Absatz 2 kann erst angewendet werden, wenn Absatz 1 angewandt worden ist — Variation in der Flexion

Das Verb wenden leistet sich den Luxus von zwei verschiedenen schwachen Formen für das Präteritum (wendete/wandte ) und für das Partizip II (gewendet/gewandt); siehe dazu wenden. Mit wenden wird aber auch eine Reihe anderer Verben wie z.B. abwenden, anwenden, aufwenden, verwenden, zuwenden gebildet und die Frage ist, in welchem Ausmaß wenden seinen Reichtum an Formen an diese Verben weitergegeben hat. Ganz so einfach scheint die Sache nicht zu sein, wie viele Diskussionen und Fragen in Internetforen bezeugen, von denen hier zwei als Beispiele für viele gezeigt werden:

Okay, beides sind Partizip-Perfekt-Formen von "anwenden". Ich suche nach einer schlüssigen Erklärung / Regel, wann was korrekt eingesetzt wird. Bei "wenden" bin ich mir sicher: a) "Er wendete das Auto", aber b) "Er wandte sich um". Ich _glaube_, dass das darin liegt, dass das Verb in a) transitiv, in b) intransitiv ist... bin aber kein Linguist.
[https://dict.leo.org/forum/viewGeneraldiscussion.php?idForum=4&idThread=10298 abgerufen am 30.04.2024]
A: Wenn man zum Beispiel in einer Matheaufgabe eine Formel anwendet. Sagt man dann: 1) "Hier habe ich die Beispielformel angewandt." oder 2) "Hier habe ich die Beispielformel angewendet."
B: ich glaube beides ist grammatikalisch möglich... tendiere aber auch zu zweiterem
C: Ooook, es ist also ziemlich wurscht. Mir gehts da so wie LordSoth in deinem Beitrag. Wenn ich gerade eben etwas gemacht habe, dann verwende ich lieber angewendet. Das scheint auch beliebter zu sein.
[http://forumrbx.kurier.at/wwwThreads/showflat.php/Cat/0/Number/1263251/an/0/page/0 abgerufen am 13.12.2007]

Es soll jetzt überprüft werden, ob es tatsächlich für alle Verwendungen der oben erwähnten Verben gleichermaßen "wurscht" ist, welche Präteritum- oder Partizip II-Form gebraucht wird. Alle nachfolgenden Belegzahlen und Interpretationen basieren auf Recherchen im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) vom Juli 2007.

abwenden

Man findet das Präteritum und das Partizip II von abwenden in beiden Formen, wobei sich die Frequenz des Vorkommens beider Formen je nach Bedeutung des Verbs anders verteilt:

  • Wird abwenden i.S.v. 'abwehren, verhindern' gebraucht, so finden sich fast nur Formen mit e: ca. 4500 Belege für wendete...ab und abgewendet gegen nur ca. 40 Belege für wandte...ab und abgewandt:
Die Mannschaft bewies jedoch Moral und wendete durch Erfolge von Vollhardt, Kaiser und wiederum Seip die drohende Niederlage ab.
[Mannheimer Morgen, 03.11.1999; Endlich! TV Hofheim holt seinen ersten Punkt in der Bezirksklasse]
Von 1992 an stand er der Sozialistischen Internationale vor und wandte in Zusammenarbeit mit dem damaligen Premierminister Jospin die "Gefahr" des von Blair favorisierten "dritten Weges" ab.
[Frankfurter Allgemeine, 05.07.2003; Pierre Mauroy 75]
  • Werden abwenden bzw. sich abwenden i.S.v. 'wegdrehen, sich wegdrehen oder sich entfernen' gebraucht, sind vor allem die Formen mit a gebräuchlich: ca. 1800 Belege mit wandte...ab und abgewandt gegen ca. 800 Belege mit wendete...ab und abgewendet:
Nach einer Weile wandte sie die Augen von der Decke und sah mir ins Gesicht.
[Mannheimer Morgen, 18.09.2001; Selbs Mord]
"Na, ich weiß nicht", sagte der Mann hinter der Theke und wandte sich ab.
[Frankfurter Allgemeine, 24.11.2005]
De Chirico wandte sich von der Avantgarde ab und verschanzte sich in seiner metaphysischen Malerei.
[Frankfurter Allgemeine, 16.03.2005; Alberto Savinios "Neue Enzyklopädie" in einer erweiterten Neuausgabe]
Sie wendete die Augen ab, stellte sich taub, beschleunigte den Schritt, stieß die Tür auf und verschwand wortlos in der Nacht.
[Berliner Zeitung, 19.09.2000, S. 43]
Angewidert wendete er sich ab, als Grahl per Megaphon unverholen seine Sympathie mit den »Republikanern« äußerte.
[die tageszeitung, 18.04.1992, S. 31]
Viele hätten sich nicht nur vom System abgewendet, sondern auch von der Religion.
[die tageszeitung, 06.10.2004, S. 19]
  • Das Nomen ist Abwendung.

anwenden

  • Das Verb anwenden wird meist im Perfekt oder als Partizip II-Phrase (das Gesetz, angewandt auf diesen Fall, ...) gebraucht. Die Belegzahlen für angewendet und angewandt sind ziemlich ausgewogen: 11.520 Treffer für angewendet gegenüber 10.614 für angewandt, mit einem leichten Vorsprung für angewendet. Das Präteritum wird viel weniger gebraucht und findet sich vorwiegend in gebildeten Erklärungstexten wie z.B. in Enzyklopädien. In diesen Texten wird die Form wandte der Form wendete vorgezogen.
Mit der Verbandsklage kann überdies der Verband nur prüfen lassen, ob geltendes Recht von den Behörden korrekt angewendet worden ist.
[die tageszeitung, 13.09.2004, S. 4]
Den Terror wendete das Regime gegen die "ungeliebten Menschen" an, die schon vorher "ungeliebt" waren.
[die tageszeitung, 22.05.2001, S. 23]
Heute kam noch ein Änderungsantrag, nach dem sogar ein Paragraph der Landeshaushaltsordnung nicht angewandt werden sollte.
[Plenarprotokoll des Hessischen Landtags am 14.12.2000]
Pfarrer Sebastian Kneipp wandte weniger heftige Methoden an. Auch er hatte Kaltwasserbehandlung erstmals erfolgreich an sich selbst getestet.
[Herrick; VanGore; u.a.: Hydrotherapie, In: Wikipedia - URL:http://de.wikipedia.org: Wikipedia, 2005]

Der im Titel aufgeführte Satz hätte demnach auch anders lauten können:

Absatz 2 kann erst angewandt werden, wenn Absatz 1 angewendet worden ist.
  • Das Nomen ist Anwendung.

Aufpassen: Nur die Partizip II-Form angewandt wird auch als Opposition zu theoretisch verwendet: angewandte Mathematik, die angewandten Wissenschaften.

aufwenden

  • Auch für aufwenden finden wir Belege für beide Formen. Die Formen mit e (wendete....auf - aufgewendet) scheinen mit 6.529 Belegen aber viel gebräuchlicher als diejenigen mit a (wandt...auf - aufgewandt, 726 Belege), und zwar sowohl in unredigierten Texten aus dem Internet als in redaktionell erstellten Texten.
Mit einer solarthermischen Anlage zur Unterstützung der Warmwasserbereitung ließe sich zudem 60 Prozent der Energie einsparen, die für die Erwärmung des Warmwassers aufgewendet werden muss.
[die tageszeitung, 20.11.2004, S. 30]
Insgesamt wurden für die Wiederherstellung des Belvedere seit den 90er-Jahren zehn Millionen Euro aufgewandt.
[Berliner Zeitung, 25.06.2003, S. 20]
  • Auch bei den Nomina gibt es zwei Formen: Die Aufwendung und der Aufwand.

Aufpassen: Das Adjektiv ist aufwändig (empfohlene Schreibweise nach den aktuellen Rechtschreibregeln), die Schreibweise aufwendig bleibt aber weiterhin erlaubt.

verwenden

  • Wenn verwenden i.S.v. 'gebrauchen' gebraucht wird, findet man Belege für beide Präteritum- und Partizip II-Formen, aber Belege mit verwendete - verwendet überwiegen bei weitem (ca. 9.000 Belege für verwendete gegen ca. 600 für verwandt).
Als Stoff verwendete sie einen tomatenroten Baumwollstoff, von dem ihr jemand einmal einen ganzen Ballen geschenkt hatte, daneben verarbeitete sie aber auch Leinen, Seide und Polyester.
[die tageszeitung, 15.02.2005, S. 26]
Wie anderer Müll, vor allem Haushaltskeramik, war er zum Aufschütten der Stadtbefestigung verwandt worden.
[die tageszeitung, 01.02.2005, S. 21]
  • Wenn verwenden reflexiv gebraucht wird sich für jemanden verwenden i.S.v. 'sich für jemanden einsetzen', dann wird diesmal verwandte - verwandt häufiger gebraucht (40 Belege mit verwandt gegenüber 14 mit verwendet).
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Dresdner Oberbürgermeister Wagner (CDU) wegen Verdachts der Vorteilsnahme. Wagner soll über den Verein "Freunde und Förderer des OB" 300.000 Mark Spenden genommen und sich für die Geber verwandt haben.
[die tageszeitung, 04.08.2000, S. 6]
Die Witwe von Licinius und Schwester des Konstantins verwendete sich jedoch für Eusebius (und Arius).
[Head; Bender235; Stefan Kühn; u.a.: Eusebius von Nikomedia, In: Wikipedia - URL:http://de.wikipedia.org: Wikipedia, 2005]
  • Das Nomen ist Verwendung.

Aufpassen: Wenn ausgesagt werden soll, dass jemand Mitglied einer Familie ist oder dass etwas etwas anderem ähnelt, wird der/die Verwandte bzw. verwandt sein gebraucht. Auch dieses verwandt ist aus dem Partizip II von verwenden entstanden. (Das Verb hatte im Mittelhochdeutschen viele Bedeutungen, u. a. ''entfernen', 'verdrehen', 'vererben'.) Es hat sich aber schon im 15. Jahrhundert vom Verb gelöst und ist als Adjektiv verwandt oder als Nomen der/die Verwandte seitdem gebräuchlich; vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Nachdruck 1984, Band 25, Spalte 2121.

zuwenden

  • Wenn zuwenden bzw. sich zuwenden i. S.v. 'etwas oder sich zu jemandem/etwas drehen' oder 'sich auf etwas konzentrieren' gebraucht wird, gibt es Belege für beide Formen, aber Belege mit wandte...zu und zugewandt überwiegen deutlich (zugewandt: 3.500 Belege; zugewendet: 442 Belege):
Der Pianist hat dem Publikum den Rücken zugewandt, und die Künstlerin Joan Jonas sorgt mit einer enigmatischen, videoverstärkten Pantomime für ein Minimum an Bewegung.
[die tageszeitung, 24.03.2003, S. 25]
Die Reportagen sind geschrieben, die Kommentare kommentiert, die Features wurden gesendet, das Medienkollektiv hat sich längst anderen Sujets zugewandt.
[Berliner Zeitung, 15.06.2002, S. 3]
Meine Mutter, die heute noch der Kirche zugewandt ist, hat mich auch in Fragen des Glaubens erzogen.
[Berliner Zeitung, 31.05.2003, S. 12]
Die hat ihr den Rücken zugewendet und bemüht sich, die Kaffeemaschine auf Hochglanz zu polieren.
[die tageszeitung, 27.11.2000, S. 12]
Der Bundeskanzler hat sich denn auch einem Thema zugewendet, gegen das niemand etwas hat: Innovation.
[Berliner Zeitung, 24.01.2004, S. 4]
Der Jubel nach dem Freispruch in zweiter Instanz im vergangenen September war im Mittelstand viel stärker Califano zugewendet als Tortora.
[die tageszeitung, 06.01.1987, S. 7]
  • Wird aber zuwenden i.S.v. 'jemandem etwas zukommen lassen' gebraucht, sind nur die Formen mit e gebräuchlich.
Ein Vermächtnis ist keine Spende: Wenn im Testament verfügt ist, dass ein bestimmter Geldbetrag aus dem Erbe als Vermächtnis einer gemeinnützigen Einrichtung zugewendet werden muss, so kann diese Summe in der Steuererklärung des Verstorbenen nicht als Spende geltend gemacht werden.
[Berliner Zeitung, 31.12.2002, 23]
  • Das Nomen ist Zuwendung.

Fazit

In den meisten Fällen sind tatsächlich beide Präteritum- und Partizip II-Formen möglich und man kann sich entscheiden, ob man sich der Mehrheit der Sprachnutzer anschließt oder nicht.

Nur in einigen Fällen ist es nicht "wurscht": Man sollte eher die Formen mit e gebrauchen, wenn abwenden i.S.v. 'abwehren' und vor allem zuwenden i.S.v. 'zukommen lassen' gebraucht wird. Man sollte sich auch daran erinnern, dass der Gegensatz von 'theoretisch' angewandt und nicht angewendet ist.

Als Schmunzelfinale ein kleines Wortgefecht aus einem der vielen Internetforen:

Teilnehmer A: Es könnte natürlich auch sein, dass Du mit Fehlern "verwandt" bist;-) andernfalls ist es wohl angebracht, anstatt : *ich verwandt ein Wort...* :ich verwendete........zu schreiben.
Teilnehmer B: "verwandte" und "verwendete" - beides ist richtig. Man sollte sich aber nicht darauf konzentrieren, Schreibfehler (Schreibefehler?) als Aufhänger zu suchen, wenn man keine besseren Argumente findet, jemandem an den Karren zu fahren......

Zum Text

Schlagwörter
Autor(en)
Jacqueline Kubczak
Letzte Änderung
Aktionen
Seite merken
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen