Die Frage, ob hier hat begonnen (Präsensperfekt, auch: Perfekt) oder begann (Präteritum, auch: Imperfekt) angemessen sei, ist einfach zu beantworten: Es kommt ganz darauf an, was man zu sagen wünscht. Das klingt zunächst wenig hilfreich, doch es trifft einen wesentlichen Aspekt des Problems, das nicht darin besteht, diese Ausdrucksformen generell als mehr oder weniger gutes Deutsch zu bewerten, sondern vielmehr darin, die Verwendungsweisen beider Formen klar zu erfassen.
Für beide Formen lassen sich Verwendungszusammenhänge finden, in denen sie eindeutig als korrekt und angemessen gelten können:
Bemerkenswert ist, wie es sich auswirkt, wenn man die markierten Partien in diesen Textpassagen vertauscht:
In beiden Fällen ergeben sich Sequenzen, die zwar nicht wirklich unverständlich, doch seltsam verquer sind:
Gleich mehrere Faktoren erschweren den rechten Gebrauch von Präteritum und Präsensperfekt und sorgen zugleich dafür, dass sich für den Betrachter kein homogenes Bild der Verwendungsweisen ergibt:
Beide Formen werden dazu benutzt, von Vergangenem zu reden, und es fällt manchmal schwer, in der Entscheidung für eine der Formen einen besonderen Sinn zu erkennen, insbesondere dann, wenn derselbe Sprecher, wie bei den folgenden Beispielen, bei gleichen Rahmenbedingungen — Ankündigung eines nachfolgenden Gesprächsausschnitts — mal Präteritum mal Präsensperfekt verwendet:
Schwer nachvollziehbar ist oft auch der Wechsel der Form innerhalb einer Textpassage oder eines Gesprächsbeitrags:
Darüber, was diese Sprecher und Schreiber dazu bewegt haben mag, die Tempusformen zu wechseln, kann man kluge Überlegungen anstellen. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die Sprecher bzw. Schreiber an entsprechenden Punkten ihrer Erzählung, ihrer Rede oder ihres Berichts ungestellte Fragen ihrer Zuhörer oder Leser vermuteten und auf diese so eingehen, als ob sie ausgehend vom Hier und Jetzt gestellt worden wären:
Einfach handhabbare Regeln für den Gebrauch von Präteritum und Präsensperfekt wird man mit solchen Erklärungsversuchen freilich nicht bestimmen können, denn dabei sind zu viele den Einzelfall betreffende Annahmen erforderlich.
Wie sich bereits bei der exemplarischen Betrachtung zur Titelfrage zeigte, sind Präteritum und Präsensperfekt keineswegs beliebig austauschbar. Tatsächlich wird mit beiden Formen das Ziel, von Vergangenem zu reden, auf verschiedene Weise erreicht, und dies bleibt nicht in allen Kontexten ohne Wirkung.
Mit dem Präteritum wird ein Zeitpunkt oder Zeitraum als so genannte Betrachtzeit gesetzt, zu dem bzw. der sich ereignete, was Gegenstand der Mitteilung ist. Diese Betrachtzeit liegt zwingend vor dem Zeitpunkt der Äußerung, der so genannten Sprechzeit und kann auch nicht durch zusätzliche Zeitbestimmungen an diese "angedockt" werden:
Während sich etwa jetzt und soeben bei Sätzen wie
als Zeitbestimmungen auf die Sprechzeit beziehen, sind dieselben Wörter in Verbindung mit Präteritumformen auf eine zuvor eingeführte, in der Vergangenheit liegende Betrachtzeit zu beziehen:
[jetzt bezogen auf den Zeitpunkt, zu dem sich der Riese gesetzt hatte.]
[soeben bezogen auf die Zeit, in der ich dich ansah.]
Weil mit dem Präteritum eine Betrachtzeit eingeführt wird, die sich weder an der Sprechzeit noch an einer anderen bereits eingeführten Betrachtzeit orientiert, scheinen Beschreibungen, die im Präteritum gehalten sind, gleichsam losgelöst vom aktualen Geschehen. Sie eignen sich deshalb bestens dazu, von Ereignissen und Zuständen zu berichten oder zu erzählen, die zur Sprechzeit nicht aktual als informativ und relevant zu gelten haben.
Beim Präsensperfekt unterbleibt die Setzung einer eigenen Betrachtzeit. Deshalb kommen Präsensperfektformen problemlos auch mit Betrachtzeiten zurecht, die mit der Sprechzeit zusammenfallen oder gar nach ihr ansetzen:
Zum Reden über Vergangenes eignet sich das Präsensperfekt erst indirekt. Mittels Präsensperfekt werden Ereignisse als etwas beschrieben, das vor der jeweils gegebenen Betrachtzeit liegt, eventuell an sie heranreicht, jedoch zu dieser nicht mehr zutrifft:
Aufgrund der mit ihnen verbundenen Vorzeitigkeit könnten Präsensperfektformen grundsätzlich immer dazu genutzt werden, über Vergangenes zu reden, doch die besondere Wirkung, die Präteritumformen zum Mittel der Wahl für Erzählungen und Berichte macht, lässt sich mit ihnen nicht erzielen.
In Erzählungen und Berichten herrscht, insbesondere in Schriftform, eindeutig das Präteritum vor, wenn sie Vergangenes zum Gegenstand haben. Hier nur einige wenige Beispiele, gefolgt von ein wenig exemplarischer Statistik:
Präteritum | Frequenz | Partizip II | Frequenz |
ging- | 7.499.698 | gegangen | 1.366.529 |
fand- | 4.145.590 | gefunden | 2.930.680 |
lag- | 3.060.605 | gelegen | 527.441 |
trat- | 1.667.324 | getreten | 307.192 |
sprach- | 2.361.584 | gesprochen | 1.136.398 |
Schon diese Zahlen — erhoben im Rahmen einer Recherche im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) (Stand Februar 2024) — legen nahe, dass in geschriebener Sprache Präteritumformen gegenüber Präsensperfektformen bevorzugt werden. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass die Partizip II Formen keineswegs immer als Elemente von Präsensperfektformen zu interpretieren sind.
Beim Reden hingegen setzen manche, des Standarddeutschen durchaus fähige Sprecher selbst dort das Präsensperfekt ein, wo sie beim Schreiben das Präteritum gewählt hätten. Ein geradezu klassisches Beispiel hierfür:
Ob und, wenn ja, in welchem Ausmaß das Präsensperfekt in mündlicher Rede häufiger auftritt als das Präteritum, lässt sich auf legale Weise schwerlich vollständig erfassen, denn die erforderliche Datenbasis könnte allenfalls mittels einer großangelegten Abhöraktion beschafft werden. Annäherungsweise liefert der Blick in ein Spezialkorpus mit Transkripten mündlicher Kommunikation (basierend auf Inhalten aus der Datenbank für Gesprochenes Deutsch) im Umfang von insgesamt ca. 10 Millionen Wortformen folgende Zahlen:
Präteritum | Frequenz | Partizip II | Frequenz |
ging- | 2.560 | gegangen | 2.555 |
fand- | 1.923 | gefunden | 1.091 |
lag- | 477 | gelegen | 278 |
trat- | 55 | getreten | 40 |
sprach- | 513 | gesprochen | 3.316 |
Man erkennt hier, dass Präteritumsformen mündlich zumindest relativ seltener Verwendung finden als schriftlich, im Fall von sprach/sprachst/sprachen/spracht vs. gesprochen kehrt sich das Verhältnis sogar um. Das hat vermutlich gleich mehrere Ursachen:
Seit Radio und Fernsehen standarddeutsche Normen bis ins letzte Dorf tragen, geht die Bedeutung der regionalen Varianten als Kommunikationsmedien stetig zurück, doch vor allem in Süddeutschland zeigen sich in vielen Bereichen noch deutliche Nachwirkungen der ursprünglich vorherrschenden oberdeutschen Dialekte, wohl weil diese weniger gründlich als die niederdeutschen Dialekte von der schriftgeprägten Standardsprache verdrängt wurden.
Die oberdeutschen Dialekte verfügen infolge des bereits Mitte des 16. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossenen sog. Präteritumschwunds über keine Präteritumformen. Das Präsensperfekt ist hier mithin konkurrenzlos, wenn es darum geht, von Vergangenem zu sprechen. Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Bedeutung der Präsensperfektform: Während sie standardsprachlich in erster Linie dazu dient, Ereignisse als abgeschlossen zu beschreiben, ist bei konkurrenzloser Verwendung des Präsensperfekts nicht immer davon auszugehen, dass die beschriebenen Handlungen, Vorgänge oder Zustände zur Betrachtzeit zum Abschluss gekommen waren. Dies wird deutlich, wenn man betrachtet, wie etwa — im Heilbronner Stadtdialekt — grad (standarddeutsch: gerade) in entsprechenden Kontexten zu interpretieren ist:
Im ersten Fall bedeutet grad soviel wie erst vor Kurzem, im zweiten Fall — ganz wie dies standarddeutsch bei Verwendung des Präteritums anzunehmen wäre — soviel wie zu der Zeit, zu der stattfand, was der Temporalsatz beschreibt.
Wer — wie auch der Schreiber dieser Zeilen und Millionen weitere Sprachteilhaber — in einem Umfeld aufgewachsen ist, in dem dialektgeprägtes Sprechen im Alltag die Regel war, neigt dazu, zumindest in informellen Kontexten eher Präsensperfekt- als Präteritumformen einzusetzen, auch wenn er im Übrigen bemüht ist, standardkonform zu sprechen. Unter sich verzichten Sprecher mit oberdeutscher Biografie ganz auf Präteritumformen und empfinden solche Formen sogar geradezu als gestelzt oder überkandidelt, wenn einer der ihren sie verwendet.
Viele Sprachteilhaber mit oberdeutschem Hintergrund haben den Gebrauch der Präteritumformen erst im Rahmen des Schulunterrichts erworben, fast so, wie man eine Fremdsprache erwirbt, und sie neigen deshalb vor allem bei spontanen Äußerungen oder unter Zeitdruck dazu, auch mal zum Präsensperfekt zu greifen, wo normative Grammatiken ein Präteritum für angemessen erklären. Man mag dergleichen "Ausreißer" belächeln, doch ebenso könnte man sie zum Anlass nehmen, die Berechtigung einer Norm in Frage zu stellen, die dem Sprachgefühl von Millionen Sprachteilhabern nicht entspricht. Immerhin handelt es sich beim Präteritum um Formen, die in Teilen des Landes schwinden konnten, ohne zu einer ernsthaften Bedrohung der Ausdruckfähigkeit der dortigen Sprachgemeinschaft zu werden.
Betrachtet man den Gebrauch, den Sprecher und Schreiber des Deutschen von Präteritum und Präsensperfekt machen, ergibt sich kein klares Bild, doch lassen sich Regeln formulieren, deren Befolgung zu allgemein akzeptierten Verwendungen dieser Verbformen führt:
Kommt man im Zug seines Berichts oder seiner Erzählung auf etwas zu sprechen, dessen Auswirkungen bis zur Sprechzeit man eigens festhalten möchte, sollte man ins Präsensperfekt wechseln.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Entscheidend ist hier nicht, ob das berichtete Ereignis Auswirkungen bis zur Sprechzeit hat, sondern, ob man diesen Umstand als Sprecher oder Schreiber eigens festhalten möchte, denn Auswirkungen bis zur Sprechzeit hat, von reiner Fiktion abgesehen, so gut wie alles, was sich in der Vergangenheit ereignet hat.
Will man – ganz wie der oben zitierte, inzwischen ehemalige Stuttgarter Oberbürgermeister – in mündlicher Rede keinen Hehl von seiner Herkunft machen, sollte man sich – wiederum wie dieser – auch erkennbar dialektgefärbt ausdrücken.
Als Heilbronner könnte man etwa sagen:
Jedoch besser nicht in vermeintlichem Standarddeutsch:
Sondern dann etwa:
Man sollte allerdings jederzeit damit rechnen, dass beileibe nicht alles, was man zu lesen oder zu hören bekommt, in Anwendung solcher Regeln zustande kam oder gekommen ist.
Eine einführende Beschreibung der Verwendung der Tempusformen gibt: Reden von dem, was war, was ist und was sein wird — Ereigniszeit, Sprechzeit, Betrachtzeit
Eine ausführliche Darstellung des Tempussystems findet sich in der Systematischen Grammatik: Das Tempus-System des Deutschen