Die Proposition

Fast alles, was Menschen zu sagen haben, hat in irgendeiner Weise mit Sachverhalten zu tun. Wenn eine sprachliche Intervention Aussicht auf Erfolg haben soll, muss es deshalb vor allem gelingen, die Sachverhalte klarzustellen, mit denen sie befasst ist.

Wie stellt man einen Sachverhalt klar?

Die weisen Leute von Lagoda in Swifts Gullivers Reisen wollen ganz sicher gehen und schleppen stets all ihre Sachen in Säcken mit sich herum, damit sie zeigen können, wovon sie reden. In der Tat scheint es am einfachsten zu sein, auf die Dinge zu zeigen, von denen man spricht. Aber dem Zeigen sind Grenzen gesetzt: Zeigen kann man nur auf etwas, das vorliegt, doch das ist gerade dann selten der Fall, wenn Verständigung erforderlich ist. Wenn man von etwas Sichtbarem spricht, kann man sich mit Bildern behelfen. Man sagt dann: "Das" oder "So etwas war der Fall," und zeigt das Bild vor. Dass man aber auch auf diese Weise bei der Verständigung über Sachverhalte nicht weit kommt, ist offensichtlich. Um die ganze Breite sprachlicher Verständigung zu ermöglichen, mussten deshalb Verfahren entwickelt werden, Sachverhalte sprachlich zu entwerfen.

Sprachliche Entwürfe von Sachverhalten bezeichnet man als Propositionen.

Propositionen sind oft mit Bildern verglichen worden, doch der Vergleich ist nur zum Teil geglückt. Er verdeutlicht die Art der Leistung, vermittelt jedoch einen falschen Eindruck vom Entwurfsverfahren: Propositionen verhalten sich zu den Sachverhalten, die sie entwerfen, nicht wie Bilder. Das wird deutlich, wenn man ein Bild mit einer Beschreibung des Abgebildeten vergleicht.

Ein Mann mit roter Quaste auf grüner Mütze,
rotem Schottenrock, weißen Schuhen mit schwarzen Kappen
spielt auf einem rot-weißen Dudelsack,
den er vor seinem Bauch hält.

Die Beschreibung zerlegt den Sachverhalt in Komponenten: in Gegenstand und Eigenschaft bzw. Gegenstand und Tätigkeit. Das Bild trennt nicht das Spielen vom Spieler, die Mütze von ihrer Farbe. Es kann kein Spielen darstellen ohne Spieler und keine Mütze ohne Farbe. Im Vergleich zum Bild wird deutlich: Sprachliche Entwürfe bilden nicht einfach die Struktur einer außersprachlichen Wirklichkeit ab. Sie wirken vielmehr mit ihrer Unterscheidung von Gegenstand und Eigenschaft bzw. Tätigkeit selbst strukturbildend.

Die Proposition entwirft Sachverhalte, indem sie mindestens zwei Komponenten zusammenbringt: ein Element der Charakterisierung und ein oder mehrere Elemente, mit denen Gegenstände bestimmt werden, auf welche die Charakterisierung anzuwenden ist. Das Element der Charakterisierung wird hier als Prädikat bezeichnet, die Elemente der Gegenstandsbestimmung als dessen Argumente.

Eine Proposition, die ausschließlich aus einem Prädikat und seinen Argumenten besteht, ist elementar, d. h. sie schließt nur ein, was unbedingt erforderlich ist, damit eine Proposition zustande kommen kann. Elementare Propositionen können zu komplexen Propositionen ausgebaut werden, indem bestimmte Operationen - sogenannte Propositionsspezifikationen - auf sie angewandt werden. Diese Operationen - die Zeit-, Orts- und Umstandsspezifikation - sind nicht zwingend erforderlich, um eine Proposition zu bilden. Das heißt jedoch nicht, dass sie von untergeordneter Bedeutung wären. In der praktischen Verwendung werden Propositionen oft erst durch Spezifikationen wirklich informativ.

Kenner der klassischen Grammatik werden nun die Kausalbestimmung und eine Reihe weiterer Spezifikationen vermissen, die üblicherweise in einem Zug mit den hier aufgeführten betrachtet werden. Diese Spezifikationen werden nicht unterschlagen. Sie werden aus Gründen, die in den jeweiligen Abschnitten ausgeführt werden, eigens als Geltungsspezifikationen beschrieben, weil sie nicht die Verfeinerung des Sachverhaltsentwurfs zum Gegenstand haben, sondern dem nach Maßgabe des Modus dicendi mit dem Diktum verbundenen Geltungsanspruch.

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Autor(en)
Bruno Strecker
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