Puristen mögen es nicht, das so genannte bekommen-Passiv. Man brauche es nicht, sagen sie, es gebe doch das Passiv mit werden: Dem Sieger wurde eine Medaille umgehängt. Allenfalls für das Verb schenken wird ein bekommen-Passiv ohne Murren akzeptiert: Paul bekommt ein Buch geschenkt.
Häufig können mit demselben Verb sowohl Aktivsätze als auch Passivsätze gebildet werden. Ein Passivsatz hat verglichen mit einem Aktivsatz die Eigenschaft, dass man denjenigen, der handelt, nicht nennen muss. Das kann gelegentlich, wenn man nicht sagen will oder nicht weiß, wer die Handlung vollführt, ganz praktisch sein. In einem Aktivsatz wird die Handlung aus der Perspektive des Handelnden dargestellt, in einem Passivsatz steht die Handlung bzw. das Resultat der Handlung im Vordergrund und der Verantwortliche darf im Dunkeln und versteckt bleiben.
Das gilt auch für das bekommen-Passiv:
Auch in einem Passivsatz können die Verantwortlichen benannt werden. Aber im Unterschied zum Aktivsatz, in dem der Verantwortliche, der Handelnde als Subjekt des Satzes genannt werden muss, kann er im Passivsatz ausgedrückt werden und zwar als Präpositionalphrase mit von:
Weitere Informationen zum Passiv: Genus Verbi: Aktiv und Passiv
Hat das bekommen-Passiv nicht besondere Eigenschaften, die es von den anderen Passiven unterscheidet und die auch nützlich sein können? Bei vielen Handlungen gibt es eine Person, der die Handlung gilt, die durch die Handlung einen Nutzen oder einen Schaden erleidet. Das Besondere am bekommen-Passiv ist die Nennung dieser Person als Subjekt des Satzes:
Diese Person wird in einem Aktivsatz häufig durch eine Nominalphrase oder eine Pronominalphrase im Dativ dargestellt:
Aus diesen Sätzen lassen sich Passivsätze im werden-Passiv bilden, in denen die Handelnden nicht genannt werden müssen. Wenn man möchte, dass Nutznießer bzw. Geschädigte besonders ins Blickfeld rücken, kann man die Nominalphrase oder Pronominalphrase im Dativ an den Anfang setzen:
Diese Konstruktion mit werden-Passiv und Dativ ist allerdings nicht sehr üblich und wird oftmals als anspruchsvoll empfunden.
Hier kommt das bekommen-Passiv ins Spiel: Es wird üblicherweise von Verben gebildet, die im Aktivsatz ein Nomen oder ein Pronomen im Dativ mit sich führen können. Das bekommen-Passiv ist damit also eine Alternative zum werden-Passiv, bei dem das Dativkomplement nach vorne gerückt ist. Und der Satzbau mit einem bekommen-Passiv entspricht dem häufigsten Satzbaumuster des Deutschen: Nominativ, Verb, Akkusativ (Partizip) wie z.B. in Er hat einen Apfel gegessen. Man kann auf den Dativ verzichten, und derjenige, der etwas bekommt, dem etwas Positives oder Negatives angetan wird, steht im Nominativ, der üblichsten und einfachsten Form im Deutschen.
Umgangssprachlich finden wir das bekommen-Passiv aber auch mit Verben, die nicht mit einer Nominalphrase im Dativ verwendet werden. Das funktioniert allerdings nur dann, wenn derjenige, dem etwas "angetan" wird, im Aktivsatz nicht in Form einer Nominalphrase im Akkusativ erscheint und in Sätzen mit werden-Passiv nicht als Subjekt sondern als Präpositionalphrase (* steht nachfolgend für "nicht-akzeptabel"):
Aktivsatz | werden-Passivsatz | bekommen-Passivsatz |
Jemand schimpft mit ihm | Mit ihm wird geschimpft | Er bekommt geschimpft |
Man schlägt ihm ins Gesicht | Ihm wird ins Gesicht geschlagen | Er bekommt ins Gesicht geschlagen |
Man schlägt ihn | Er wird geschlagen | * Er bekommt geschlagen |
Insgesamt darf man somit wohl sagen, dass das bekommen-Passiv eine schwierige Konstruktion ohne Informationsverlust ersetzen kann. Und überflüssig ist es schon allein deshalb nicht, weil es als Anschluss in Sätzen eingebaut werden kann, in denen ein werden-Passiv syntaktisch nicht passen würde:
Im obigen Satz lässt sich ohne weitere Modifizierung anstelle des bekommen-Passivs kein werden-Passiv verwenden, denn das Subjekt des vorherigen Aktivsatzes nach allem, was man heute weiß [...] kann nicht auch als Subjekt des werden-Passiv-Satzes fungieren:
Als Subjekt des bekommen-Passivsatzes ist das aber problemlos möglich:
Das Vollverb bekommen, dessen übliche Verwendung der Satz Zu seinem fünfzigsten Geburtstag hat Paul einen Füller bekommen illustriert, wird mit einem Akkusativobjekt (in dem Beispielsatz: einen Füller) verwendet. Dieses Akkusativobjekt bezeichnet, was jemand nach der "Schenkaktion" (im weiten Sinne) hat. Man ist dann dazu übergegangen, auch Handlungen, die jemand für eine Person ausführt und die ihr zu Gute kommen, mit dem Verb bekommen zu verbinden. Ein Satz, in dem ein solcher Übergang deutlich wird, ist z.B. folgendes Zitat aus dem Lustspiel "Leonce und Lena" von Büchner:
Die ursprüngliche Bedeutung von bekommen verblasst in diesen Konstruktionen; bekommen wird zum Hilfsverb. Mithilfe dieses Hilfsverbs und eines Partizips II können Sätze gebildet werden, die eine passivische Bedeutung haben. Statt Ihr wird ein Buch geschenkt kann man sagen Sie bekommt ein Buch geschenkt. Statt Ihm werden die Haare geschnitten kann man sagen Er bekommt die Haare geschnitten. Daraus erklärt sich der in Grammatiken oft verwendete Name bekommen-Passiv.
Das bekommen-Passiv (vor allem mit dem Partizip geschenkt – sozusagen als Verstärkung) ist im jetzigen Sprachgebrauch durchaus üblich (Google-Suche nach "geschenkt bekommen" im Dezember 2023: ca. 5.200.000 Treffer; DeReKo: ca. 38.000 Belege).
Das bekommen-Passiv ist keine Neuerscheinung. Die folgenden Belege aus dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) zeigen, dass das bekommen-Passiv im 18. Jahrhundert schon sehr lebendig war und schon damals nicht nur mit dem Verb schenken verwendet wurde:
Übrigens, auch der Dichterfürst Goethe verschmähte das bekommen-Passiv nicht, wie man am folgenden Beispiel erkennen kann:
Auch Thomas Mann verwendete es — nicht nur mit dem Verb schenken:
Heutzutage hat sich das bekommen-Passiv offenkundig sogar in seriösen, redaktionell betreuten Nachrichtentexten etabliert:
Eine Suche im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) ergab 2023 für die Verbindung bekommen/bekam/... + geschenkt über 88.000 Treffer. Für die Verbindung bekommen/bekam/... + zugeschickt gab es ca. 14.000 Treffer und für die Verbindung bekommen/bekam/... + umgehängt immerhin noch über 3.000 Belege.
Beim bekommen-Passiv wird, im Gegensatz zum werden-Passiv oder sein-Passiv, nicht das Akkusativkomplement des Aktivsatzes zum Subjekt des Passivsatzes, sondern das Dativkomplement. Damit ermöglicht es eine andere Sicht auf die dargestellte Sachlage.
Der Gebrauch eines bekommen-Passivs mit Verben, die in der Aktivform kein Nomen oder Pronomen im Dativ führen können (er bekommt häufig geschimpft), gilt noch als umgangssprachlich.
Zum Gebrauch des bekommen-Passivs mit Verben, die das Gegenteil von bekommen bedeuten, siehe auch Im Bahnhof hat er seine Brieftasche gestohlen bekommen.
Weiterführende Fachliteratur: Leirbukt (1997); Wegener (1985); Askedal (1984).