Endungslose Genitive
(vgl. Konopka/Fuß 2016: 141-243)
Im Gegenwartsdeutschen können Genitive starker Nomen (Maskulina und Neutra sowie Eigennamen) unter bestimmten Umständen endungslos auftreten. Dabei handelt es sich nicht um ein gänzlich neues Phänomen. Obwohl der Wegfall der starken Genitivendung -(e)s am Nomen bereits für das Frühneuhochdeutsche gut dokumentiert ist (Wegera 1987, Ebert et al. 1993), ist das Phänomen erst im 20. Jahrhundert stärker ins Interesse der germanistischen Linguistik und Grammatikschreibung gerückt – vor allem im Zusammenhang mit der Frage, ob eine endungslose Realisierung des Genitivs der Sprachnorm entspricht. Bevor wir uns näher mit dem Stand der Forschung befassen, soll aber zunächst der Gegenstand dieser Pilotstudie näher eingegrenzt werden. Im Mittelpunkt unseres Erkenntnisinteresses stehen Fälle, in denen eindeutig eine Genitivphrase vorliegt, der Genitiv allerdings nicht sichtbar am Nomen durch eine entsprechende morphologische Markierung realisiert wird. Keine Berücksichtigung finden hingegen schwache Nomen sowie (in der Literatur häufig diskutierte) Fälle von Genitivschwund, in denen der Genitiv durch andere Kasus (insbes. Dativ) und Konstruktionstypen (insbes. präpositionale Fügungen) verdrängt wird.
Die Nullrealisierung des Genitivs ist an den syntaktischen Kontext gebunden und
kann nur erfolgen, wenn der Genitiv bereits an anderer Stelle innerhalb der Nominalphrase markiert
ist (vgl. auch die sog. „Genitivregel", Duden 4, 2009: § 1534):
(1)
- Peters Auto
- das Auto des kleinen Peter(s)
Bei dem Wegfall der starken Genitivendung handelt es sich also nicht um einen
Fall von paradigmatischem Flexionsabbau (im Gegensatz zum Abbau der Akkusativ-/Dativmarkierung bei
Personennamen wie Goethe-n, Schiller-n, Amalie-n, Grete-n), der auf einen
generellen Verlust morphologischer Kasusmarkierungen im Sinne eines Kasusschwunds zurückgeführt
werden kann. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Nomen, die aus unabhängigen Gründen keine
sichtbare Genitivmarkierung tragen (wie z.B. Fremdwörter auf -ismus) und solchen,
die im Prinzip die s-Endung tragen können, aber unter bestimmten Umständen auch
endungslos erscheinen (wie in (1)). Im Gegensatz zu anderen Teilaspekten der Genitivflexion steht
eine korpuslinguistisch fundierte Beschreibung des Wegfalls der starken Endung bislang noch
aus (Eine Ausnahme ist die Arbeit von Paulfranz (2013), der allerdings nur ein recht kleines Korpus von Zeitungstexten zugrunde liegt
(200.000 Wörter)). Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen dabei die folgenden Fragestellungen:
- Wirkungsfrage: Welche Faktoren sind nachweisbar wirksam?
- Mit welchen Substantiven bzw. Klassen von Substantiven tritt die endungslose Variante der starken Genitivmarkierung auf? Inwiefern gibt es dabei Abweichungen von gängigen Darstellungen wie dem Grammatikduden? Existieren morphosyntaktische Kontexte, die den Wegfall der Genitivendung günstig beeinflussen (vgl. Appel 1941)?
- Hierarchisierungsfrage:
- Wie lassen sich die Faktoren, die Endungslosigkeit auslösen, hierarchisieren und relativ zueinander gewichten?
- Wie lassen sich die in der Literatur gängigen (vagen) Aussagen über die Häufigkeit endungsloser Formen („regelmäßig/häufig/möglich/potentiell/selten") im Rahmen einer korpuslinguistisch fundierten Darstellung präzisieren?
- Systemfrage: Ergeben die Faktoren ein konsistentes System, und wenn ja, wie kann
man dieses modellieren?
- Wie lassen sich die relevanten Faktoren im Rahmen einer systematischen Darstellung erfassen, die sich nicht auf eine Auflistung von Einzelfällen beschränkt?
- Inwiefern lassen sich diese Faktoren auf (abstrakte) zugrundeliegende Ursachen zurückführen?
- Weitergehende Fragestellungen:
- Inwiefern kann ein korpuslinguistischer Ansatz zur Neubewertung gängiger (semipräskriptiver) Aussagen zu Standardnähe/ Akzeptabilität endungsloser Varianten (insbesondere bei niederfrequenten Phänomenen) beitragen (vgl. auch Bubenhofer et al. 2013)?
- Lassen sich in den Daten Sprachwandeltendenzen nachweisen, die zu einer Erosion der Genitivmarkierung führen (Entwicklungen bei Namen, Fremdwörtern, starken Maskulina auf /-en/ etc.)?
Die vorliegende Pilotstudie untersucht, inwiefern eine korpusbasierte
Perspektive einen Beitrag zur Schließung existierender Forschungslücken liefern kann. Eine
umfassende Bearbeitung aller offenen Fragen ist in diesem Rahmen nicht möglich und auch nicht
beabsichtigt. Gleichwohl sollen aber Wege aufgezeigt werden, wie durch den Einsatz
korpuslinguistischer Methoden die empirische Basis entsprechender Untersuchungen verbessert werden
kann und neue Grundlagen und Argumente für linguistische Schlussfolgerungen geschaffen werden
können. Wir werden uns dabei auf eine Auswahl von Themen (insbes. die Wirkungs- und
Hierarchisierungsfrage betreffend) konzentrieren, die dazu geeignet erscheinen, etwaige methodische
Probleme zu erkennen und entsprechende Lösungsstrategien zu entwickeln.