Was sind standarddeutsche Texte?
Statt einzelne Texte daraufhin zu prüfen, ob sich in ihnen das Standarddeutsche manifestiert, kann man auch ganze Gruppen von Texten in Augenschein nehmen. So wie kompetente Sprachbenutzer imstande sind, einzelne Texte im Hinblick auf die Standardsprachlichkeit zu beurteilen, bringen sie auch bestimmte Texttypen eher mit standardsprachlichem Sprachgebrauch in Verbindung als andere. Das heißt wiederum, dass bei bestimmten Arten von Texten (man denke etwa an eine wissenschaftliche Abhandlung wie diese, den Feuilletonteil einer Zeitung oder ein Lexikonartikel) von vornherein ein standardsprachlicher Sprachgebrauch erwartet wird: Es ist daher davon auszugehen, dass Autoren1 solcher Texte diese fast immer in der Bemühung entwerfen, Standarddeutsch zu verwenden. „Fast immer“, weil Autoren bisweilen auch absichtlich mit der Erwartung des Standarddeutschen spielen. Überdies muss die subjektive Überzeugung, Standarddeutsch zu verwenden, natürlich auch nicht immer voll und ganz den Tatsachen entsprechen. Derartige „Abweichungen“ müssten aber als solche erkennbar sein, vorausgesetzt, man hat genug Texte des relevanten Typs betrachtet (ansonsten würde übrigens auch das Spiel mit der Erwartung des Standarddeutschen nicht funktionieren): Zahlenmäßig dürften „abweichende“ Konstruktionen gegenüber ihren standardsprachlichen Varianten in einer größeren Sammlung von Texten eines Typs, bei dem Standardsprache erwartet wird, deutlich untergehen. Spätestens hier kommt eine „statistische“ Denkweise ins Spiel, die auch die weiteren Überlegungen durchziehen soll.
Um Texttypen zu identifizieren, die Standarddeutsch erwarten lassen, braucht man nicht auf Umfragen unter kompetenten Sprachbenutzern zurückzugreifen, denn die bisherige Forschung zu ‚Standarddeutsch‘, ‚Standardsprache‘ und verwandten Begriffen liefert uns bereits genug explizite Kriterien für „standarddeutsche“ Texte bzw. Texttypen. Man kann auch annehmen, dass die Forschungsmeinungen im Allgemeinen so etwas wie die Simulation der Urteile kompetenter Sprachbenutzer über Standardzugehörigkeit anstreben.
Ammon 2005 „Standardsprache“/ “Standardvarietäten“ | Barbour 2005 „standard language“ | Barbour/ Stevenson 1998 | Bußmann 2008 | Duden 1999 | Durrel 1999 | Eichinger 2005a/b | Elspaß 2005a/b | Glinz 1980 | Jäger 1980 | Lüdtke/ Mattheier 2005 | Summe | |
geschrieben | X | X | X | X | X | X | X | X | X | 9 | ||
normiert2 | X | X | X | X | X | X | X | X | 8 | |||
(auch) gesprochen | X | X | X | X | (X) | X | X | 6 (7) | ||||
kodifiziert3 | X | X | X | X | X | X | 6 | |||||
überregional | X | X | X | X | X | X | 6 | |||||
als maßgeblich akzeptiert | X | X | X | X | 4 | |||||||
durch Medien/Behörden/Institutionen verbreitet4 | X | X | X | X | 4 | |||||||
in Schulen unterrichtet | X | X | X | X | 4 | |||||||
variierbar | X | X | X | X | 4 | |||||||
(sozial-)prestigeträchtig | X | X | X | 3 | ||||||||
offiziell/öffentlich/amtlich | X | X | X | 3 | ||||||||
von Gebildeten getragen | X | X | X | 3 | ||||||||
nicht-mundartlich | X | X | X | 3 | ||||||||
von Mittel- bzw. Oberschicht getragen | X | X | 2 | |||||||||
(historisch) legitimiert | X | X | 2 | |||||||||
allgemein verbindlich | X | X | 2 | |||||||||
nicht schichten-/ gruppenspezifisch | X | X | 2 | |||||||||
alle Register umfassend | X | 1 | ||||||||||
durch Selektion entstanden | X | 1 | ||||||||||
funktional differenziert | X | 1 | ||||||||||
mit Nation/Nationalstaat assoziiert | X | 1 |
Tabelle 1: Attribute von Standarddeutsch, Standardsprache,
Standardvarietät u. Ä. in ausgewählten Beschreibungen5
In Tabelle 1 wurden Merkmale6 zusammengetragen, die in ausgewählten Definitionen und Beschreibungen von Standarddeutsch, (der deutschen) Standardsprache, Standardvarietät u. Ä. eine besondere Rolle zu spielen scheinen (vgl. die Zusammenstellung von Zitaten im Anhang7). Am häufigsten betont wird die Eigenschaft ‚geschrieben‘ (geschriebene Sprache/Erscheinungsform der Sprache, in geschriebener Form, schriftlich, schriftliche Sprachform etc.). Damit wird aber in der Regel nicht ausgeschlossen, dass Standardsprache auch eine gesprochene Dimension hat. Die Eigenschaft ,gesprochen‘ ist nahezu genauso allgegenwärtig. Sie wird oft in einem Atemzug mit ‚geschrieben‘ genannt (in geschriebener als auch in gesprochener Form, sowohl mündlich als auch schriftlich etc.). Jedoch ist insgesamt gesehen eine stärkere Gewichtung von ‚geschrieben‘ zu verzeichnen. Sie wird nicht zuletzt in Konzeptionen deutlich, die aus dem englischsprachigen Raum stammen: So wird Standardsprache in Ausführungen Durrells (1999) u. a. mit Alphabetisierung in Verbindung gebracht und als Sprache des gesamten Schriftverkehrs bezeichnet, wogegen ein ähnlich gewichteter Hinweis auf ihre gesprochene Dimension fehlt; in der Definition von Haugen (1994, S. 4340), derer sich Elspaß (2005b, S. 64) in seinem Beitrag zur Entwicklung der Standardisierung in Deutschland bedient, wird auch nur eine einheitliche Schreibnorm als Voraussetzung für standard language genannt.8 In anderen Beiträgen wird darauf hingewiesen, dass sich Standarddeutsch zunächst als geschriebene Sprache entwickelte (z. B. Eichinger 2005b). Jäger (1980) schließlich will in seinem etwas älteren Artikel „den Terminus ‚Standardsprache‘ der geschriebenen Sprache vorbehalten“.
Man ist natürlich versucht, unter Benutzung der in der Forschungsliteratur häufig
auftretenden Attribute eine neue intensionale Definition von Standarddeutsch zu
konstruieren. Bei Berücksichtigung jener Attribute, die in Tabelle 1 viermal oder öfter
erfasst sind, könnte dann der erste Entwurf ungefähr so lauten:
Standarddeutsch ist eine vorwiegend geschriebene, aber auch
gesprochene Form des Deutschen, die normiert sowie (zumindest teilweise) kodifiziert ist und
in der es auch Raum für Variation gibt. Sie wird überregional gebraucht, ist von der
gesamten Sprachgemeinschaft als maßgeblich akzeptiert und wird durch Medien, Behörden und
Institutionen verbreitet sowie in der Schule unterrichtet.9
Uns soll es hier jedoch um etwas anderes gehen. Es gilt zu prüfen, ob sich von den mehr oder weniger konsensuellen Attributen des Standarddeutschen Charakteristika ableiten lassen, die auf Texte zutreffen müssten, bei denen Standarddeutsch zu erwarten wäre. Tabelle 2 zeigt, dass eine ganze Reihe von Attributen des Standarddeutschen sich nur auf dessen Gebrauch bzw. Normen oder Regeln im Allgemeinen bezieht und daher kaum sinnvoll auf konkrete Äußerungseinheiten wie Texte übertragen werden kann. Aber es bleiben immer noch einige Attribute, die sich gut als Charakteristika von Texten modellieren lassen. Diese in Tabelle 2 hervorgehobenen Charakteristika kann man als Ausprägungen von den dort angeführten Parametern auffassen.
Attribut der Standardsprache (hervorgehoben, wenn auf einen einzelnen Text übertragbar) | Parameter |
geschrieben | Medium (Konzeption) |
normiert | [Bezug auf Gebrauch im Allgemeinen] |
gesprochen | Medium (Konzeption) |
kodifiziert | [Bezug auf Normen bzw. Regeln im Allgemeinen] |
überregional | regionale Reichweite, Region |
als maßgeblich akzeptiert | [Bezug auf Normen bzw. Regeln im Allgemeinen, betrifft auch] regionale und soziale Reichweite |
durch Medien/Behörden/Institutionen verbreitet | Emittent |
in Schulen unterrichtet | [Bezug auf Normen bzw. Regeln im Allgemeinen] |
variierbar | [Bezug auf Gebrauch im Allgemeinen] |
(sozial-)prestigeträchtig | [Bezug auf Gebrauch im Allgemeinen] |
offiziell/öffentlich/amtlich | Situation |
von Gebildeten getragen | Bildungsgrad von typischem (1) Autor, (2) Adressat |
von Mittel- bzw. Oberschicht getragen10 | sozialer Status von typischem (1) Autor, (2) Adressat |
(historisch) legitimiert | [Bezug auf Normen bzw. Regeln im Allgemeinen] |
allgemein verbindlich | [Bezug auf Normen bzw. Regeln im Allgemeinen] |
nicht mundartlich | regionale Reichweite |
nicht schichten-/gruppenspezifisch | soziale Reichweite |
alle Register umfassend | [Bezug auf Gebrauch im Allgemeinen] |
durch Selektion entstanden | [Bezug Normen bzw. Regeln im Allgemeinen] |
funktional differenziert | [Bezug auf Gebrauch im Allgemeinen] |
funktional differenziert mit Nation/ Nationalstaat assoziiert | [Bezug auf Gebrauch im Allgemeinen] |
Tabelle 2: Attribute des Standarddeutschen und textypologische Parameter
Basierend auf den auf Texte übertragbaren Attributen könnte man jetzt wiederum eine
Definition des „standarddeutschen Texttyps“ basteln wie
Standarddeutsche Texte sind meist geschriebene, aber auch
gesprochene Texte, in denen Ausdrücke und Konstruktionen mit überregionaler Geltung
vorherrschen und in welchen mundartliche und sozialgruppenspezifische Ausdrücke und
Konstruktionen gemieden werden; standarddeutsche Texte sind typisch für offizielle Anlässe
und öffentliche Emittenten sowie für die Kommunikation unter Gebildeten und Angehörigen der
Mittel- bzw. Oberschicht.11
Zweckmäßiger erscheint hier aber der Versuch, die Liste der Parameter, die aus den ermittelten Charakteristika resultieren, durch genauere Unterkategorisierung operationalisierbar und auch für Übergangsphänomene tauglich zu machen, vergleiche dazu den folgenden Entwurf, in dem Unterkategorien hervorgehoben sind, die tendenziell Standarddeutsches erwarten lassen:
- Medium (Konzeption12): z. B. gesprochen13 (konzeptionell gesprochen), gesprochen (konzeptionell geschrieben), geschrieben14(konzeptionell gesprochen), geschrieben (konzeptionell geschrieben),
- regionale Reichweite: z. B. kleinräumig, regional15, überregional, national, übernational,
- soziale Reichweite: z. B. spezifisch für eine bestimmte soziale Schicht/Gruppe, nicht schichten-/gruppenspezifisch,
- Emittent: z. B. Privatperson, Person in öffentlicher Funktion, (juristische) Person des Privatrechts, (juristische) Person des öffentlichen Rechts (sog. öffentliche Institution),
- Situation: z. B. privat/ungezwungen, öffentlich, offiziell/amtlich,
- Bildungsgrad von typischem (1) Autor, (2) Adressat: z. B. Grundbildung, Sekundarbildung, Fachbildung, Hochschulbildung,
- sozialer Status von typischem (1) Autor, (2) Adressat: z. B. niedrig, mittel, hoch.
Was die einzelnen Parameter genauer zu bedeuten haben, muss noch diskutiert
werden. Festzuhalten bleibt zunächst, dass Texte, die das
Standarddeutsche erwarten lassen, sich in etwa unter die Kategorien der oben hervorgehobenen
Bereiche einordnen lassen müssten. Einem Attribut der Standardsprache entsprechen jetzt
meist einige feinkörnigere Kategorien für standarddeutsche Texte. Dies bildet eine bessere
Grundlage für Zuordnungsentscheidungen in Zweifelsfällen, und wird auch eher der Tatsache
gerecht, dass in der Forschung im Kontext von Standard, Substandard bzw. Nonstandard oft von
einem Kontinuum gesprochen wird (z. B. Löffler
2005, S. 21f. oder spezifischer Elspaß
2005b, S. 93f.).
1Einschließlich der Sprecher gesprochener Beiträge. [zurück]
2Hierzu wurden einfachheitshalber auch Auffassungen gezählt, in denen Standard(-sprache) mit Norm gleichgesetzt wird (z. B. Barbour 2005). [zurück]
3Hierzu wurden auch Formulierungen wie „in Grammatiken und Wörterbüchern zu finden“ (vgl. Barbour/Stevenson 1998) gezählt. [zurück]
4Hier wurden Fälle zusammengetragen, in denen Medien, Behörden und/oder Institutionen als Träger, Vermittler und Vorbilder genannt wurden. [zurück]
5Sofern in den Spaltenüberschriften kein anderer Terminus erscheint, handelt es sich um Beschreibungen von „Standardsprache“. [zurück]
6Die Diskussion, ob es sich dabei um hinreichende oder notwendige Bedingungen für die Standardsprache handelt, braucht hier nicht geführt zu werden, – dazu siehe Dovalil (2006). [zurück]
7Die Zusammenstellung im Anhang wie auch Tabelle 1 haben nur einen exemplarischen Charakter. Nichtdestoweniger ist davon auszugehen, dass sich bei einer Ausweitung der Literaturauswertung die Ergebnisse nicht grundsätzlich ändern würden. Sammlungen von Definitionen zu Standardsprache u. Ä. bieten auch Löffler (2005, S. 13ff.) und Dovalil (2006, S. 59-63). [zurück]
8Elspaß (2005b, S. 64) bemerkt dazu auch: „Dass eine Standardsprache eine Rechtlautung aufweisen muss, scheint – etwa im Vergleich mit der englischen Sprache – eine deutsche Spezielität zu sein“ und verweist auf entsprechende Literatur. [zurück]
9Die Definition könnte natürlich fast beliebig weiter verfeinert werden, was hier aber nicht zweckmäßig erscheint. [zurück]
10Solche Einschränkungen werden von einigen als sozialschichtenwertende Kriterien interpretiert. Ihre Heranziehung in Tabelle 2 wie auch weiter unten ist aber keineswegs so gemeint, sondern nur als deskriptive Wiedergabe von Meinungen anderer Forscher zu verstehen. [zurück]
11Ein Beispiel für einen Text, der dieser Spezifikation entspräche, wäre eine Mitteilung des Rats für deutsche Rechtschreibung, die ohne Bedenken beschrieben werden kann als geschrieben, überregional, weder mundartlich noch durch sozialgruppenspezifische Ausdrücke eingeschränkt, offiziell und von einer öffentlichen Institution herausgegeben sowie von Gebildeten getragen. [zurück]
12Vgl. z. B. Koch/Oesterreicher 2008. [zurück]
13Hier verwenden Koch/Oesterreicher (z. B. 2008) „phonisch“. [zurück]
14Hier verwenden Koch/Oesterreicher (z. B. 2008) „graphisch“. [zurück]
15Die Unterkategorie ‚regional‘ könnte über das zusätzliche Parameter ‚Region‘ auch weiter spezifiziert werden, z. B. norddeutsch, mitteldeutsch, süddeutsch oder westdeutsch, ostdeutsch. Auch die Unterkategorie ‚national‘ könnte natürlich ausdifferenziert werden. [zurück]