Komposition versus Derivation
Die Modelle der Linguistik, mit denen z.B. die deutsche Wortbildung erklärt und strukturiert werden soll, sind Gedankenkonstrukte und nichts Naturgegebenes. Daher verwundert es wenig, dass sich Linguisten nicht auf ein einziges Erklärungsmodell einigen können, so auch nicht auf eine klare Grenzziehung zwischen den Wortbildungsarten. Die beiden hauptsächlichen Wortbildungsarten des Deutschen sind die Komposition (z.B. Königsmantel) und die Derivation (z.B. Schönheit). Die dritte der hauptsächlichen Wortbildungsarten, die Kurzwortbildung, abzugrenzen ist unproblematisch: Die Kurzwortbildung (z.B. Abi, Azubi, Lkw) unterscheidet sich als Kürzung einer Basis elementar von allen anderen Möglichkeiten der Wortbildung. Zwischen der Komposition und der Derivation jedoch gibt es Analogien, die eine Abgrenzung erschweren.
Ähnlich sind sich vor allem Determinativkomposition und explizite Derivation. Determinativkomposita und explizite Derivate sind grundsätzlich binäre Wortbildungsprodukte, d.h. sie sind so aufgebaut, dass sie jeweils in zwei Einheiten segmentiert werden können, z.B.
Gartenhaus(1)idylle(2), Garten(1)haus(2)
mehrheit(1)lich(2), Mehr(1)heit(2).
Im Gegensatz dazu bestehen implizite Derivate (z.B. tränken) und Konversionsprodukte (z.B. Lauf) aus jeweils einer Einheit. Kopulativkomposita können zwar binär sein (z.B. schwarz-weiß), können aber auch mehr als zwei Einheiten haben (z.B. in ihr schwarz-weiß-grünes Kleid). Das Problem der Abgrenzung von Komposition und Derivation ist also das Problem der Abgrenzung von Determinativkomposition und expliziter Derivation.
In der Forschungsliteratur wird einerseits immer wieder versucht, hier Unterschiede zu formulieren (ausführlich referiert und diskutiert bei Hansen/Hartmann 1991 und Welke 1995). Andererseits postulieren Linguisten mitunter, dass Unterschiede generell nicht gemacht werden sollten: "Abschließend kann festgestellt werden, dass eine Theorie, die die beiden Wortbildungstypen gleich behandelt, zusammen mit unabhängigen Prinzipien in der Lage ist, die Regularitäten bezüglich Komposition und Affigierung adäquat zu beschreiben. Sie ist den herkömmliche Theorien insofern überlegen, als sie keine Abgrenzung verlangt, die sowohl unmöglich zu ziehen als auch überflüssig ist" (Hansen/Hartmann 1991: 163). Andere Linguisten (z.B. Haase 1989) schlagen vor, erst gar nicht klar zu unterscheiden, sondern Komposition und Derivation als "Kontinuum der Grammatikalisierung" zu sehen. Eine klare Unterscheidung ist aber möglich und sinnvoll:
Unter der Voraussetzung, dass die Komposition im traditionellen Sinne definiert werden soll als eine Kombination aus Wörtern oder Konfixen mit (meist anderen) Wörtern oder Konfixen (z.B. Königsmantel, Biotop) und die explizite Derivation als eine Kombination aus Wörtern oder Konfixen mit Affixen (z.B. Schönheit, biotisch, festigen), existieren Unterscheidungsmerkmale, die auch die Gegner der Unterscheidung zugestehen, nämlich die zwischen den jeweils beteiligten Einheiten: Zum einen unterscheiden sich Affixe von Wörtern dadurch, dass sie syntaktisch nur gebunden vorkommen (z.B. an der Ecke stand ein *ling); Wörter dagegen treten syntaktisch frei auf (z.B. an der Ecke stand ein Mann). Zum anderen unterscheiden sich Affixe von Konfixen dadurch, dass sie nicht basisfähig sind, d.h. nicht mit Affixen kombinierbar (z.B. *verisch); Konfixe dagegen sind basisfähig, d.h. Konfixe können mit Affixen zu expliziten Derivaten abgleitet werden (z.B. identisch). Vgl. Die Einheiten der Wortbildung. Affixe sind also klar von den anderen Einheiten der Wortbildung abzugrenzen. Deshalb ist auch die Wortbildung ohne Affix klar abgrenzbar von der Wortbildung mit Affix. U.a. Höhle (1982) hält diesen Unterschied für marginal und sieht daher Komposition und Derivation als kaum unterscheidbar an. Dagegen wird hier dieser Unterschied als elementar angesehen und entsprechend der Unterschied zwischen Komposition und Derivation gewichtet. Aus den Unterscheidungsmerkmalen zwischen den Wortbildungseinheiten ergibt sich eine weitere Eigenheit: Bei Komposita legt grundsätzlich die zweite Einheit die grammatischen Merkmale fest und bestimmt außer der grammatischen Funktion auch die kategorielle Bedeutung (vgl. Donalies 1999b); bei Derivaten legt zwar ebenfalls grundsätzlich die zweite Einheit die grammatischen Merkmale fest, die kategorielle Bedeutung dagegen legt mal die erste, mal die zweite Einheit fest. Vgl. Die Righthand Head Rule in der Wortbildung und Das transponierende, das determinierende und das determinierte Wortbildungsaffix.
Diese Unterscheidungsmerkmale sind nur dann irrelevant, wenn man die bisherige Definition der Komposition und Derivation aufgäbe. Dann wäre ebensogut eine Grenze zu ziehen zwischen einerseits den Wortbildungsarten, bei denen jeweils zwei Einheiten kombiniert werden, und andererseits denen, bei denen Wortbildungsprodukte aus nur einer Einheit entstehen:
Entscheidet man sich aber wie hier dafür, die traditionelle Einteilung beizubehalten, gilt: