Welche Tertia Comparationis sind für den Sprachvergleich geeignet?

Eine sprachvergleichende Grammatik bedarf einer übereinzelsprachlichen Vergleichsgrundlage. Übereinstimmende Benennungen von Kategorien und Konstruktionen in den Vergleichssprachen sind kein Garant für die Übereinzelsprachlichkeit des so Benannten. Man kann also nicht davon ausgehen, dass es sich jeweils um dasselbe in verschiedenem Gewand handle, wenn in der Grammatik des Englischen wie in der des Deutschen z.B. vom Subjekt eines Satzes, einer Apposition oder einem Genitivattribut die Rede ist. Es wäre daher zu kurz gegriffen, betrachtete man ,Subjekt‘, ,Apposition‘ oder ,Genitivattribut‘ als Tertia Comparationis. Zwar muss es Gemeinsamkeiten zwischen den Sprachen geben, denn alle Sprachen erfüllen im Wesentlichen dieselbe Aufgabe. Diese besteht darin, Ausdrucksformen bereitzustellen für das, was Menschen einander kommunikativ vermitteln wollen. Die Grammatiken der Einzelsprachen stellen Lösungen für diese Aufgabe bereit, die diesen Zwecken gerecht werden. Oder anders gesagt: Die Grammatik einer Einzelsprache hat das kommunikativ zu Vermittelnde, also Bedeutung, in phonologische, morphologische und syntaktische Form umzusetzen. Die Art dieser Umsetzung, die phonologische, morphologische und syntaktische Struktur, macht das Wesen jeder Einzelsprache aus und kann zwischen den Sprachen mehr oder weniger stark differieren. Sie ist somit nicht als Tertium Comparationis geeignet, jedenfalls nicht in direktem Zugriff.

Das, was gesagt wird, sprachliche Bedeutung also, ist nun aber der strukturalistischen Konzeption zufolge eng an die Ausdrucksseite gebunden. Somit mögen sich, neben der bekannt unterschiedlichen Aufteilung von lexikalischen Feldern (wie etwa das Feld um ,Holz‘ und ,Wald‘ in europäischen Sprachen), durchaus Unterschiede in der grammatisch relevanten sprachlichen Kategorisierung von Gegenständen und Sachverhalten ergeben, die zunächst die Idee eines jeweiligen „sprachlichen Weltbildes“ nahelegen mögen. Daraus wiederum könnte folgen, dass auch die Inhaltsseite von Sprachen grundsätzlich nicht als Vergleichsgegenstand taugt. Nach dem heutigen Stand der Forschung ist es aber keineswegs ausgemacht, dass sprachliche Kategorisierung eine analoge kognitive Kategorisierung voraussetzt – oder umgekehrt gar bedingt.

Ein Beispiel in der Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich. Das Nominal ist die Verteilung von miteinander übersetzungsäquivalenten Wörtern auf unterschiedliche Substantivklassen gemäß der Dimension der Individuation: Bezeichnungen für gewisse Pflanzen(teile), die im Deutschen zu den Individuativa gehören, wie Kartoffel, Erbse, Bohne, Linse, werden im Russischen und teilweise auch im Polnischen als Kontinuativa kategorisiert. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass diese Dinge von den Sprechern jeweils „anders gesehen“ werden.

Dramatischere Unterschiede liegen beim Vergleich mit „exotischen“ Sprachen vor. So beruhen die Hypothesen von Benjamin Whorf, die zum Teil als widerlegt gelten, auf Beobachtungen an der uto-aztekischen Sprache Hopi. Ein Fall, der in jüngerer Zeit für Aufsehen sorgte, ist die in einer brasilianischen Urwaldregion gesprochene Sprache Pirahã, die dem Ethnolinguisten Daniel Everett zufolge weder Numeralia noch Farbbezeichnungen noch Nebensätze kenne. Letzteres angebliche Defizit hat zu einer Debatte um die Rekursivität als notwendige Eigenschaft menschlicher Sprache geführt.

Wesentlich für den vorliegenden Zusammenhang ist u.a., dass fehlende grammatische Kategorien, etwa ein fehlendes Tempussystem, mit lexikalischen Mitteln (z.B. zeitdeiktische wie ,gestern‘ und zeitrelationale Ausdrücke wie ,danach‘) ausgeglichen werden können. Die Frage, wie differenziert, genau und ausgreifend auch in Zukunft oder Vergangenheit solche zeitbezüglichen Angaben sind, ist für die ethnologische Anthropologie und die vergleichende Kognitionsforschung von Belang, gegebenenfalls auch für die vergleichende Lexikologie, nicht aber in grammatischem Zusammenhang.

Auch beim Vergleich europäischer Sprachen zeigen sich große Divergenzen im Ausbau des Tempus-Aspekt-Systems. So hat das Deutsche keinen grammatikalisierten Aspekt; auch hier wird gegebenenfalls auf lexikalische Mittel zurückgegriffen, etwa auf das Adverb gerade, um eine englische Progressivform wiederzugeben. Was den nominalen Bereich angeht, so zeigen sich besonders starke Unterschiede im Hinblick auf die Grammatikalisierung von Artikelsystemen. Ob damit auch Folgen für die kognitive Leistung der Identifikation von Gegenständen verbunden sind, erscheint als eher fraglich.

Vielmehr können zwischensprachliche Kategorisierungsunterschiede oder auch fehlende Ausdrucksinventare von den Sprechern unterschiedlicher Sprachen erkannt – ebenso wie vom Linguisten bei der Sprachbeschreibung – und auf eine gemeinsame Basis der Verständigung bezogen werden. Was in einer Sprache gesagt werden kann, kann aus unserer Sicht grundsätzlich auch in jeder anderen Sprache gesagt werden – wenn denn der Wortschatz in entsprechender Weise elaboriert ist oder wird. Die Vorstellung der sprachlichen Relativität, wie sie in der so genannten Sapir-Whorf-These formuliert wurde, kann allenfalls bis zu einem gewissen Grad Gültigkeit haben: Auch wo große Unterschiede in den Kategorien gegeben sind, besteht doch immerhin die Möglichkeit des Transfers, d.h. eines näherungsweisen Verständnisses, bei dem bei allen Differenzen Analogien und Ähnlichkeiten reflektierend erkannt werden.

Trabant (2000: 122) formuliert so: "Die Menschen lassen aber durch ihre geistige Tätigkeit die Einzelsprache hinter sich, sie bilden Konzepte jenseits der Einzelsprache, sie erzeugen universelles Wissen über die Welt. Die Einzelsprachen geben uns zwar die Welt auf eine bestimmte Art und Weise, wir transzendieren dieses Gegebensein aber durch unsere geistige Arbeit.“

Das heißt aber auch, dass es unverzichtbare gemeinsame Bausteine der Bedeutungsseite von Einheiten der Kommunikation geben muss, die der Erfüllung der kommunikativen Aufgaben, die sich auf verschiedenen Ebenen stellen, gerecht werden. Am augenfälligsten ist dies sicherlich dort, wo es um die Formen des sprachlichen Handelns selbst geht: Sprachen stellen Formen bereit, um Aussagen und Feststellungen zu machen, um Fragen zu stellen und Aufforderungen zu formulieren usw. Auf dieser Ebene gibt es nach König/Siemund (2007) eine große Übereinstimmung zwischen den Sprachen der Welt. Bei diesen sprachlichen Handlungen wiederum geht es in aller Regel um Sachverhalte, die mitgeteilt, erfragt oder – bei Aufforderungen zum Beispiel – herbeigeführt werden sollen. Auf diese Sachverhalte bezieht sich der propositionale Gehalt der Redeeinheiten oder, wie es in der Sprechakttheorie von Searle (1969) heißt, mit dem propositionalen Akt stellt der Sprecher in seinen Sprechhandlungen den Bezug auf die Außenwelt her. Propositionale Akte wiederum konstituieren sich aus prädikativen und referentiellen Akten. In den Redeeinheiten auf der Sprachsystemebene sind somit neben dem Sprechaktpotential auch das propositionale Potential und damit Referenzpotential und Prädikationspotential angelegt.

Auf diese funktionalen Bausteine von Redeeinheiten beziehen sich auch neuere Ansätze der sprachtypologischen Forschung; vgl. Croft (1990, 1991, 2003), Sasse (1993b), Lehmann (2013). Sie betrachten in erster Linie Referenz und Prädikation als geeignete Tertia Comparationis für den Sprachvergleich. Verglichen werden dann diejenigen Ausdrucksformen natürlicher Sprachen, die z.B. über Referenzpotential oder Prädikationspotential verfügen. Und allgemeiner gewendet, gleichsam als Zusammenfassung der vorliegenden Argumentation, wird die Position vertreten, der Sprachvergleich erfordere funktionale, nicht in erster Linie formale bzw. syntaktische Vergleichsgrößen:

"The essential problem is that languages vary in their structure to a great extent; indeed, that is what typology (and more generally linguistics) aims to study and explain. But the variation in structure makes it difficult if not impossible to use structural criteria, or only structural criteria, to identify grammatical categories across languages. Although there is some similarity in structure ("formal" properties) that may be used for cross-linguistic identification of categories, the ultimate solution is a semantic one, or to put it more generally, a functional solution." (Croft 1990: 11)

In Haspelmath (2012: 114) wird besonders auf den Status grammatischer Kategorien abgehoben, die als jeweils sprachspezifische Laut-Bedeutungs-Kombinationen keine Tertia Comparationis abgeben können:

"Clearly, then, languages cannot be compared directly on the basis of their grammatical categories. We need a tertium comparationis that is not language-particular, but is universally applicable."

"To be universally applicable, comparative concepts can be defined on the basis of meaning or sound, but not on the basis of meaning-sound combinations, because these are language­ particular."

Bei der Suche nach komparativen Konzepten auf der Bedeutungsseite allerdings konzentrieren sich viele Autoren auf den Vergleich auf der Ebene der parts of speech im Sinne von Wortklassen. Dann wird etwa herausgestellt, dass Sprachen zwar notwendigerweise über Ausdrucksformen für die Prädikation und die Referenz verfügen müssen, aber keineswegs über distinkte Wortarten, die jeweils Prädikation und Referenz leisten, also über Verben und Nomina bzw. Substantive. Weniger explizit erscheinen die Aussagen über die syntaktischen Kategorien, die jeweils referentiellen und prädikativen Ausdrücken zuzuweisen sind. So zeigt Lehmann (2013: 146-149) überzeugend, dass in zahlreichen Sprachen referentielle und prädizierende Ausdrücke ohne Rückgriff auf Stämme gebildet werden, die per se als „nominal“ oder „verbal“ kategorisiert wären. Erst das Vorkommen an einer bestimmten Stelle im Satz oder die Kombination mit einem bestimmten Klitikon markiere z.B. in der Sprache Kharia, einer Munda-Sprache (austroasiatische Sprachfamilie), einen Stamm als „verbal“ oder „nominal“ und die jeweiligen Syntagmen – wohl aufgrund von Merkmalsvererbung – als verbale oder nominale Konstruktionstypen. Man kann dies auch anders deuten: Erst eine bestimmte syntaktische Konstruktion erzeugt referentielle Ausdrücke bzw. prädikative Ausdrücke, und zwar auf der Basis von kategorial unspezifischen Stämmen. Es besteht dann keine Notwendigkeit, diese Konstruktionen jeweils als „nominal“ oder „verbal“ zu bezeichnen, wie Lehmann es tut, da dies dem Aufbau der Konstruktion, die per definitionem weder Nomen noch Verb enthält, nicht entspricht. In dieser Sehweise sind dann nicht nur die Wortarten, sondern auch die syntaktischen Kategorien nicht universal vorgegeben, sondern nur die Funktionen, die durch jeweils geeignete Konstruktionen umgesetzt werden.

Allerdings gehören die europäischen Vergleichssprachen, die in dieser Grammatik behandelt werden, zu derjenigen Klasse von Sprachen, bei der, wie Lehmann (2013: 148) formuliert, syntaktische bzw. funktionale Kategorisierung nicht erst auf der Satzebene, sondern auf einer niedrigeren Ebene antizipiert werden könne. Schon an den Wortstämmen ist erkennbar, ob es sich z.B. um Substantive oder Verben handelt. Von daher können wir auch nominale (bzw. verbale) Konstruktionen als gegeben betrachten, insbesondere die NP, deren syntaktischer und semantischer Kopf im Regelfall ein Nomen bzw. in unserer Terminologie ein Substantiv ist.

Diese Antizipierbarkeit der Funktion auf der Wortstammebene gilt in unseren Vergleichssprachen jedoch in unterschiedlichem Maße. Insbesondere im Englischen ist die Festlegung auf eine Wortart in bestimmten Bereichen weniger stark ausgeprägt, es gibt zahlreiche Stämme, die sowohl in verbaler als auch in substantivischer Funktion gebraucht werden (wie ENG hunt ,jagen; Jagd‘, rain ,regnen; Regen‘) oder auch in substantivischer und adjektivischer Funktion (wie ENG German ,Deutsche(r); deutsch‘, female ,Frau; weiblich‘, ritual ,Ritual; rituell‘), vgl. dazu → B1.1.4.2.

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Autor(en)
Gisela Zifonun
Bearbeiter
Lale Bilgili
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