Im Bahnhof hat er seine Brieftasche gestohlen bekommen — Gibt es bekommen-Passiv mit Verben, die das Gegenteil von bekommen bedeuten?

Natürlich gibt es auch immer wieder haarsträubende Geschichten von Piraten, die Touristen überfallen, aber diese Gefahr ist auch nicht größer als die, in Hamburg die Handtasche gestohlen zu bekommen. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 14.10.1999, Nr. 42)
"Wenn die Ängste, dass man etwas weggenommen bekommt, zu groß sind, gibt es keine Bereitschaft zur Veränderung", sagte Schröder. (Berliner Zeitung, 15.07.2002, S. 5)

Ist es nicht merkwürdig, dass einem etwas weggenommen wird und man diesen Umstand mithilfe einer Verbgruppe formuliert, in der ein Verb, würde man es alleine verwenden, genau das Gegenteil ausdrückt? Als Vollverb kennen wir bekommen ja folgendermaßen:

Ich habe ein Geschenk bekommen.
Zum Geburtstag bekam ich eine Theaterkarte.

Auch in anderen Verwendungen wie "Er bekommt graue Haare", "Er bekommt Arbeit" oder mit einem Infinitiv "Er bekommt etwas zu tun" geht es eigentlich darum, dass man danach etwas hat, das man vorher nicht hatte, und seien es Bauchschmerzen:

Nach dem fetten Essen hat er Bauchschmerzen bekommen.

Kann man also etwas gestohlen bekommen? In Blick in die Sprachrealität zeigt: Auch wenn sie ein wenig ungewöhnlich ist und gelegentlich als rein umgangssprachlich abgetan wird — ganz so selten ist diese Konstruktion nicht. Die Kombination "gestohlen bekommen" wurde bei einer Google-Suche im Dezember 2023 immerhin 2200 mal gefunden. Hätte man die Suche auf alle Formen von bekommen (bekommst/bekommt/bekamst/bekam/ usw.) erweitert und auch andere Reihenfolgen bzw. Wortabstände erlaubt (sie bekam gestern die Handtasche gestohlen), wäre die Anzahl der Treffer sicherlich noch weitaus größer. Aber solche Suchoptionen lassen sich in Online-Suchmaschinen nicht so einfach umsetzen, weshalb das Internet für linguistisch motivierte empirische Aussagen eine nur begrenzt aussagekräftige Datenquelle darstellt.

Ob "gestohlen bekommen" tatsächlich nur umgangssprachlich verwendet wird, scheint allerdings schon bei einer überblicksartigen Durchsicht der gefundenen Belege zweifelhaft. Und der Zweifel wächst bei Heranziehung sprachwissenschaftlicher Korpora mit Erzählungen, Berichten, Gebrauchstexten, Reden, Interviews usw. Man findet die fragliche Konstruktion eben nicht nur in Diskussions- und Chat-Foren, sondern z.B. auch in der Schriftsprache auflagenstarker Zeitungen. Die Kombination bekommen + gestohlen ist im Deutschen Referenzkorpus DeReKo belegt und die folgenden Beispiele muten nicht besonders informell an:

Auf offener Landstraße bekommt jemand sein Auto gestohlen, der Zuschauer sieht nur die Hände, die nach dem Schlüssel greifen. (die tageszeitung, 14.08.2001, S. 15)
Geld zu verlieren oder gestohlen zu bekommen, bedeutet über den unmittelbaren pekuniären Verlust hinaus eine Verletzung der Psyche. (Mannheimer Morgen, 31.12.2001)
Außerdem kann man sein Geld weder verlieren noch gestohlen bekommen, so die Argumente. (Nürnberger Zeitung, 26.08.2016, S. 19)

Gleiches gilt übrigens für "weggenommen bekommen":

Kann man seinen Pass/Ausweis aberkannt/weggenommen bekommen? (Sächsische Zeitung, 20.12.2021, S. 15)
Dass er diesen deutschen Nationalcharakter auf die fehlende deutsche "postkoloniale Selbstreflexion" zurückführt, weil Deutschland seine Kolonien nicht entlassen, sondern weggenommen bekommen habe, mag auf einige Rechte der Weimarer Republik zutreffen, Menschen der Zeit nach 1945 aber denken gewiss nicht an die kurze Zeit, in der Deutschland auch mal Kolonialmacht sein wollte [...] (die tageszeitung, 15.02.2020, S. 37)
Die Jungs haben in Unterzahl ein Superspiel gemacht und noch einmal drei Tore weggenommen bekommen, zweimal wegen Abseits, einmal wegen eines angeblichen Fouls. (Nassauische Neue Presse, 03.12.2019, S. 26)

Die ursprüngliche Bedeutung von bekommen verblasst in solchen Formulierungen, die wie andere Passivkonstruktionen ohne Nennung einer handelnden Person auskommen und in Grammatiken als bekommen-Passiv oder Rezipientenpassiv bezeichnet werden.

Weiterführendes

Mehr über das bekommen-Passiv, wie es gebildet wird und was es leistet, findet sich hier:

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Autor(en)
Jacqueline Kubczak
Bearbeiter
Roman Schneider
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