Der Sieger bekam eine Medaille umgehängt — Wozu bekommen-Passiv?

Antje Buschschulte war bei ihrem ersten großen Erfolg gerade 17 Jahre alt. Damals gewann sie bei den Olympischen Spielen in Atlanta die Bronzemedaille mit der Freistilstaffel. Seitdem war sie immer mit dabei, wenn deutsche Schwimmerinnen Medaillen umgehängt bekamen. (Frankfurter Allgemeine, 28.07.2005; Der kleine Triumph der Antje Buschschulte)

Puristen mögen es nicht, das so genannte bekommen-Passiv. Man brauche es nicht, sagen sie, es gebe doch das Passiv mit werden: Dem Sieger wurde eine Medaille umgehängt. Allenfalls für das Verb schenken wird ein bekommen-Passiv ohne Murren akzeptiert: Paul bekommt ein Buch geschenkt.

Wozu überhaupt Passiv ?

Häufig können mit demselben Verb sowohl Aktivsätze als auch Passivsätze gebildet werden. Ein Passivsatz hat verglichen mit einem Aktivsatz die Eigenschaft, dass man denjenigen, der handelt, nicht nennen muss. Das kann gelegentlich, wenn man nicht sagen will oder nicht weiß, wer die Handlung vollführt, ganz praktisch sein. In einem Aktivsatz wird die Handlung aus der Perspektive des Handelnden dargestellt, in einem Passivsatz steht die Handlung bzw. das Resultat der Handlung im Vordergrund und der Verantwortliche darf im Dunkeln und versteckt bleiben.

Aktivsatz: Die Regierung erhöht die Steuern.
Passivsatz: Die Steuern werden erhöht.
Aktivsatz: Paul hat die Vase umgeworfen.
Passivsatz: Die Vase wurde umgeworfen.

Das gilt auch für das bekommen-Passiv:

Aktivsatz: Paula hat Paul eine abscheuliche Krawatte geschenkt.
Passivsatz: Paul hat eine abscheuliche Krawatte geschenkt bekommen.

Auch in einem Passivsatz können die Verantwortlichen benannt werden. Aber im Unterschied zum Aktivsatz, in dem der Verantwortliche, der Handelnde als Subjekt des Satzes genannt werden muss, kann er im Passivsatz ausgedrückt werden und zwar als Präpositionalphrase mit von:

Die Steuern wurden von der Regierung erhöht.
Die Vase wurde von Paul umgeworfen.
Paul bekommt von Paula eine abscheuliche Krawatte geschenkt.

Weitere Informationen zum Passiv: Genus Verbi: Aktiv und Passiv

Warum bekommen-Passiv?

Hat das bekommen-Passiv nicht besondere Eigenschaften, die es von den anderen Passiven unterscheidet und die auch nützlich sein können? Bei vielen Handlungen gibt es eine Person, der die Handlung gilt, die durch die Handlung einen Nutzen oder einen Schaden erleidet. Das Besondere am bekommen-Passiv ist die Nennung dieser Person als Subjekt des Satzes:

Paul bekommt ein Buch geschenkt.
Maria bekommt die Treppe geputzt.

Diese Person wird in einem Aktivsatz häufig durch eine Nominalphrase oder eine Pronominalphrase im Dativ dargestellt:

Paul schenkte dem Jubilar eine Theaterkarte.
Die Stadt hat mir leider sehr schnell das Strafmandat zugeschickt.

Aus diesen Sätzen lassen sich Passivsätze im werden-Passiv bilden, in denen die Handelnden nicht genannt werden müssen. Wenn man möchte, dass Nutznießer bzw. Geschädigte besonders ins Blickfeld rücken, kann man die Nominalphrase oder Pronominalphrase im Dativ an den Anfang setzen:

Dem Jubilar wurde eine Theaterkarte geschenkt.
Mir wurde das Strafmandat sehr schnell zugeschickt.
Ihm wurde ein Blumenstrauß in den Vatikanfarben Gelb und Weiß überreicht. (dpa, 13.09.2006; Papst beendet privates Tagesprogramm)

Diese Konstruktion mit werden-Passiv und Dativ ist allerdings nicht sehr üblich und wird oftmals als anspruchsvoll empfunden.

Hier kommt das bekommen-Passiv ins Spiel: Es wird üblicherweise von Verben gebildet, die im Aktivsatz ein Nomen oder ein Pronomen im Dativ mit sich führen können. Das bekommen-Passiv ist damit also eine Alternative zum werden-Passiv, bei dem das Dativkomplement nach vorne gerückt ist. Und der Satzbau mit einem bekommen-Passiv entspricht dem häufigsten Satzbaumuster des Deutschen: Nominativ, Verb, Akkusativ (Partizip) wie z.B. in Er hat einen Apfel gegessen. Man kann auf den Dativ verzichten, und derjenige, der etwas bekommt, dem etwas Positives oder Negatives angetan wird, steht im Nominativ, der üblichsten und einfachsten Form im Deutschen.

Der Jubilar bekommt eine Theaterkarte geschenkt.
Ich bekomme das Strafmandat sehr schnell zugeschickt.

Umgangssprachlich finden wir das bekommen-Passiv aber auch mit Verben, die nicht mit einer Nominalphrase im Dativ verwendet werden. Das funktioniert allerdings nur dann, wenn derjenige, dem etwas "angetan" wird, im Aktivsatz nicht in Form einer Nominalphrase im Akkusativ erscheint und in Sätzen mit werden-Passiv nicht als Subjekt sondern als Präpositionalphrase (* steht nachfolgend für "nicht-akzeptabel"):

Aktivsatzwerden-Passivsatzbekommen-Passivsatz
Jemand schimpft mit ihmMit ihm wird geschimpftEr bekommt geschimpft
Man schlägt ihm ins GesichtIhm wird ins Gesicht geschlagenEr bekommt ins Gesicht geschlagen
Man schlägt ihnEr wird geschlagen* Er bekommt geschlagen

Insgesamt darf man somit wohl sagen, dass das bekommen-Passiv eine schwierige Konstruktion ohne Informationsverlust ersetzen kann. Und überflüssig ist es schon allein deshalb nicht, weil es als Anschluss in Sätzen eingebaut werden kann, in denen ein werden-Passiv syntaktisch nicht passen würde:

Und nach allem, was man heute hier weiß und gesagt bekommt, muß man den Eindruck haben, daß dieser Start jedenfalls gelungen ist. (FKO/XGT.00000, Europa nach Nixons Besuch. Interview. SWF 1, 03.03.1969 - Transkription vereinfacht)

Im obigen Satz lässt sich ohne weitere Modifizierung anstelle des bekommen-Passivs kein werden-Passiv verwenden, denn das Subjekt des vorherigen Aktivsatzes nach allem, was man heute weiß [...] kann nicht auch als Subjekt des werden-Passiv-Satzes fungieren:

* Und nach allem, was man heute hier weiß und gesagt wird [...]

Als Subjekt des bekommen-Passivsatzes ist das aber problemlos möglich:

Und nach allem, was man heute hier weiß und gesagt bekommt [...]

Wie ist das bekommen-Passiv entstanden?

Das Vollverb bekommen, dessen übliche Verwendung der Satz Zu seinem fünfzigsten Geburtstag hat Paul einen Füller bekommen illustriert, wird mit einem Akkusativobjekt (in dem Beispielsatz: einen Füller) verwendet. Dieses Akkusativobjekt bezeichnet, was jemand nach der "Schenkaktion" (im weiten Sinne) hat. Man ist dann dazu übergegangen, auch Handlungen, die jemand für eine Person ausführt und die ihr zu Gute kommen, mit dem Verb bekommen zu verbinden. Ein Satz, in dem ein solcher Übergang deutlich wird, ist z.B. folgendes Zitat aus dem Lustspiel "Leonce und Lena" von Büchner:

Und zu diesen köstlichen Phantasien bekommt man gute Suppe, gutes Fleisch, gutes Brot und das Haar geschoren. (Zitiert nach Askedal 1984:34)

Die ursprüngliche Bedeutung von bekommen verblasst in diesen Konstruktionen; bekommen wird zum Hilfsverb. Mithilfe dieses Hilfsverbs und eines Partizips II können Sätze gebildet werden, die eine passivische Bedeutung haben. Statt Ihr wird ein Buch geschenkt kann man sagen Sie bekommt ein Buch geschenkt. Statt Ihm werden die Haare geschnitten kann man sagen Er bekommt die Haare geschnitten. Daraus erklärt sich der in Grammatiken oft verwendete Name bekommen-Passiv.

Das bekommen-Passiv (vor allem mit dem Partizip geschenkt – sozusagen als Verstärkung) ist im jetzigen Sprachgebrauch durchaus üblich (Google-Suche nach "geschenkt bekommen" im Dezember 2023: ca. 5.200.000 Treffer; DeReKo: ca. 38.000 Belege).

Bekommen-Passiv gestern und heute

Das bekommen-Passiv ist keine Neuerscheinung. Die folgenden Belege aus dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) zeigen, dass das bekommen-Passiv im 18. Jahrhundert schon sehr lebendig war und schon damals nicht nur mit dem Verb schenken verwendet wurde:

Weil Clelie bey dem Hinweggehen von dem Grafen ein halb dutzend sechzehn Groschen-Stücke geschenckt bekommen, wurde sie durch solche Freygebigkeit aufgemuntert, sowohl dem Grafen als Charmanten zu ihren Verlangen behülflich zu seyn. (Sincerus, Oesterreicherin, (Erstv. 1747), 1970)
Er aber doch, wie sie hernach erfahren, statt deren Assignaten für die Geiseln abgeschickt habe; und diese selbst versicherten bey ihrer Rückkunft, daß sie nur im ersten Anfang ein oder zweymal etwas in baarem Gelde, hernachmals aber blos Assignaten nach Metz geschickt bekommen hätten, ohnerachtet sie verschiedene male geschrieben, daß man sie damit verschonen, und sie sowol als die Stadt nicht in Gefahr setzen sollte. (Species Facti, 1795)

Übrigens, auch der Dichterfürst Goethe verschmähte das bekommen-Passiv nicht, wie man am folgenden Beispiel erkennen kann:

Philine, die eins von den Landmädchen machte und in dem Reihentanz die einzelne Stimme singen und die Verse dem Chore zubringen sollte, freute sich recht ausgelassen darauf. Übrigens ging es ihr vollkommen nach Wunsche, sie hatte ihr besonderes Zimmer, war immer um die Gräfin, die sie mit ihren Affenpossen unterhielt und dafür täglich etwas geschenkt bekam. (Goethe: "Wilhelm Meisters Lehrjahre", Hamburger Ausgabe, Band 7, S. 173)

Auch Thomas Mann verwendete es — nicht nur mit dem Verb schenken:

Ich habe es mal von einer Patientin geschenkt bekommen, einer ägyptischen Prinzessin, die uns ein Jährchen die Ehre schenkte. (T. Mann: Der Zauberberg (1. Buchausg. 1924), In: Gesammelte Werke in zwölf Bänden mit einem Ergänzungsband, Bd. 3. - Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 1960, S. 365)
Unser Freund aber hatte, zweieinhalb Monate tief in sein zweites Jahr eingerückt, von der Verwaltung einen anderen Platz zugewiesen bekommen, an einem Nachbartische, der schräg vor dem alten stand, weiter gegen die linke Verandatür, zwischen seinem ehemaligen und dem Guten Russentisch, kurzum am Tisch Settembrini's. (T. Mann: Der Zauberberg (1. Buchausg. 1924), In: Gesammelte Werke in zwölf Bänden mit einem Ergänzungsband, Bd. 3. - Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 1960, S. 588)
Bei dem Festessen von 1889, gegen Mitternacht, wird angekündigt, daß nun der Opernsänger Herr X uns das Vergnügen machen wird, die berühmteste Ballade des Meisters zum Vortrag zu bringen. Erst weiß man gar nicht, welche das ist, und bekommt zugeflüstert, es handle sich um "das hohe Lied von der sehnsüchtigen Vaterlandsliebe des Verbannten". (T. Mann: Der Zauberberg (1. Buchausg. 1924), In: Gesammelte Werke in zwölf Bänden mit einem Ergänzungsband, Bd. 9. - Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 1960, S. 821)

Heutzutage hat sich das bekommen-Passiv offenkundig sogar in seriösen, redaktionell betreuten Nachrichtentexten etabliert:

Dass die Diskussion mitten im Satz abbricht, weil jemand gerade ein echt witziges Foto geschickt bekommen hat, sind alle längst gewohnt. (Süddeutsche Zeitung, 07.01.2017, S. 25)
Crest und Apcim plädieren für ein System, bei dem die Kunden nur noch eine Art Kontoauszug für jede Aktientransaktion zugeschickt bekommen und der aufwendige Austausch der Aktienzertifikate überflüssig wird. (Frankfurter Allgemeine, 17.09.2001; London will endlich weg vom Papier)

Eine Suche im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) ergab 2023 für die Verbindung bekommen/bekam/... + geschenkt über 88.000 Treffer. Für die Verbindung bekommen/bekam/... + zugeschickt gab es ca. 14.000 Treffer und für die Verbindung bekommen/bekam/... + umgehängt immerhin noch über 3.000 Belege.

Fazit

Beim bekommen-Passiv wird, im Gegensatz zum werden-Passiv oder sein-Passiv, nicht das Akkusativkomplement des Aktivsatzes zum Subjekt des Passivsatzes, sondern das Dativkomplement. Damit ermöglicht es eine andere Sicht auf die dargestellte Sachlage.

Das bekommen-Passiv ist alles andere als ein Randphänomen, das nur in der gesprochenen Sprache oder in informellen Briefen beheimatet ist. Man verwendet es beispielsweise nicht selten anstelle der schwierigeren werden-Passiv-Konstruktion.

Der Gebrauch eines bekommen-Passivs mit Verben, die in der Aktivform kein Nomen oder Pronomen im Dativ führen können (er bekommt häufig geschimpft), gilt noch als umgangssprachlich.

Zum Gebrauch des bekommen-Passivs mit Verben, die das Gegenteil von bekommen bedeuten, siehe auch Im Bahnhof hat er seine Brieftasche gestohlen bekommen.

Weiterführende Fachliteratur: Leirbukt (1997); Wegener (1985); Askedal (1984).

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Autor(en)
Jacqueline Kubczak
Bearbeiter
Roman Schneider
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