Linguistische Generalisierungen

Die folgenden Schlussfolgerungen stellen weiter gehende Generalisierungen dar. Sie bauen auf den in den Kapiteln 2.5 und 3.5 zusammengefassten Prüfungen von Hypothesen der bisherigen Forschung auf. Auf einer höheren Ebene gerät hier noch einmal die anfangs gestellte Systemfrage in den Fokus. Unsere Ausführungen dazu, wie die gesamte Markierungsvariation als konsistentes System modelliert werden kann, bietet zum Teil nichts anderes als neue, weiterführende Hypothesen, die von der zukünftigen Forschung geprüft werden können.

Die im vorhergehenden Abschnitt geschilderten methodischen Unterschiede haben zu der Entscheidung beigetragen, die Endungsvariation und die Weglassung der Endung größtenteils getrennt zu behandeln. Diese Entscheidung war aber auch durch den frühen Eindruck beeinflusst, dass gleiche Faktoren in den beiden Bereichen unterschiedliche Auswirkungen haben können1. So müssen hier verkürzt noch einmal die wichtigsten der jeweiligen Spezifika festgehalten werden, bevor gezeigt wird, wie sich die beiden Bereiche zu einem Gesamtbild ergänzen.

Das Gesamtspektrum der Variation der starken Markierung des Nomens im Genitiv Singular verteilt sich tendenziell auf zwei komplementäre Wortschatzbereiche:

  • -es (-ses)vs. -s –> Grundwortschatz bzw. integrierter Wortschatz
  • -s (-(e)ns, -’s) vs. Ø (-’)2 –> Sonderwortschatz bzw. weniger integrierter Wortschatz

Im Bereich des Grundwortschatzes fällt die Entscheidung in der Regel zwischen einer silbischen3 und einer nur konsonantischen Erweiterung des Nomens gegenüber der Nominativform. Die meist nicht intentionale Wahl ist bestimmt durch eine Tendenz zur Wortoptimierung, die zuweilen als eine Anpassung an den Erbwortschatz interpretiert werden kann. Die Variation wird dabei sowohl durch systemimmanente als auch externe Faktoren gesteuert, die in unseren Untersuchungen jeweils zwei sich gegenseitig beeinflussende Gruppen bilden, vgl.:

  1. systemimmanente Faktoren:
    1. lautliche Modalitäten
    2. prosodische Modalitäten
  1. externe Faktoren:
    1. Zugehörigkeit zum Erbwortschatz (im Weiteren kurz ‚Wortalter‘)
    2. Frequenz

Die systemimmanenten Faktoren fußen in der gesprochenen Sprache und sind damit in weitesten Sinn Sprechmodalitäten. Die lautlichen Modalitäten können stark generalisierend so aufgefasst werden, dass sie auf die Erleichterung phonetischer Realisierbarkeit bei Erhaltung der zugrunde liegenden phonemischen Struktur ausgelegt sind. Legen diese Modalitäten -es nahe, so geht es einerseits um Probleme wie Aufspaltung von Konsonantenclustern mit mehreren Obstruenten (z. B. Hauses, Giftes, Arztes ) oder Vermeidung einer Silbenkoda, in der die Sonorität zunimmt (wie in Worts), andererseits etwa darum, die konsonantische Realisierung eines r-Auslauts (wie in Tieres) oder die Stimmhaftigkeit eines plosiven Stammformauslauts (wie in Rades) zu stützen. Wenn lautliche Modalitäten den Ausschlag für -s geben, so werden meist sprechsprachlich schwer realisierbare Sequenzen (z. B. *Schnee-es) bzw. systemfremde Längungen (z. B. *Ende-es) von Vokalen unterbunden. Enden die Nomen auf Diphthonge, wird -es dann etwas wahrscheinlicher, u. a. weil sich die Gleitlaute der zweiten Diphthongteile vom prototypischen Vokal entfernen und den Konsonanten annähern. Damit wird die Absetzung der Endung -es durch eine realisierbare bzw. systemkonforme Silbengrenze prinzipiell möglich (z. B. Eies wie Eier).

Die prosodischen Modalitäten orientieren sich an der trochäischen Betonung des Wortausgangs, sind also meist darauf ausgerichtet, dass das Genitivnomen auf eine unbetonte bzw. weniger betonte Silbe ausgeht. Bei Einsilbern bedeutet dies eine Tendenz zu -es, bei Mehrsilbern zu -s, wobei letztere Tendenz – sieht man von Nomen auf eine Schwa-Silbe ab – schwächer ausfällt: Die zweisilbigen Wörter gehen zwar überwiegend, aber bei weitem nicht ausschließlich auf eine unbetonte Silbe aus (vgl. Vortrag vs. Vertrag), und bei mehr als zweisilbigen Wörtern werden Strukturen häufiger, bei denen die letzte Silbe der Nominativform nebenbetont ist (z. B. Schweinehund), was wieder die Möglichkeit eröffnet, mithilfe von -es den Trochäus zu bilden. Dass bei Nomen auf Diphthonge, wie oben vermerkt, zuweilen -es begegnet, hängt auch mit der Möglichkeit eines Trochäus zusammen.

Insgesamt ist die Endung -s häufiger, und die oben skizzierten Sprechmodalitäten können meist so aufgefasst werden, dass durch Einsatz von -es eventuell entstehenden Problemen abgeholfen wird – an einem Ende scheint also -s als Normalfall bzw. Ausgangspunkt zu stehen. Fallen Reparaturen mithilfe von -es an, sind sie offensichtlich auf die Wortoptimierung ausgerichtet. Als das prototypische Nomen des Grundwortschatzes ist das fast immer einsilbige Simplex anzusehen, und so erscheint am anderen Ende -es als die Endung, mit der das optimale Genitivnomen, ein trochäischer Zweisilber, gebildet wird. Aber die Wortoptimierung mithilfe von -es wird bei weitem nicht in allen Fällen vorgenommen, in denen sie möglich ist. Wann sie ausgelöst wird, scheinen externe Faktoren zu bestimmen

Die in unseren Untersuchungen relevanten externen Faktoren ‚Wortalter‘ und ‚Frequenz‘ sind eng miteinander verzahnt. Die Endung -es ist älter, und erscheint bei einigen hochfrequenten Erbwörtern, die dem Muster des prototypischen Nomens des Grundwortschatzes entsprechen, nahezu ausnahmslos (vgl. Mannes oder Tages). Hier kommt die konservierende Wirkung der konstant hohen Frequenz besonders zum Tragen. Von diesen Extremfällen abgesehen scheint die Kombination aus ‚Wortalter‘ und ‚Frequenz‘ flexibel zu regulieren, wie stark bzw. schwach die Integration des Nomens in den Grundwortschatz flexionsmorphologisch sichtbar gemacht wird, was sich in einer stärkeren oder schwächeren Ausprägung der Wortoptimierungstendenz äußert. Letztere kann dabei erst ab einem gewissen Alter und einer gewissen Frequenz des Nomens einsetzen. Ansonsten ist sie prinzipiell mit dem Ansteigen des Wortalters und der Frequenz korreliert.

In den Faktorengruppen i und ii scheinen auch andersartige Einflussgrößen eine Rolle zu spielen als die oben berücksichtigten. Bei den systemimmanenten Faktoren ist hier etwa an die Satzprosodie, insbesondere an den über das Nomen hinausgehenden Rhythmus zu denken, bei den externen Faktoren etwa an die Kommunikationssituation4 und die Sprecherintention, die ein Bündnis mit ‚Wortalter‘ und ‚Frequenz‘ eingehen können. Solche Faktoren wurden in der Doppelstudie nicht untersucht, und ihre Einordnung bleibt eine wichtige Aufgabe für die zukünftige Forschung.

Wie bereits in der einschlägigen Forschungsliteratur mehrfach festgestellt, ist der Wegfall der Genitivendung vor allem in „peripheren Bereichen des Wortschatzes“ (Gallmann 1996) zu beobachten. Die Nullmarkierung ist dabei entweder ausnahmslos (in der Regel) in Verbindung mit lautlichen Faktoren, z. B. bei nicht-integrierten Fremdwörter mit s-Auslaut) oder sie alterniert – bis auf wenige Ausnahmen (Personennamen und integrierte Fremdwörter auf s-Laut wie Leibnizens oder des (Omni)Busses) – mit der kurzen Genitivendung auf -s. Man kann also sagen: Während die Verfügbarkeit der beiden Leitvarianten -es und -s für die Genitivmarkierung im Bereich des Grundwortschatzes charakteristisch ist, signalisiert die Alternation zwischen -s und Nullendung Zugehörigkeit zum Sonderwortschatz. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen kann diese Distribution so gedeutet werden, dass eine Wortoptimierung in Richtung Erbwortschatz nur beim integrierten Wortschatz sinnvoll greifen kann. Im Bereich des Sonderwortschatzes erhält umgekehrt gerade die Erhaltung der Formspezifik gegenüber dem Grundwortschatz ein viel größeres Gewicht („Schonung markierter Wortkörper“, Nübling 2014): Der Wegfall der Genitivendung wird als Zeichen einer allgemein lexikalisch (Fremdwort), semantisch (Eigenname) oder morphologisch (Konversion, Abkürzung) motivierten Desintegration grammatikalisiert. Umgekehrt ist -s als Symptom für eine voranschreitende (unter Umständen auch vom Sprecher intendierte, z. B. bei der bewussten Verwendung eines Ausdrucks als Fachbegriff/Terminus Technicus) Integration zu werten (vgl. die Befunde zur Ausbreitung der s-Flexion bei geografischen Namen wie Iran und Irak). Die spezielle Funktionalität der Genitivflexive im Bereich des Sonderwortschatzes bewirkt, dass systemimmmanente Faktoren hier eine andere Wirkung entfalten als bei stark integrierten Wörtern. So löst das Vorliegen eines Stammauslauts auf Sibilant im Gegensatz zum Grundwortschatz einen Wegfall der Endung aus, weil ansonsten (durch das Anfügen von -es) eine – freilich nicht vorliegende – starke Integration angezeigt würde. Man kann also davon sprechen, dass die Signalisierung des lexikalischen Status (hinsichtlich Integration/Desintegration) im Bereich des Sonderwortschatzes einen stärkeren Einfluss auf die Endungswahl hat als Aspekte wie Ausspracheerleichterung oder morphologische Markierung des Genitivs. Marginal steht bei Eigennamen auf s-Laut noch das randständige Flexiv -ens (Kunzens) als alternative Möglichkeit zur Realisierung des Genitivs zur Verfügung; aufgrund seines markierten Status (nach Gallmann 1996: 286 handelt es sich „um einen durch Sprachpflege künstlich erhaltenen Anachronismus“) und seiner Beschränkung auf Eigennamen kann es aber als flexionsmorphologisches Mittel betrachtet werden, um gleichzeitig phonetische Realisierbarkeit zu sichern und Desintegration anzuzeigen.

Abbildung 56 stellt den Zusammenhang zwischen Integrationsgrad und Wahl der (starken) Genitivmarkierung überblicksartig dar. Dabei ist die Anordnung der Sonderwortschatzbereiche entlang der Integrations- bzw. Desintegrationslinie lediglich tentativ, da es in Einzelfällen (z. B. bei der relativen Position von Zeitangaben und Stilbezeichnungen) nicht immer ohne Weiteres möglich ist, eine eindeutige Hierarchisierung vorzunehmen (siehe unten für einige weiterführende Bemerkungen).

Integrationsgrad und Markierungsvariation

Es ist durchaus denkbar, dass die Tendenz zur Nullmarkierung im Bereich des Sonderwortschatzes noch durch weitere Faktoren befördert wird. An dieser Stelle möchten wir zwei einschlägige Vorschläge aus der Literatur – Homonymievermeidung und den Status der Monoflexion bei Personennamen – kurz diskutieren und relativ zu dem von uns angesetzten komplexen Faktor Integration/Desintegration einordnen.

Wie bereits in Kapitel 3.1.1 erwähnt, vertritt Wegener (1995: 155ff.) die Auffassung, dass der Wegfall des s-Genitivs dadurch motiviert ist, dass auf diese Weise eine Homonymie von Singular- und Pluralformen vermieden wird (des DJ-, die DJs), was dem Ausbau bzw. der Aufrechterhaltung der Numerusopposition im Bereich des Sonderwortschatzes dienlich ist. Betrachtet man die Distribution der Nullendung etwas näher, wirft dieser Ansatz allerdings eine Reihe von Fragen auf. So bleibt unklar, warum der Wegfall der Genitivendung auch in Bereichen des Sonderwortschatzes zu beobachten ist, die den Plural nicht auf -s bilden (z. B. Wochentage oder Fremdwörter auf s-Laut (Index, Bonus, Rhinozeros etc.)) oder nur selten bzw. gar nicht im Plural stehen (Eigennamen, eigennamenähnliche Ausdrücke, Abstrakta). Zumindest erscheint es wenig plausibel, dass die Aufrechterhaltung eines Numeruskonstrasts in diesen Kontexten eine ent-scheidende Rolle spielt. Darüber hinaus tritt kein analoger Wegfall der Genitivendung bei stark integrierten Wörtern auf, die den Plural auf -s bilden (die Autos, *des Auto), obwohl auch hier Genitiv Singular und Nominativ/Akkusativ Plural zusammenfallen. Es zeigt sich also, dass Wegeners Erklärungsansatz den Wegfall der Genitivmarkierung in bestimmten Bereichen des Sonderwortschatzes nicht erfassen kann und gleichzeitig falsche Prognosen für integrierte Wörter mit s-Plural macht. Zwar ist es denkbar, dass die Stärkung der Numerusopposition in einigen Teilbereichen des Sonderwortschatzes die Tendenz zur Nullmarkierung des Genitivs verstärkt, als alleinige Erklärung für den Wegfall des Genitiv-s sind Wegeners Überlegungen allerdings nicht hinreichend, da sie die zentrale Bedeutung des Faktors Integration/Desintegration ignorieren5.

Ein zweiter Aspekt, der häufig in der Literatur diskutiert wird, betrifft den Status der Genitivendung im Zusammenhang mit Elementen – insbesondere Personennamen –, die der Monoflexion unterliegen. Wie in Kapitel 3.3.1.3 erwähnt, wird dabei zumindest in der theoretischen Literatur oft angenommen, dass es sich bei dem s-Flexiv an pränominalen Personennamen nicht um ein Genitivsuffix, sondern um einen Possessivmarker (Olsen 1991, Müller 2002a) bzw. eine adjektivische Flexion (Gallmann 1996) handelt, die in postnominaler Stellung nicht li-zenziert ist. Auch wenn diese Analysen im Detail voneinander abweichen und bestimmte Aspekte nicht unproblematisch erscheinen, so können wir doch als übergreifende Gemeinsamkeit festhalten, dass Personennamen durchweg eine Sonderstellung im Flexionssystem eingeräumt wird, welche letztlich auf die spezifischen lexikalisch-semantischen Eigenschaften dieses Nomentyps zurückzuführen ist. Dieses Resultat scheint durchaus kompatibel zu sein mit der hier vertretenen Hypothese, dass die Wahl des Flexivs (bzw. sein Ausbleiben) von dem Grad der Integration eines lexikalischen Elements abhängig ist. Vor diesem Hintergrund können die speziellen (semantisch-pragmatischen) Eigenschaften von Eigennamen im Allgemeinen (und Personennamen im Besonderen) als ein möglicher Auslöser einer mangelnden Integration betrachtet werden, die sich wiederum in einem speziellen Flexionsverhalten manifestiert (dessen formale Eigenschaften durch die o.g. theoretischen Analysen beschrieben werden).

Gleichwohl ist zu konstatieren, dass bisherige Betrachtungen der Monoflexion im Bereich der Genitivmarkierung von Eigennamen noch eine Reihe von Fragen offenlassen. Diese betreffen zum einen empirische Aspekte wie die genauere Abgrenzung unterschiedlicher Typen von Eigennamen (vgl. Kapitel 3.3.1.3). Zum anderen herrscht im Zusammenhang mit dem Phänomen der Monoflexion auch keine Einigkeit hinsichtlich der anzustrebenden theoretischen Analyse. Ungeklärte Aspekte betreffen neben Fragen der theoretischen Implementierung u.a. das Verhältnis zu oberflächlich ähnlichen Phänomenen wie der stark/schwach Alternation bei Adjektiven sowie die Frage, wie der Einfluss der Stellung des Genitivattributs (pränominal vs. postnominal) auf die Flexionsei-genschaften theoretisch zu fassen ist. Weitere Forschungsdesiderata, die sich aus der vorliegenden Doppelstudie unmittelbar ergeben, betreffen die morphologische Detailanalyse der hier angesetzten Leitvarianten sowie die theoretische Modellierung des Begriffs der Integration.

Eine Frage, die wir in dieser Publikation nicht explizit aufgegriffen haben, betrifft die morphologische Analyse der overten Leitvarianten -s und -es: Handelt es sich dabei um zwei separate Allomorphe, oder ist -es synchron gesehen lediglich als eine Variante der kurzen Endung zu analysieren, die (in bestimmten Kontexten) durch Schwa-Epenthese gebildet wird? Ohne an dieser Stelle eine abschließende Antwort auf diese Frage geben zu wollen, scheint es aber einige Hinweise zu geben, die für die erste Option sprechen. So scheint die Tatsache, dass -es vor allem bei häufigen Wörtern bzw. im ererbten Wortbestand auftritt, gegen eine Analyse als phonologisch/prosodisch motivierte Schwa-Epenthese zu sprechen. Instruktiv sind auch hier Minimalpaare wie die folgenden, die zeigen, dass die Wahl bzw. Option der langen Endung nicht von der Form des Nomens abhängig ist:

  1. die Werke Peter Steins/*-es
  1. die Farbe des Steins/-es

Vor diesem Hintergrund scheint eine Analyse vielversprechender zu sein, die die lange Endung als historisch ältere Form betrachtet, die sukzessive von der kürzeren Form -s verdrängt wird. Eine detaillierte quantitative Analyse dieses diachronen Prozesses steht allerdings noch aus6

Eine weitere Frage betrifft die theoretische Analyse der Nullmarkierung des Genitivs. Eine Möglichkeit besteht darin, hier von der Affigierung eines phonetisch leeren Allomorphs der overten Genitivendungen auszugehen. Ein solcher Ansatz macht es allerdings erforderlich, dass die Kontexte, in denen das Nullmorphem verwendet wird, genau spezifiziert werden. Diese Aufgabe ist allerdings keineswegs trivial, da wie gesehen der Wegfall des Genitivs durch verschiedene, äußerst heterogene Faktoren ausgelöst wird (lexikalisch: Abkürzungen; lexikalisch+phonologisch: Fremdwörter mit s-Auslaut; syntaktisch: Monoflexion bei Eigennamen 7). Besonders problematisch sind in diesem Zusammenhang Fälle, in denen Variation zwischen Nullendung und overter Markierung vorliegt. Eine theoretische Alternative bestünde evtl. darin, den Wegfall der Genitivendung als Tilgungsprozess zu betrachten, der in bestimmten Kontexten eine redundante Kasusmarkierung eliminiert – z. B. wenn in einer Genitivphrase, deren Kopf zur Klasse der nicht-integrierten Nomen gehört, der Genitiv bereits am Artikel markiert ist (oder wenn ein s-Auslaut als hinreichende Markierung des Genitivs betrachtet wird). Diese Analyse würde das Phänomen der Monoflexion in die Nähe von Haplologie-Prozessen rücken.

Wir haben in dieser Publikation dafür argumentiert, dass die Wahl der Genitivmarkierung wesentlich vom Grad der Integration eines lexikalischen Elements abhängig ist. Eine präzise formale Charakterisierung dieser Einflussgröße steht allerdings noch aus. Dies führt dazu, dass der Grad der Integration/Desintegration bestimmter Klassen von Nomen relativ zu anderen Nomen mitunter schwer zu bestimmen ist: Während der Kontrast zwischen den gegenüberliegenden Endpunkten der Skala (Einsilber im ererbten Wortbestand vs. Abkürzungen) noch recht eindeutig ist und sich im Einzelfall auch auf der Skala benachbarte Gruppen klar voneinander abgrenzen lassen (z. B. geografische Namen vs. Personennamen), so mangelt es doch an Kriterien, um den relativen Integrationsgrad von Zeitausdrücken und Stilbezeichnungen oder – noch problematischer – einzelnen Lexemen, die der gleichen Klasse zugehörig sind, eindeutig anzugeben. Die Befunde dieser Arbeit legen nahe, dass die Einflussgröße ‚Integration’ in eine Menge zugrundeliegender (z. T. abstrakter) sprachlicher und außersprachlicher Faktoren zu dekomponieren ist, aus deren Kombination (bzw. relativer Gewichtung) sich die relative Integration eines Lexems ergibt. Aus dieser Perspektive wäre ‚Integration/Desintegration’ kein eigenständiger Faktor, sondern vielmehr ein Epiphänomen, das sich aus dem Zusammenwirken grundlegenderer Eigenschaften eines lexikalischen Elements ergibt, wobei sich letztere symptomatisch in der Wahl der Markierungsvariante manifestieren. Relevant sind hierbei die folgenden Aspekte (ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben):

  • lexikalisch: Zugehörigkeit zum Basisvokabular, Fremdwortcharakter
  • lexikalisch-semantisch: Appellativum vs. Eigenname; geografischer Name vs. Personenname etc.
  • phonologisch: Phonotaktik, Silbenzahl
  • prosodisch: trochäisches Betonungsmuster, wortübergreifende rhythmische Aspekte (u. a. Akzentverteilung in Satz und Phrase)
  • morphologisch: Komplexität des Wortes, Konversion, Verwendung nicht-integrierter (z. B. entlehnter) Bildungselemente
  • syntaktisch: Beschränkung auf bestimmte Positionen (z.B. pränominales vs. postnominales Genitivattribut), konstruktionsspezifische Eigenschaften
  • außersprachlich: Frequenz, Zugehörigkeit zu bestimmten diaphasischen (Stil, Register), diastratischen (Soziolekte) und diatopischen Varietäten (Regionalsprachen, dialektale Interferenz)

Von den genannten Punkten haben wir nur eine Teilmenge im Rahmen der vorliegenden Doppelstudie behandeln können. Dabei haben wir uns vor allem auf Faktoren konzentriert, die auf der Wortebene greifen, während andere Aspekte wie der Einfluss von wortübergreifenden Betonungsmustern und syntaktischen Eigenschaften oder die Relevanz sprachexterner Faktoren nur gestreift wurden bzw. unberücksichtigt bleiben mussten. Wir können also abschließend festhalten, dass noch genügend Raum für zukünftige Forschungen bleibt, zu denen wir hoffentlich mit der vorliegenden Arbeit einen kleinen Anstoß geliefert haben.

1So etwa führt der s-Auslaut einerseits bei heimischen Appellativa zur Endung -es, andererseits jedoch bei Wörtern, die wie schwächer integrierte Fremdwörter die Endung -es prinzipiell nicht zulassen, zur Endungslosigkeit.

2Im Weiteren werden einfachheitshalber nur die Leitvarianten -es, -s und Ø angegeben.

3Wohlgemerkt bildet die Endung -es im flektierten Nomen keine vollständige Silbe, sondern nur den Kern und die Koda der Silbe, deren Ansatz noch zur Stammform gehört.

4Dazu gehören auch Parameter wie Medium oder Register bzw. Textsorte.

5Überdies kann Wegeners Ansatz nicht erfassen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Nullmarkie-rung des Genitivs offenbar größer wird, wenn ein Ausdruck als Fachbegriff/Terminus Techni-cus verwendet wird (vgl. Kapitel 3). Auch hier scheinen verschiedenen Abstufungen der In-tegration/Desintegration von Bedeutung zu sein.

6 Vgl. aber Szczepaniak (2010), (2014) für eine Reihe relevanter Beobachtungen zur Distribution und historischen Entwicklung der -s/-es Alternation.

7Das Phänomen der Monoflexion wird oft als Resultat eines syntaktisch motivierten Flexions-klassenwechsels analysiert (vgl. z. B. Gallmann 1996); vgl. Kapitel 3.3.1.3 für einige kritische Anmerkungen.

Zum Text

Letzte Änderung
Aktionen
Seite merken
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen