Was ist Standarddeutsch?

Im Gegensatz zu manch naiver Vorstellung ist Standarddeutsch (die Orthografie ausgenommen) nur ansatzweise explizit normiert, insbesondere gibt es kein verbindliches Regelwerk, in dem die Grammatik des Standarddeutschen festgeschrieben wäre. Sie scheint sich mehr oder weniger ungeplant zu ergeben und ist von impliziten Normen1 durchzogen. Diese Normen bemüht man sich zwar in Büchern wie der Duden-Grammatik (Duden 2009)2 zu rekonstruieren und damit zu kodifizieren. Solche Werke können dann auch zusammen mit anderen Autoritätsinstanzen3 (z. B. Lehrern) in vielen Fragen als Orientierung dienen und ein Stück weit die Stabilität der Standardsprache fördern, aber sie wirken doch in erster Linie a posteriori und werden allem Anschein nach nur von Fachleuten ernsthaft rezipiert. Was Standarddeutsch eigentlich ist, bleibt schwer fassbar und kaum zu überblicken.

Interessanterweise können sich nichtsdestoweniger viele kompetente Benutzer des Deutschen über die standarddeutsche Grammatik unterhalten und dabei sicher sein, dass sie im Kern über dasselbe reden.4 Das scheint nicht zuletzt daran zu liegen, dass es eine Menge an grammatischen Erscheinungen gibt, hinsichtlich derer Einigkeit herrscht, dass sie zum Standarddeutschen gehören (z. B. die schwache Adjektivflexion nach bestimmtem Artikel in die grammatischen Formen). Bei einer weit geringeren Anzahl von Erscheinungen gehen die Meinungen auseinander bzw. ist man sich nicht sicher, ob sie dazu gehören oder nicht (z. B. die gleiche Adjektivflexion nach Pronominaladjektiv in ?einige grammatischen Formen). Und schließlich sind unzählige grammatische Gebilde denkbar, die man gemeinhin nicht zum Standarddeutschen zählen würde (z. B. *zahlreiche grammatischen Formen).

Standarddeutsch ist so gesehen ein reales Phänomen, das größtenteils qua unausgesprochener Konvention zustande kommt. Es wird im adäquaten Sprachgebrauch wahrgenommen und oft als konsistentes System gedacht oder zumindest als ein Inventar von Konstruktionen (evtl. einschließlich der Regeln für den adäquaten Gebrauch), das ein konsistentes System zu rekonstruieren erlaubt. Was davon aber in Wirklichkeit als greifbar übrig bleibt, ist nur der Status einzelner Erscheinungen: Zum Standarddeutschen gehört all das, was die Sprachgemeinschaft für standarddeutsch hält. Mithilfe von Urteilen kompetenter Benutzer müsste man theoretisch also mehr oder weniger genau bestimmen können, welche grammatischen Erscheinungen zum Standarddeutschen gehören und welche nicht.

Diese „saubere“ Methode, das Standarddeutsche zu fassen, mag in Untersuchungen zur Akzeptabilität von exemplarischen Konstruktionen5 etwas taugen, aber um die standarddeutsche Grammatik zu erfassen, ist sie leider aus praktischen Gründen ungeeignet, denn wie soll man an eine aussagekräftige Menge von Urteilen zu jeder einzelnen der unzähligen grammatischen Erscheinungen im Sprachgebrauch kommen? Praktikabler als die direkte Auseinandersetzung mit dem Status einzelner grammatischer Erscheinungen erscheint die anfängliche Betrachtung größerer Ausschnitte6 des Sprachgebrauchs. Die Annahme dabei lautet: Wenn solche Sprachgebrauchsausschnitte von der Sprachgemeinschaft dem Standarddeutschen zugeordnet werden, dann werden auch alle darin enthaltenen grammatischen Erscheinungen in der Regel dem Standarddeutschen zuzuordnen sein. So „erbt“ auf einmal eine ganze Reihe grammatischer Erscheinungen zumindest bis zu einer späteren Einzelüberprüfung die Statuszuordnung des Sprachgebrauchsausschnittes, in dem sie erscheinen. Das Feld der Kandidaten für die Bausteine der standardsprachlichen Grammatik wird deutlich verkleinert und dadurch handhabbar.

Wer mit Korpora arbeitet, hat in der Regel ohnehin nicht direkt mit grammatischen Erscheinungen zu tun, sondern mit meist digital gespeicherten Texten bzw. Textfragmenten (gesprochene Beiträge sind hier natürlich mit gemeint). Die Frage, ob die einzelnen Texte „Domänen des Standarddeutschen“ repräsentieren, ist aber höchstens bei kleineren Textsammlungen durch Umfragen unter kompetenten Benutzern des Deutschen, die die Texte inspiziert haben, lösbar. Sobald die Texte richtig zahlreich werden, was bei Untersuchungen, die auf das Standarddeutsche in seiner Differenziertheit abzielen, naturgemäß sehr schnell passiert, muss man nach anderen Wegen suchen, um an das in der Sprachgemeinschaft vorhandene Wissen zu kommen, was zum Standarddeutschen gehört und was nicht.


1Oft wird in diesem Kontext von Gebrauchsnormen gesprochen, vgl. z. B. Hennig/Müller 2009, S. 28, Barbour 2005, S. 325. Ammon (1995, S. 88), Barbour (2005, S. 325), Dürscheid/Elspaß/Ziegler (2011) benutzen auch den Begriff „Gebrauchsstandard“. [zurück]

2Vgl. den dort im Vorwort erhobenen Anspruch: „Die Dudengrammatik beschreibt die geschriebene und gesprochene Standardsprache der Gegenwart“. [zurück]

3Ammon spricht hier von (standard-)normsetzenden Instanzen (z. B. 2005, S. 32ff.). [zurück]

4Dazu auch Eichinger (2005b, S. 143). [zurück]

5Auch als Korrektiv in Untersuchungen zur Gradienz von Akzeptabilität bzw. Grammatikalität, z. B. Fanselow et al. 2006. [zurück]

6Der Blick wandert so von einzelnen grammatischen Formen zu größeren sprachlichen Einheiten, in welche sie eingebettet sind. Das ist auch aus einem anderen Grund zweckmäßig, denn manche Formen können zwar isoliert als standardsprachlich bewertet werden, in falschem Kontext gebraucht vielleicht aber nicht mehr standardsprachlich wirken (man vergleiche z. B. den e-Dativ in am Fuße des Berges und in ?auf freiem Fuße oder das Präteritum in Das Gericht hat für Recht erkannt, … gegenüber ?Das Gericht erkannte für Recht, … in der schriftlichen Fassung eines Urteils). [zurück]

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Autor(en)
Marek Konopka
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