Valenz - die Anfänge
Mit zwei bestechenden Bildern von Lucien Tesnière, dem französischen Slawisten und allgemeinen Sprachwissenschaftler, fing die Geschichte der Valenz an:
Valenz
Der aus der Chemie stammende Terminus Valenz (valence) wurde 1959 von Tesnière in seinem Buch "Éléments de syntaxe structurale" (Klincksieck, Paris) auf sprachliche Phänomene angewandt, indem er das Verb, das für ihn das zentrale Element des Satzes darstellt und aus dem sich der Satz entwickelt, verglich mit einem "atome crochu" (Atom mit Häkchen), das – je nach Anzahl seiner Häkchen – seine Anziehungskraft auf eine mehr oder weniger große Anzahl von Aktanten (actants) ausübt. Die Anzahl der Häkchen und damit die Anzahl der Aktanten, die von einem Verb regiert werden, nannte er die Valenz des Verbs (vgl. Tesnière 1969, 2. Aufl., S. 238).
"On peut ainsi comparer le verbe à une sorte d'atome crochu susceptible d'exercer son attraction sur un nombre plus ou moins élevé d'actants, selon qu'il comporte un nombre plus ou moins élevé de crochets pour les maintenir dans sa dépendance. Le nombre de crochets que présente un verbe et par conséquent le nombre d'actants qu'il est susceptible de régir, constitue ce que nous appellerons la valence du verbe." (Tesnière 1969, 2. Aufl., S. 238)
Übersetzung von Ulrich Engel: "Man kann so das Verb mit einem Atom vergleichen, an dem Häkchen angebracht sind, so daß es - je nach der Anzahl der Häkchen - eine wechselnde Zahl von Aktanten an sich ziehen und in Abhängigkeit halten kann. Die Anzahl der Häkchen, die ein Verb aufweist, und dementsprechend die Anzahl der Aktanten, die es regieren kann, ergibt das, was man die Valenz des Verbs nennt." (Tesnière (Engel) 1980, S. 161)
Im Deutschen wurde dafür von Erben 1964 neben dem Terminus Valenz auch der ebenfalls aus der Chemie stammenden Terminus Wertigkeit eingeführt. Admoni sprach in diesem Zusammenhang von Fügungspotenz.
Aktanten
Auch zur Einführung von Aktant wählte Tesnière ein Bild, das seitdem häufig von Valenztheoretikern verwendet wird. Diesmal ist es ein Bild aus dem Theaterwesen: Mit dem Verb wird ein kleines Theaterstück entworfen und wie im Theater gibt es ein dargestelltes Geschehen und meistens Protagonisten sowie Umstände, in die die Handlung eingebunden ist. Das Verb stellt das Geschehen dar. Die Aktanten sind die Protagonisten und die Umstände nennt Tesnière circonstants. Aktanten sind Wesen oder Gegenstände, die am Geschehen - auch passiv - teilnehmen. Die circonstants geben Zeit, Ort, Art und Weise an, in denen das Geschehen passiert (vgl. Tesnière 1969, 2. Aufl., S. 102). Im Deutschen wird häufig der von Brinkmann eingeführte Terminus Mitspieler statt Aktant verwendet.
1. "Le nœud verbal que l'on trouve au centre
de la plupart de nos langues européennes exprime tout un petit drame. Comme un drame en
effet, il comporte obligatoirement un procès, et le plus souvent des acteurs et des
circonstances.
2. Transposés du plan de la réalité dramatique sur celui de la
syntaxe structurale, le procès, les acteurs et les circonstances deviennent
respectivement le verbe, les actants et les circonstants.
3. Le verbe exprime
le procès. [...]
4. Les actants sont les êtres ou les choses qui, à un titre
quelconque et de quelque façon que ce soit, même au titre de simples figurants et de la
façon la plus passive, participent au procès. [...]
[...]
7. Les
circonstants expriment les circonstances de temps, lieu, manière, etc... dans lesquelles
se déroule le procès. Ainsi dans la phrase fr. Alfred fourre toujours son nez
partout, il y a deux circonstants, un de temps (toujours) et un de lieu
(partout)." (Tesnière 1969, 2. Aufl., S. 102)
Übersetzung von Ulrich Engel:
1. "Der verbale Nexus, der
bei den meisten europäischen Sprachen im Zentrum steht, lässt sich mit einem kleinen
Drama vergleichen. Wie das Drama umfasst es notwendig ein Geschehen und meist noch
Akteure und Umstände.
2. Wechselt man aus der Wirklichkeit des Dramas auf die
Ebene der strukturalen Syntax über, so entspricht dem Geschehen das Verb, den Akteuren
die Aktanten und den Umständen die Angaben.
3. Das Verb bezeichnet das
Geschehen. [...].
4.Die Aktanten sind Wesen oder Dinge, die auf irgendeine Art,
sei es auch nur passiv, gewissermaßen als bloße Statisten, am Geschehen teilhaben.
[...]
[...]
7. Die Angaben bezeichnen Umstände der Zeit, des Ortes,
der Art und Weise usw., unter denen sich das Geschehen vollzieht. So enthält der Satz
Alfred steckt seine Nase immer überall hinein eine Temporalangabe
(immer) und eine Lokalangabe (überall hinein)." (Tesnière (Engel) 1980, S.
93)
Freie Aktanten: Ein zentraler Punkt der Valenztheorie, der schon in den "Éléments de syntaxe structurale" dargestellt wird, ist die Feststellung, dass nicht alle Aktanten in einem Satz realisiert werden müssen, dass das Verb nicht gesättigt werden muss. Die unbesetzten Valenzen nennt Tesnière "frei". So kann in einem Satz das Verb singen ohne Realisierung für den zweiten Aktanten in einem Satz verwendet werden: Alfred singt neben Alfred singt ein Lied (vgl. Tesnière 1969, 2. Aufl., S. 238-239).
" Notons d'ailleurs qu'il n'est jamais nécessaire que les valences d'un verbe soient toutes pourvues de leur actant et que le verbe soit, pour ainsi dire, saturé. Certaines valences peuvent rester inemployées ou libres. C'est ainsi que le verbe divalent chanter peut très bien s'employer sans second actant. C'est le cas lorsqu'on dit Alfred chante en face de Alfred chante une chanson." (Tesnière 1969, 2. Aufl., S. 238-239)
Übersetzung von Ulrich Engel: "Es ist übrigens nie erforderlich, daß alle Valenzen eines Verbs durch ihren jeweiligen Aktanten belegt sind und damit das Verb sozusagen saturiert ist. Gewisse Valenzen können unbesetzt oder frei bleiben. So kann das divalente Verb singen durchaus ohne zweiten Aktanten verwendet werden, etwa wenn man Alfred singt statt Alfred singt ein Lied sagt." (Tesnière (Engel) 1980, S. 97)
Dieser Feststellung wird in der Nachfolge mit dem Konzept der fakultativen Ergänzungen bzw. fakultativen Komplemente Rechnung getragen.
Eine detaillierte Darstellung der Valenztheorie von Tesnière, seinen Vorgängern und Nachfolgern findet sich z.B. in Ágel 2000, S. 7-82.