4. Studien zur Neutralisation von peripheren versus zentralisierten Vokalen in unbetonten Positionen

Während periphere versus zentralisierte Vokale in betonten Silben kontrastieren, so ist deren Verteilung in unbetonten Silben vollständig durch den phonologischen Kontext festgelegt. In „notwendig offenen Silben“ treten nur periphere Vokale auf („A-Vokale“), in „notwendig geschlossenen Silben“ treten nur zentralisierte Vokale („B-Vokale“) auf. „Notwendig offen“ sind zunächst alle Silben, die auf einen Vokal nach Konsonant enden (s. die Beispiele in (1a), in denen die fraglichen Silben fett markiert sind). Auch Silben, auf die ein Vokal folgt, der nicht mit dem Rand sondern nur mit dem Nukleus assoziierbar ist, sind „notwendig offen“. Ein Beispiel für einen solchen Hiatkontext ist in (1b) gegeben. In prätonischer Position gelten all jene Silben als „notwendig offen“, in denen ein einzelner fußinitialer Konsonant auftritt. Der Grund ist, dass ein solcher Konsonant regulär einen (nicht-ambisilbischen) Ansatz bildet, dem daher eine offene Silbe vorangeht (s. die Beispiele in (1c)). (Ausnahmen bilden hier der Frikativ /s/ (Tessin, Fossil), sowie möglicherweise Fälle, in denen der Konsonant in der Schrift durch eine Geminate repräsentiert wird (z.B. Terrasse, Kollekte).

(1) a./ˈiuni/ <Juni>, /ˈo/ <Opa>, /ˈkafe/ <Kaffee>, /ˈauto/ <Auto>
b./ˈʃtɑtuə/ <Statue>
c./pʀiˈvɑt/ <privat>, /meˈtodə/ <Methode>, /ˈboʀ/ <Labor>, /poˈzaidɔn/ <Poseidon>, /muˈzeʊm/ <Museum>

„Notwendig geschlossen“ sind alle Silben, die unbetont am Wortende stehen und auf einen Obstruenten oder /m/ enden. Beispiele für solche Silben sind in (2a) gegeben. In prätonischer Position gelten all jene Silben als „notwendig geschlossen“, in denen der Vokal der vorangehenden Silbe einer Konsonantenverbindung vorangeht, deren zweites Glied aus einem Plosiv oder einer Affrikate besteht. Der Grund ist, dass das Erstglied der Verbindung in solchen Fällen immer mit der Koda assoziiert ist und somit die Silbe schließt. Solche Fälle von „notwendig geschlossenen“ Silben sind in (2b) veranschaulicht.

(2) a./ˈplastɪk/ <Plastik>, /ˈtabak/ <Tabak>, /ˈkɔmpɔst/ <Kompost>, /ɔptiˈmɪsmʊs/ <Optimismus>
b./pʀɪnˈt͡sip/ <Prinzip>, /t͡sɛnˈtʀɑl/ <zentral>, /balˈkon/ <Balkon>, /ɔkˈtobəʀ/ <Oktober>, /ʃtʀʊkˈtuʀ/ <Struktur>

Um die Hypothese zu testen, dass die unabhängig (d.h. durch die Betonung und segmentale Struktur) festgelegte Silbenstruktur die Verteilung der Vokale bestimmt, wurden all jene in unbetonten offenen Silben vorkommenden Vokale in (1) sowie all jene in unbetonten geschlossenen Silben vorkommenden Vokale in (2) hinsichtlich ihrer Formantwerte (F1/F2) sowie ihrer Dauern untersucht und mit den entsprechenden kontrastierenden Vokalen in betonten Silben verglichen. Eine abschließende Bewertung der Ergebnisse findet sich in 4.6. Die folgenden Auswertungen basieren auf Daten des Deutsch heute Korpus für 51 Sprecherinnen aus dem nordwestdeutschen Raum. Nicht alle Wörter wurden von allen Sprecherinnen produziert, die genaue Anzahl der Sprecherinnen für die jeweiligen Belege sind in untenstehender Tabelle (3) aufgeführt. Auch Aussprachen mit abweichenden Akzentmustern bleiben unberücksichtigt.

(3)

Vokalhauptbetontunebtont: posttonischunbetont: prätonisch
/i/sieben 51Juni 51privat 51
/e/Geste 51Kaffee 40Methode 49
/ɑ/Sprache 51Opa 50Labor 50
/o/Kot 51Auto 27Poseidon 51
/u/gute 34Statue 50Museum 50
/ɪ/dribbeln 51Plastik 51Prinzip 51
/ɛ/Gäste 50-zentral 51
/a/Rache 44Tabak 51Balkon 51
/ɔ/Genosse 51Kompost 36Oktober 50
/ʊ/Mutter 51Optimismus 51Struktur 50

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Autor(en)
Anja Geumann, Renate Raffelsiefen
Bearbeiter
Jana Mathy
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