Reden von dem, was war, was ist und was sein wird — Was sind Ereigniszeit, Sprechzeit und Betrachtzeit?
"Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde,"
erkannte schon König Salomon [Prediger 3, 1]. Aber während Ereignisse unausweichlich
stattfinden, wann sie eben stattfinden, sind Berichte über diese Ereignisse keineswegs auf
eine bestimmte Zeit festgelegt. Um diesem Umstand Rechnung tragen zu können, bedarf es eines
raffinierten Systems möglicher Zeitbezüge. Sprechern und Schreibern des Deutschen stehen
hierfür vor allem drei Klassen von Ausdrucksmitteln zur Verfügung:
- die Tempusformen (Zeitformen) der Verben (z. B. ich gehe,
ich ging, ich bin gegangen, ich war
gegangen, ich werde gehen, werde gegangen
sein)
- Temporaladverbialia (z. B.
heute, morgen, in drei Tagen,
nächstes Jahr, ... )
- Konnektoren, die aufgrund ihrer Bedeutung
geeignet sind, zeitliche Beziehungen auszudrücken (als, dann, zuvor, danach, zugleich, hinterher , nachdem, während ...)
"Bacherlwarm" war's ihm bis zur 74. Minute ums Herz,
als er sah, wie stark seine Elf spielt, dann der
Kälteschock des 1:1 mit der folgenden Hitzewallung nach Heinz Webers pariertem Elfer.
[Neue Kronen-Zeitung, 02.04.1999, Zwei Minuten zwischen Himmel und der
Hölle!]
Nachdem die Dietrichsguetunterführung
infolge Erneuerung und Ausbau gesperrt ist, musste die Brücke über den Freibach zur
Langenhagstrasse für den Verkehr raschmöglichst wieder befahrbar gemacht
werden.
[St. Galler Tagblatt, 28.07.1998, «Beton»-Brücke provisorisch
bis höchstens 2003]
Zwei Gasflaschen waren auf dem Flachdach des Vorbaus zum
Kreisgebäude 10 explodiert, zuvor hatte ein bei Sanierungsarbeiten
eingesetzter Bitumenofen Feuer gefangen.
[Züricher Tagesanzeiger, 14.08.1997,
S. 19]
Anders als mit Zeitangaben wie etwa am 31. 12. 1893 n. Chr., zwischen 5.15 h und
21.45 h sind mit diesen Mitteln jedoch keine absoluten Zeitbestimmungen zu
erreichen. Sie dienen dazu, relative Einordnungen vorzunehmen, und damit diese relativen
Einordnungen nicht völlig in der Luft hängen, müssen sie zunächst einmal "verankert" werden.
Als erster, gleichsam natürlicher Fixpunkt dient dabei ein Zeitpunkt, der bis zur Erfindung
von Schrift und Tonaufzeichnung stets für alle Gesprächsbeteiligten eindeutig war: die Zeit,
zu der von einem Ereignis berichtet wird, die so genannte Sprechzeit.
Noch einigermaßen einfach sind Zeitbezüge, die sich unmittelbar und ausschließlich
an der Sprechzeit orientieren. Das ist in den folgenden Situationen der Fall:
Betrachtzeit gleich Sprechzeit
Hier wird von Ereignissen berichtet, während diese stattfinden. Die betrachtete Zeit
(Betrachtzeit) ist damit gleich der Sprechzeit,
wenngleich nur bei "Live-Reportagen" zugleich die Zeit, zu der Hörer oder Leser davon
Kenntnis erhalten:
Morlock könnte sich durchspielen. Er
schießt!
Eckball, Eckball, kein Tor.
[Herbert Zimmermann
am 4. 7. 1954]
Ich bin im Augenblick nicht in der
Lage, diesen Roman durchzublättern und auch nur einen einzigen Satz zum Ruhme
der Brücke zu zitieren.
[Züricher Tagesanzeiger, 08.04.1999, S. 3]
Die Windenergie hat derzeit einen Anteil
von 4,7 Prozent an der Stromerzeugung in Deutschland - mit steigender Tendenz.
[Die Zeit, 06.05.2004, Nr. 20, S. 30]
Die Tempusform der Wahl ist hier ausnahmslos das Präsens (Gegenwartsform):
schießt, ist in der Lage, hat,
gehe, hast, regnet, ...
Als Temporaladverbialia kommen u. a. derzeit, im
Augenblick, jetzt, im Moment
infrage.
Betrachtzeit vor Sprechzeit
Hier wird von Ereignissen berichtet, die zum Zeitpunkt des Berichts bereits mehr oder
weniger lang vorüber sind. Die Betrachtzeit liegt damit vor der Sprechzeit:
Ich erinnere mich daran, dass ich
vor 'n paar
Jahren mit ihm mal bei einem ganz privaten Abendessen
zusammensaß
und er mir ganz lange
erzählte, wie dieses Attentat sein Leben verändert hat
und sein Denken über die Art und Weise, wie man leben müsste.
[Ulrich Wickert in SWR1
Leute,
1999]
Die Resonanz auf die Veranstaltung, organisiert vom
Berliner Rundfunk und dem Sportclub Charlottenburg, war dieses Jahr nicht
so groß.
[die tageszeitung, 02.01.1991, S. 28]
Die Waldgenossenschaft Hochpustertal ist
schon vor etlichen Jahren in die Insolvenz geschlittert.
[Tiroler
Tageszeitung, 24.01.1997, Waldbauern wollen Sägewerk errichten
]
US-Bundesrichterin Webber hat gestern eine
Anhörung der frühern Volontärin im Weissen Haus, Monica Lewinsky, auf unbestimmte Zeit
verschoben.
[St. Galler Tagblatt, 24.01.1998, Druck
auf Clinton immer stärker ]
Vor einem Monat sind sie aus dem zerbombten Beirut
gekommen und die Umstellung verlangt noch ihren Tribut. Auch gestern geht
das ausgegebene Essen en masse zurück.
[die tageszeitung,
23.12.1989, S. 25]
Wie die Beispiele belegen, steht für Berichte dieser Art nicht nur eine
Tempusform zur Verfügung. Infrage kommen:
- Präteritum (Imperfekt, Vergangenheit): ging,
dachtest, ertrugen, ...
- Präsensperfekt (Perfekt, Vorgegenwart): ist gegangen,
hast gedacht, haben ertragen, ...
- Präsens (Gegenwart): geht, denkst,
ertragen, ...
Welche Tempusform jeweils gewählt wurde oder gewählt werden sollte, ist
keineswegs beliebig. Wird das Präsens gewählt, kann damit eine Art Vergegenwärtigung des
beschriebenen Ereignisses erreicht werden. Bemerkenswert ist hier, dass diese Form der
Erzählung gleichermaßen in Alltagsgesprächen (Gestern geh ich ins Freibad, und wen
treff ich da. Den Toni.) und in sorgfältig verfassten Berichten anzutreffen
sind. Geradezu klassisch: Am 10. Januar 49 a. Chr. überschreitet Caesar den
Rubikon.
Die Unterschiede in der Verwendung von Präteritum und Präsensperfekt sind
nicht so einfach zu erfassen, denn hier sind gleich mehrere, voneinander weitgehend
unabhängige Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Aus welcher Region kommt der Sprecher oder
Schreiber? Liegt eine mündliche Äußerung vor oder eine schriftliche, eventuell noch mit
literarischem Anspruch? Wird das in der Vergangenheit liegende Ereignis als von der
Gegenwart losgelöst betrachtet oder wirkt es zur Sprechzeit noch nach? Hierzu ein
Beispiel:
Wir aßen gerade zu Abend, als plötzlich ein
Sturm losbrach. Kurz danach ist der Strom ausgefallen
und der ist zur Stunde noch immer nicht wiederhergestellt.
Mehr hierzu in:
Die Vorstellung hat bereits begonnen oder Die
Vorstellung begann bereits ? — Unterschiede beim Gebrauch von
Präteritum und Präsensperfekt
Betrachtzeit nach Sprechzeit
Hier wird von Ereignissen berichtet, die, so sie denn überhaupt jemals eintreten, in
jedem Fall nach der Sprechzeit anzusetzen sind:
Für die nächste Saison ist Waldmann nicht bange: "Wir sind
für unsere tolle Kameradschaft bekannt. Auch nächstes Jahr werden wir wieder
eine gute Truppe haben."
[Mannheimer Morgen, 04.09.2001, 1:8 -
Biblis nimmt's gelassen]
... und um das Feuer sprang ein gar zu lächerliches
Männchen, hüpfte auf einem Bein und schrie »heute back ich, morgen brau
ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind;
[Jacob und Wilhelm
Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, S. 63490.
www.digitale-bibliothek.de/band1.htm]
Bankenverband erhöht Prognose: Der Konjunkturdämpfer
durch die Mehrwertsteuer-Erhöhung 2007 wird aus Sicht der deutschen
Privatbanken wegen starken Rückenwinds aus diesem Jahr schwächer ausfallen
als bisher
gedacht.
[www.focus.de/finanzen/boerse/aktien/wachstum-2007_nid_41040.html
— 14.12.06, 12:26]
Auch hier können zwei verschiedene Tempusformen gebraucht werden, neben dem
schon bekannten Präsens auch das Futur (Futur I, unvollendete Zukunft): werde
kommen, wirst sehen, werden lachen,
...
Ausdrücklich zu vermerken ist hier, dass im Deutschen überwiegend das Präsens und nicht
etwa das Futur verwendet wird, um von künftigen Ereignissen zu sprechen.
Schwierigere Fälle
Aufwändiger wird die Formulierung von Zeitbezügen, sobald ein Bericht fortgeführt werden
soll, denn dabei können zuvor im Gespräch eingeführte Betrachtzeiten die Sprechzeit als
Ausgangpunkte ablösen und jetzt selbst zu der Zeit werden, an der sich die Bestimmung der
neuen Betrachtzeit zu orientieren hat, zur so genannten Orientierungszeit. Auf den ersten Blick mag dies ausgesprochen kompliziert
klingen, doch tatsächlich gehören ständige Neubestimmungen der Betrachtzeit zur alltäglichen
Gesprächsroutine. Hier - nur exemplarisch - einige Möglichkeiten, Zeitbestimmungen
fortzuschreiben:
Betrachtzeit vor einer Orientierungszeit, die selbst vor der Sprechzeit
liegt
Die letzte Etappe des spektakulär
verlaufenen 81. Giro mit insgesamt fünf verschiedenen Leadern gewann der Italiener
Gianmatteo Fagnini im Spurt. Zuvor
hatte die Jury den Stadt-Parcours in Mailand wegen der Regenfälle um
drei Runden oder 18 km verkürzt.
[St.
Galler Tagblatt, 08.06.1998, Pantani leitet neue Giro-Ära ein ]
Herr Josef Flatz in der
Kolumbanstraße 7 feiert
heute die Vollendung seines 92.
Lebensjahres. Noch im Vorjahr
sehr rüstig, geistig frisch und sogar ein Selbstversorger, reduzierte sich nach einem
kürzlich erlittenen Unfall seine Agilität ein wenig, was jedoch nicht heißt, daß er auf
seinen täglichen "Stadtlauf" verzichtet.
[Vorarlberger Nachrichten,
06.03.1998, S. B2]
Kein Geringerer als Andreotti
gehörte zum Freundeskreis des Christdemokraten, und noch bevor er in den Verdacht
der Mafia-Verstrickung geraten konnte, machte Don Antonio sich davon.
[die tageszeitung, 02.04.1994, S.
27]
Betrachtzeit nach einer Orientierungszeit, die selbst vor der Sprechzeit
liegt
Nachdem das Konzept von
der überwiegenden Mehrheit der kantonalen Handelskammern genehmigt wurde, unterbreitete der Vorort dem Bundesrat am 25. März eine bereinigte
Fassung.
[Züricher Tagesanzeiger, 12.04.1996, S. 7]
Kaum
hatte der Verlag Seuil das Buch
veröffentlicht,
ergoss sich das grosse Donnerwetter
über den Autor: Baynac hatte am Mythos Moulin gerüttelt.
[Züricher
Tagesanzeiger, 04.12.1998, S. 65]
Sie schenkten ihnen Fahrräder
und Radios, neulich sogar einen
Warmwasser-Boiler.
[die tageszeitung, 05.02.1987, S. 1]
Mit der Sprechzeit überlappende Betrachtzeit nach einer Orientierungszeit, die
selbst vor der Sprechzeit liegt
Kaum
habe ich, was ich wollte, ist es für mich uninteressant.
[Neue Kronen-Zeitung, 01.09.1996, S.
14]
Nachdem ich schon Olympia-Bronze und Silber habe, möchte ich unbedingt meine dritte Medaille gewinnen.
[Berliner Zeitung, 04.02.1998; "Promis interessieren mich nicht"]
Eine Betrachtzeit vor einer Orientierungszeit, die selbst nach der Sprechzeit
liegt
Trotzdem hofft HSV-Präsident Heinz
Jacobsen lediglich, dass es den HSV Handball am
16.12. noch gibt.
Am Tag zuvor wird die Handball-Bundesliga
(HBL) über einen Punktabzug und eine eventuelle Geldstrafe entscheiden.
[die tageszeitung, 13.12.2004,
S. 24]
Als »Open Air Festivalorchester«
lädt das in seiner Existenz gefährdete Rundfunkorchester Berlin
am 18. Juli zu einem Strauß- Konzert vor dem Französischen Dom ein.
Zwei Tage vorher wird dort
der weltberühmte Startenor Jose Carreras das erstmals veranstaltete Sommerfestival
Classic Open Air - Berlin Gendarmenmarkt eröffnen.
[die tageszeitung,
10.07.1992, S. 18]
Eine Betrachtzeit nach einer Orientierungszeit, die selbst nach der Sprechzeit
liegt
Der IG-Vorsitzende Dirk Faltermann
betonte, dass die im vergangenen Jahr ins Leben gerufene Spenden-Sammelaktion "Nur 25
Mark" auch künftig weiter geht.
"Die nächsten Termine sind die Teilnahme am Viernheimer Weihnachtsmarkt, aber auch
anschließend werden wir weiter Präsenz
zeigen.
[Mannheimer Morgen,
09.12.2000, Renovierung weiter im Blick]
Mit neuen Umfragen und
Untersuchungen und Analysen und Erklärungen, warum die Masse nicht mehr jede Aktie
zu jedem überhöhten Preis kauft. Und wenn man's dem Publikum ganz genau
erklärt haben wird,
dann wird es schon wieder
zuschlagen.
[Salzburger
Nachrichten, 01.02.1993, Schaumrollen im Ausverkauf]
Erst durch das Zusammenspiel von Tempusformen der Verben und Temporaladverbien bzw.
Temporaladverbialia wird es möglich, so komplexe Folgen von Zeitbezügen zu realisieren, wie
sie bereits im Rahmen ganz alltäglicher Erzählungen auftreten können.
- Allein mittels Tempusformen könnte — dies gilt jedenfalls für das
Deutsche — lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass für das Ereignis, von dem
die Rede ist, ein Zeitraum vor der Sprechzeit (ich ging) anzunehmen ist
oder ein Zeitraum um die Sprechzeit herum (ich gehe) oder ein Zeitraum
nach der Sprechzeit (ich werde gehen)
Die Verwendung
geeigneter Temporaladverbialia ermöglicht zusätzlich Zeitbezüge, die sich nicht an der
Sprechzeit orientieren, sondern an einer zuvor eingeführten Betrachtzeit, die damit zur
Orientierungszeit wird:
danach ging ich ..., zuvor ging ich
..., zugleich ging ich ...
Gestern gehe ich ..., Übermorgen gehe ich
..., Im Augenblick gehe ich
...
zuvor werde ich ... gehen, im
Anschluss daran werde ich ... gehen
- Bei Temporaladverbialia und temporale Adverbialsätze einleitenden Konnektoren
sind drei Klassen zu unterscheiden:
- Absolute Zeitbestimmungen (orientiert an
Datum, Uhrzeit, markanten,
zeitlich erfassten Ereignissen)
am 2. Juni 1967, gegen 15:30
h, Punkt 18:00 h, genau ein Jahrzehnt nach dem Fall
der Berliner Mauer, ...
- Ausschließlich auf die Sprechzeit bezogene
Zeitbestimmungen:
jetzt,
heute,
morgen,
gestern, in zwei Wochen,
nächstes Jahr,
vor einem Monat, einst,
in Zukunft ...
- Auf die Orientierungszeit bezogene
Zeitbestimmungen:
dann,
danach,
damals,
zuvor,
nachdem, eine Woche
später, am
Vortag, ...
Weiterführendes
Ausführlich auf Fragen der so genannten Zeitenfolge geht ein: Ich dachte mir nichts dabei, da ich solche Schmerzen schon öfters hatte/gehabt
hatte — Gibt es im Deutschen eine normierte Zeitenfolge
(consecutio temporum)?
Eine umfassende Darstellung deutscher Tempusformen findet sich in Das Tempus-System des Deutschen.