Die Zusammenbildung

Unter Zusammenbildung, einem "von W.Henzen 1965, H. Pauls Anregung folgend, eingeführten Begriff" (Bzdega 1999: 13), wird "in der älteren Wortbildungsforschung" (Günther in Glück 1993: 708) eine verhältnismäßig produktive Wortbildungsart verstanden, mit der vor allem Nomina und Adjektive wie Appetithemmer, Dickhäuter, Vogelscheuche, blauäugig, viertürig, scharfzüngig gebildet werden. Diese Wortbildungsprodukte werden in der Forschungsliteratur verschieden analysiert und verschieden eingeordnet:

Zwar den Komposita zugehörig, aber als Sonderfall betrachten sie u.a. Engel (1988: 522) und Eisenberg (1998: 222). Wörter wie Appetithemmer und viertürig sind für diese Autoren deshalb Sonderfälle, weil sie ihrer Ansicht nach den zentralen Kriterien der Komposita nicht entsprechen: Komposita bestehen per definitionem aus Wörtern und/oder Konfixen.Appetithemmer und viertürig bestehen augenscheinlich jedoch nicht aus Wörtern oder Konfixen; ihre zweite Einheit ist weder ein übliches Wort (*Hemmer, *Häuter, *türig), noch kann die zweite Einheit sinnvollerweise als Konfix definiert werden: Typische Konfixe sind bio-, therm-/-therm und ident-; sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie wie *Hemmer, *türig usw. nicht frei vorkommen, aber anders als diese grundsätzlich basisfähig sind, d.h. mit Wortbildungsaffixen abgeleitet werden können (z.B. biotisch, thermisch, identisch, identifizieren, Identität). *Hemmer und *türig dagegen sind Derivate, d.h. bestehen aus erstens einer Basis (hemm- bzw. Tür) und zweitens einem Wortbildungsaffix (-er bzw. -ig).

Mitunter werden Wortbildungsprodukte wie Appetithemmer dieser Besonderheit wegen auch als Mischphänomene der Komposition und Derivation bzw. als eigenständige Zwischenphänomene zwischen Komposition und Derivation gestellt, so u.a. bei von Polenz (1980: 170). Häufig wird außerdem der Unterschied zwischen Zusammenbildung und Zusammenrückung nicht klar getroffen. Vgl. den fundiert kritischen Forschungsüberblick bei Leser (1990).

Auf den Terminus Zusammenbildung "und die damit explizierte Sonderstellung der betreffenden Wortbildungskonstruktion kann" jedoch verzichtet werden (Fleischer/Barz 1995: 47; so auch Leser 1990: 107); die Wortbildungsprodukte lassen sich als explizite Derivate bzw. Komposita bestimmen:

Recht plausibel ist der Vorschlag von Fleischer/Barz (zuletzt 1995: 46f, so auch Ortner et al. 1991: 121f und daran anschließend Motsch 1999: 8), Wörter wie Appetithemmer, Arbeitnehmer oder viertürig als explizite Derivate mit einer Phrase als Basis zu analysieren:

  • (den) Appetit hemm(en) + -er
  • vier Tür(en) + -ig

Gegen diese syntaktisch argumentierende Analyse spricht jedoch, wie Leser (1990: 30) einwendet, dass die Phrase mitunter "nicht einer frei auftretenden (syntaktischen) Wortgruppe entspricht" (z.B. bei Grablegung gegenüber ins Grab legen, Dankeschön gegenüber Ich danke schön). Bei Wortbildungsprodukten aus bzw. mit Phrasen wird die Phrase allerdings normalerweise nicht um Wortbestandteile gekürzt (z.B. ihr Das-darf-doch-nicht-wahr-sein-Augenaufschlag, Vergissmeinnicht). Daher analysiert er in Analogie zu den englischen synthetic compounds (z.B. blue-eyed) Wortbildungsprodukte wie Appetithemmer und viertürig als Determinativkomposita; er segmentiert in

  • Appetit + Hemmer
  • vier + türig

Dass die zweiten Einheiten normalerweise nicht vorkommen, begründet er damit, dass sie eine semantische Spezifizierung verlangen, z.B. Hemmer ebenso wie das Verb hemmen eine Spezifizierung dessen, was gehemmt wird (z.B. hemm(en) + den Appetit, Hemmer + des Appetits). Dieses Phänomen ist in der Linguistik als Argumentvererbung bekannt. Auch türig (oder beinig, armig, äugig, rädrig) verlangen seiner Meinung nach eine derartige Spezifizierung; sie sind für sich genommen semantisch sinnlos: Dass Autos Türen und Menschen Beine haben, muss nicht eigens ausgedrückt werden, hingegen ist z.B. kommunikationsrelevant, wie viele Türen ein Auto (z.B. zwei oder vier) oder wie beschaffene Beine ein Mensch hat (z.B. kurze oder lange). In diesem Sinne versteht Leser Einheiten wie Hemmer auch durchaus als Wörter, also als syntaktisch frei vorkommende Einheiten; sie benötigen eben nur eine bestimmte semantische Umgebung: der Hemmer meines Appetits.

Dieser Ansatz ist im Prinzip bedenkenswert, doch sollte folgender elementare Unterschied nicht übersehen werden: Während Appetithemmer ein normales Determinationskompositum mit Determinativrelation ist (Hemmer des Appetits, vgl. auch Rektionskomposita wie Romanleser), trifft dies auf Bildungen des Typs Dickhäuter und viertürig nicht zu. Hier bestimmt die erste Einheit keineswegs die zweite semantisch näher (*dicker Häuter), vielmehr wird die Ableitungsbasis der zweiten Einheit (Haut) determiniert (dicke Haut). Insofern ist es plausibler, derartige Bildungen als Phrasenderivate zu sehen: dicke Haut + -er (Vgl. Donalies 2001).

Daraus ergibt sich, dass die Kategorie Zusammenbildung nicht benötigt wird; die fraglichen Bildungen werden analysiert als:

  • Komposita mit deverbalen Zweiteinheiten und determinierenden Ersteinheiten: Appetithemmer, Vogelscheuche.
  • Explizite Derivate aus denominalen bzw. deverbalen Zweiteinheiten und adjektivischen Ersteinheiten, die die Basis der Zweiteinheit attribuieren: Dickhäuter, Schwarzseher, Langschläfer, viertürig, blauäugig.

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