiell niemand alle deutschsprachigen geschriebenen und gesprochenen Texte aller Sprachstufen auswerten kann, kann prinzipiell niemals nachgewiesen werden, dass ein Wort vor einem anderen gebildet worden ist. Sich dessen bewusst, schlägt u.a. Erben (1993: 36) vor, Rückbildungen "nicht nur durch historische Nachweise zu belegen", sondern auch nach dem Kriterium der "morphologisch-semantischen Motiviertheit' zu entscheiden. Dies führt jedoch ebenfalls zu keinen befriedigenden Ergebnissen:

  • Erben (1993: 36) argumentiert morphologisch u.a. mit dem Genus, z.B. dem Genusunterschied zwischen femininem Sanftmut und maskulinem Mut. Aus diesem Unterschied leitet er ab, dass Sanftmut nicht als Zusammensetzung mit Mut erklärt werden könne. Dies überzeugt nicht, denn schon Wörterbuchbelege wie dein sanftmuht (Weckherlin 17.Jh., nach DWB XIV 1893: 1787) zeigen, dass das heutige Genus keineswegs immer das einzige ist. Vielmehr ist der Wechsel bzw. das Nebeneinander von Genera ein aus Sprachgeschichte und aus Dialekt versus Standdardsprache bekanntes Phänomen, das alle Wörter, nicht nur Wortbildungsprodukte betrifft, z.B. althochdeutsch das muot (vgl. DWB. XII 1885: 2782), frühneuhochdeutsch der und das taufe neben die taufe (vgl. Donalies, Die Augsburger Bibelhandschrift 1992: 111f) oder schwäbisch der Butter neben standarddeutschem die Butter. Dass Sanftmut heute ein Femininum ist, schließt also keineswegs einen Zusammenhang mit maskulinen Mut aus.
  • Auch die semantische Überlegungen, auf die Erben (1993: 36) setzt, überzeugen nicht: So ist z.B. Sanftmut zwar tatsächlich nicht zu analysieren als Kompositum aus sanft und gegenwartssprachlichem Mut 'Tapferkeit', aber durchaus als Kompositum aus sanft und historischem Mut 'Gemütszustand, Befindlichkeit', wie es heute noch in guten Mutes sein existiert. Vgl. noch DWB (XII 1885: 2782): "mut [...] bezeichnet das innere eines menschen nach allen seinen verschiedenen seiten hin".

Zum anderen können die in der Forschungsliteratur als Rückbildungsprodukte interpretierten Bildungen synchron gegenwartssprachlich gesehen offenbar in allen Fällen als Wortbildungsprodukte der sonstigen Wortbildungsarten verstanden werden, nämlich als Komposita, z.B. Sanftmut als 'sanfter Mut', mähdresch(en) als 'dreschen und dabei gleichzeitig mähen'. Wörter wie Unnatur können als explizite Derivate analysiert werden (Natur + Un-). Die von Åsdahl-Holmberg 1976 als Pseudokomposita bezeichneten Verben des Typs bruchrechnen, notlanden schließlich sind keine Wortbildungsprodukte: Wortbildung ist ja die Bildung von Wörtern, d.h. von syntaktisch untrennbaren Einheiten. Verben mit syntaktisch mobilen Bestandteilen (z.B. er rechnet Bruch, er fährt Rad) sind keine Wörter. Sie werden hier als Präverbfügungen verstanden und aus der Wortbildung ausgenommen.

Diese beiden Hauptargumente sprechen dagegen, die Rückbildung überhaupt als eigene Wortbildungsart anzusetzen. Zudem bleibt ungeklärt, wie denn offensichtliche Wortbildungsprodukte des Typs sanftmütig oder eigensinnig sind, analysiert werden sollen: Ableitungen aus Sanftmut und Eigensinn + -ig können sie der Rückbildungshypothese zufolge ja nicht sein, wenn Sanftmut und Eigensinn gerade umgekehrt Ableitungen aus sanftmütig und eigensinnig sein sollen. Was aber dann?

Auf die Katgeorie Rückbildung wird hier aus diesen Gründen verzichtet.

Der Rückbildung werden mitunter auch Derivate wie Kauf zugerechnet (so bei Fischer et al. 1987: 79). Sie werden als Rückbildungsprodukte aus einer Infinitivform (z.B.kaufen) interpretiert, von der das Flexionssuffix-en getilgt worden sein soll. In der Wortbildung spielen Flexionsaffixe jedoch unmittelbar keine Rolle; sie haben nicht teil an Wortbildungsprozessen, sondern kommen höchstens als mitgebrachte Elemente von in der Wortbildung verwendeten Wortformen vor (z.B. bei Sohnespflicht, Kinderzimmer). Vgl. Fugenelement oder Flexionsaffix? Derivate wie Kauf werden daher hier (wie u.a. auch bei Fleischer/Barz 1995: 52) als Konversionsprodukte aus verbalen Stammformen (z.B. kauf-) analysiert: kauf- -> Kauf. In diesem Sinne ist es übrigens auch verfehlt, "Wurzelwörter" wie protz prahl oder grübel grübel als Rückbildungen zu den Infinitivformen der Verben, sozusagen als "Kürzung eines Verbs auf seinen Stamm" zu verstehen (so Androutsopoulos 1998: 186). Diese Wörter werden plausibler mit Teuber 1998 als "Inflektive", d.h. unflektierte Verbformen, verstanden; sie sind keine Phänomene der Wortbildung.

Ebenfalls als Rückbildungsprodukte werden mitunter Bildungen wie Entscheid interpretiert (so bei Schippan 1969: 85 und Erben 1993: 34f); sie werden als Ableitungen aus parallelen expliziten Derivaten wie Entscheidung gesehen. Erben (ebd.) nennt sie "Erleichterungsrückbildungen". Deren Ableitungsweg wäre jedoch relativ kompliziert: entscheiden -> Entscheidung -> Entscheid. Weil es für einen so komplizierten Umweg keinen guten Grund gibt, werden Bildungen dieses Typs hier (wie bei Fleischer/Barz 1995: 52) als unmittelbare Konversionsprodukte aus einem Verbstamm analysiert: entscheid- -> Entscheid.

Mitunter wird die Rückbildung auch der Kurzwortbildung zugerechnet. Typische Kurzwortbildungsprodukte sind S-Bahn, Azubi und LKW. Zu diesen Bildungen kann man Rückbildungsprodukte wie notlanden oder Sanftmut jedoch stimmigerweise nicht stellen: Kurzwörter des Typs S-Bahn sind lediglich ausdrucksseitige Varianten der Ausgangswörter; es findet kein Wortartwechsel statt und auch die Bedeutung bleibt weitgehend erhalten. Vgl. Die Kurzwortbildung.

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