Ist es nicht merkwürdig, dass einem etwas weggenommen wird und man diesen Umstand mithilfe einer Verbgruppe formuliert, in der ein Verb, würde man es alleine verwenden, genau das Gegenteil ausdrückt? Als Vollverb kennen wir bekommen ja folgendermaßen:
Auch in anderen Verwendungen wie "Er bekommt graue Haare", "Er bekommt Arbeit" oder mit einem Infinitiv "Er bekommt etwas zu tun" geht es eigentlich darum, dass man danach etwas hat, das man vorher nicht hatte, und seien es Bauchschmerzen:
Kann man also etwas gestohlen bekommen? In Blick in die Sprachrealität zeigt: Auch wenn sie ein wenig ungewöhnlich ist und gelegentlich als rein umgangssprachlich abgetan wird — ganz so selten ist diese Konstruktion nicht. Die Kombination "gestohlen bekommen" wurde bei einer Google-Suche im Dezember 2023 immerhin 2200 mal gefunden. Hätte man die Suche auf alle Formen von bekommen (bekommst/bekommt/bekamst/bekam/ usw.) erweitert und auch andere Reihenfolgen bzw. Wortabstände erlaubt (sie bekam gestern die Handtasche gestohlen), wäre die Anzahl der Treffer sicherlich noch weitaus größer. Aber solche Suchoptionen lassen sich in Online-Suchmaschinen nicht so einfach umsetzen, weshalb das Internet für linguistisch motivierte empirische Aussagen eine nur begrenzt aussagekräftige Datenquelle darstellt.
Ob "gestohlen bekommen" tatsächlich nur umgangssprachlich verwendet wird, scheint allerdings schon bei einer überblicksartigen Durchsicht der gefundenen Belege zweifelhaft. Und der Zweifel wächst bei Heranziehung sprachwissenschaftlicher Korpora mit Erzählungen, Berichten, Gebrauchstexten, Reden, Interviews usw. Man findet die fragliche Konstruktion eben nicht nur in Diskussions- und Chat-Foren, sondern z.B. auch in der Schriftsprache auflagenstarker Zeitungen. Die Kombination bekommen + gestohlen ist im Deutschen Referenzkorpus DeReKo belegt und die folgenden Beispiele muten nicht besonders informell an:
Gleiches gilt übrigens für "weggenommen bekommen":
Die ursprüngliche Bedeutung von bekommen verblasst in solchen Formulierungen, die wie andere Passivkonstruktionen ohne Nennung einer handelnden Person auskommen und in Grammatiken als bekommen-Passiv oder Rezipientenpassiv bezeichnet werden.
Mehr über das bekommen-Passiv, wie es gebildet wird und was es leistet, findet sich hier: