Variabilität bezüglich mehrerer grammatischer Phänomene

Unabdingbar scheint die Unterscheidung zwischen dem Wechseln mehrerer sprachlicher Phänomene einerseits und Veränderungen, die nur ein Phänomen betreffen, andererseits. Nimmt man die erste Erscheinung, auf die Linguisten vorrangig mit Variation referieren, unter die Lupe, stößt man sogleich auf ein Paradox: Zwei oder mehr Phänomene sollen auf der einen Seite gleichwertig sein und auf der anderen Seite doch anders. Wie soll das gehen? Die entscheidende Rolle kommt hier der Bestimmung des Gemeinsamen, des Tertium Comparationis der Phänomene, die hier Vergleichsobjekte heißen sollen, zu. Alles kann an sich nämlich eine Variante von etwas anderem sein, vorausgesetzt man findet das entsprechende Tertium Comparationis. So sind auch ein Satzstrukturbaum und eine Bauzeichnung Varianten, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt „grafische Darstellung“ betrachtet. Zu einer vernünftigen Handhabe des Begriffs Variation kommt man daher nur, wenn man die Vergleichsobjekte und das Tertium Comparationis näher bestimmt.

In diesem Vorhaben soll es um grammatische Variation in der Standardsprache gehen. Als Vergleichsobjekte kommen projektspezifisch1 sprachliche Einheiten ab Morphemebene2 in Frage, die potenziell der Standardsprache angehören und sich grammatisch interpretieren lassen bzw. grammatische Unterschiede zu anderen Vergleichsobjekten aufweisen. Das Gemeinsame, das die Vergleichsobjekte erst zu Varianten macht, kann dabei sein:

  1. die Struktur und/oder Bedeutung von Syntagmen, in die die Vergleichsobjekte eingebettet erscheinen,
  2. die (text-)grammatische Funktion der Vergleichsobjekte,
  3. die grammatische Kategorisierung (das Paradigma), zu dem die Vergleichsobjekte gehören.
  4. Unter bestimmten Umständen schließlich kann es sich als berechtigt erweisen, die pragmatische Funktion der Vergleichsobjekte als das Gemeinsame hinzuzuziehen (etwa du vs. Sie als Kommunikantenpronomen in Privat- und Geschäftsbriefen).

(1) erscheint als wichtigstes Tertium Comparationis: Aus korpusbezogener Sicht wird hier die gleiche Distribution von Vergleichsobjekten bzw. der gleiche unmittelbare Kontext (Kotext) als Symptom für Variation gewertet. (2) und (3) können als logisch-grammatische Folgen bzw. Begleiterscheinungen von (1) gesehen werden, werden oben aber gesondert aufgeführt, um zu verdeutlichen, dass – eine entsprechende Annotation der Korpora vorausgesetzt – die Variationsdiagnostik auch ohne das Betrachten der Syntagmen erfolgen kann, in die die Varianten eingebettet sein können.

Ad (1):
Das Syntagma, in welches die Varianten eingebettet sind, kann aus traditioneller Sicht auf verschiedenen Ebenen der Grammatik liegen (siehe Tabelle 3 weiter unten für einige Beispiele, die aber nur die Bandbreite andeuten sollen). Der Begriff des Syntagmas ist in diesem Kontext mit dem der Konstruktion in konstruktionsgrammatischen Ansätzen vergleichbar. Auch die Variable kann auf verschiedenen Ebenen liegen. Deren Ausprägungen können Fugenelemente, Flexionsendungen, (Wortbildungs-)Morpheme, Wörter, Wortgruppen, Sätze oder größere Textbausteine sein. Auf mehreren Ebenen kann es sinnvoll erscheinen, die leere Menge (Ø) ebenfalls als Variante zu betrachten.

Ad (2):
Auch die gleiche (text-)grammatische Funktion der Vergleichsobjekte kann auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein, etwa

  • Wortbildung, z. B. Variation von Fugenelementen,
  • Satzgrammatik, z. B. Variation von Subjekten (Subjektsätze vs. (pro)nominale Subjekte vs. Subjekt-Infinitivkonstruktionen),
  • Textgrammatik, z. B. Variation von Textbausteinen (etwa mehrere Einfachsätze vs. komplexer Satz, syndetische vs. asyndetische Verknüpfung von Sätzen, finale vs. kausale Satzverknüpfung, verschiedene Realisierung der Konditionalität in komplexen Sätzen3 etc.).

Fußnote 4; Fußnote 5

Tabelle 3: Beispiele für Varianten einbettende Syntagmen auf verschiedenen Ebenen der Grammatik

Ad (3):
Das Ansetzen des Paradigmas als Tertium Comparationis für die Vergleichsobjekte ermöglicht es unter anderem, Fälle wie die folgenden zu erfassen, und zwar ohne Rücksicht auf die Syntagmen, in denen die Vergleichsobjekte direkt eingebettet sind:

  • Variation von Tempusformen (z. B. Perfekt- vs. Präteritumformen in verschiedenen Regionen),
  • Variation von Verbmodusformen (z. B. Indikativ/Konjunktiv I/Konjunktiv II in indirekter Rede in verschiedenen Textsorten),
  • Variation des Genus Verbi (z. B. Aktiv- vs. Passivformen in verschiedenen Registern, etwa in literarischen Texten und in Fachtexten).



1 Phonische Phänomene werden nicht behandelt, da sich das Projekt weitgehend auf geschriebene Sprache konzentriert (vgl. hier), grafische Erscheinungen werden im angeschlossenen IDS-Projekt „Univerbierung“ (vgl. Fiehler 2009) untersucht. [zurück]

2 Außer den typischerweise als Morpheme betrachteten Wortbildungs- und Flexionselementen (wie be- und -st in beschreibst) sollen zu dieser Einstiegsbene auch Fugenelemente (wie -s- und -e- in Schweinsbraten/Schweinebraten) zählen. [zurück]

3 Z. B. Wenn/Falls es regnet, bleiben wir zu Hause. vs. Regnet es, bleiben wir zu Hause. [zurück]

4 Hier kann man die Variable natürlich auch auf der höheren Ebene „Flexionsform“ ansetzen. [zurück]

5 Hier kann man die Variable wiederum auch als „Rektion von bewerben“ formulieren. [zurück]

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Autor(en)
Marek Konopka
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