Das Diktum

Die kommunikativen Ausdruckseinheiten der deutschen Sprache sind formale Gebilde. Ihre Formen bestimmt das System der syntaktischen und morphologischen Regeln des Deutschen. Schon ihre Definition stellt jedoch mehr in Rechnung als bloße Form: Nur im Hinblick auf ihre kommunikative Leistung können sie als Grundeinheiten einer grammatischen Analyse erkannt werden.

Kommunikative Ausdruckseinheiten sind verstehbar und insofern mehr als bloße Form. Ihre Struktur wird auch davon bestimmt, was mit ihnen zum Ausdruck zu bringen ist. Um auch die Strukturen kommunikativer Ausdruckseinheiten zu erfassen, die auf ihre kommunikativen Funktionen zurückzuführen sind, wird als Pendant zur Ausdruckseinheit eine semantische Grundeinheit bestimmt, die nicht von Ausdrucksmittel ausgeht, sondern von seiner Leistung oder Bedeutung.

Die Bedeutung kommunikativer Ausdruckseinheit besteht allgemein darin, dass mit ihnen etwas zum Ausdruck gebracht, eben gesagt werden kann. Etwas sagen heißt mehr, als etwas äußern. Äußern kann man Lautketten aller Art, ob damit etwas zum Ausdruck gebracht werden soll oder - wie bei einer Mikrophon-Probe - einfach nur Laute produziert werden sollen. Sagen kann man nur, was grundsätzlich verstanden werden kann, also, was mit einer kommunikativen Ausdruckseinheit nicht aber mit beliebigen Wörtern, Wortfolgen oder gar Silben zum Ausdruck gebracht werden kann.

Was mit einer kommunikativen Ausdruckseinheit - in einer spezifischen Interpretation - zum Ausdruck gebracht werden kann, eben seine Bedeutung, wird hier, um einen griffigen Namen dafür zu haben, als ihr Diktum bezeichnet.

Da die Interpretation kommunikativer Ausdruckseinheiten mehr oder weniger kontextabhängig sein kann und kommunikative Ausdruckseinheiten - kontextfrei betrachtet - oft mehrdeutig sind, können derselben kommunikativen Ausdruckseinheit, je nach Verwendungszusammenhang, verschiedene Dikta entsprechen. Was verstanden wird, muss eindeutig sein. Ist es das nicht, wird auch kein Diktum erkannt. Um Eindeutigkeit auch bei exemplarischer Verwendung kommunikativer Ausdruckseinheiten einigermaßen zu gewährleisten, muss in bestimmten Fällen ein disambiguierender Kontext hinzugedacht werden.

Von elementaren zu komplexen Formen

Um zu einer Vorstellung vom semantischen Bau von Dikta zu kommen, empfiehlt sich eine Progression von elementaren zu komplexen Formen. Eine Bestimmung elementarer Formen ist allerdings nicht ohne weiteres möglich. Dikta weisen nicht selten rekursive Strukturen auf, d.h. in der Struktur von Dikta können Einheiten auftreten, die selbst analoge Strukturen aufweisen können:

Vielleicht schleift sie uns auch diesen Mann an, mit dem sie auf einer Luftmatratze schläft, die ihr wie ein Himmelbett vorkommt .
(Torwegge, Claudia: Liebe hat ihre eigenen Gesetze, Hamburg: Martin Kelter Verlag, 1990. S. 45)

Hier finden sich zwei Rekursionsstufen: In die zentrale Struktur vielleicht schleift sie uns auch diesen Mann an ist als Bestandteil der Komponente diesen Mann die verstehbare Einheit mit dem sie auf einer Luftmatzratze schläft eingefügt, und in diese ist als Bestandteil der Ortsspezifikation auf der Luftmatratze die verstehbare Einheit die ihr wie ein Himmelbett vorkommt eingefügt.

Um nicht mit allen Problemen zugleich befasst zu werden, kann man eine Struktur zentraler semantischer Funktionen bestimmen und zunächst von der internen Komplexität der Komponenten absehen, die diese Funktionen in einem gegebenen Diktum erfüllen. Erst die Konzentration auf die zentralen semantischen Funktionen erlaubt, elementare Dikta als Ausgangspunkt einer kommunikativ-funktionalen Analyse zu bestimmen, denn elementar müssen diese nur im Hinblick auf die Erfüllung dieser Funktionen sein.

Der Mann, den wir gestern abend im Kasino sahen, als er seinen Gewinn einsteckte, kaufte sich die Villa, von der wir seit Jahren träumen, die wir aber nicht kaufen können, weil uns das nötige Kleingeld dazu fehlt.

Die Komplexität dieses Diktums ist ausschließlich auf interne Komplexität zurückzuführen, die zentrale Konfiguration hingegen ist ebenso elementar wie die folgende:

Johanna kaufte sich die Villa.

Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Dikta, mit denen Handlungen realisiert werden, die einen Sachverhaltsentwurf präsentieren. Nur am Rand berücksicht werden stark interaktionszentrierte Handlungen, wie sie mit solchen Äußerungen vorzunehmen sind:

Himmelherrgottsakrament!
Grüß Gott.
Danke.

Für eine kommunikativ-funktionale Analyse sind vor allem sachverhaltzentrierte Dikta von Interesse, nicht weil sie wichtiger wären, sondern weil nur ihre Strukturen im Hinblick auf kommunikative Funktionen zu erklären sind. Interaktionszentrierte Sätze hingegen haben einen eher holistischen Charakter.

Als Hauptkomponenten von Dikta sind zwei Einheiten zu bestimmen, die sich nicht ohne weiteres auf spezielle Ausdruckseinheiten beziehen lassen:

In beiden Fällen handelt es sich um rein theoretische Konstrukte zum Zweck der Erklärung von Satzbedeutungen, nicht um in kommunikativen Ausdruckseinheiten eindeutig isolierbare Redeteile. Was mit diesen Konstrukten erfaßt werden soll, kann am besten über eine vergleichende Betrachtung verschiedener Satzformen gezeigt werden.

Vergleichende Betrachtung

Kommunikative Ausdruckseinheiten können sich in zweierlei Hinsicht gleichen und unterscheiden. Sie können denselben Sachverhalt entwerfen, doch zu verschiedenen Handlungen zu nutzen sein, und sie können verschiedene Sachverhalte entwerfen doch zu gleichartigen Handlungen zu nutzen sein. Das zeigen die folgenden Gruppen von Beispielen:

Gleiche Proposition, jedoch anderer modus dicendi

Du erzählst eine häßliche, verschlungene, lange Geschichte.
Erzähl eine häßliche, verschlungene, lange Geschichte!
Erzählst du eine häßliche, verschlungene, lange Geschichte?
Wenn du doch eine häßliche, verschlungene, lange Geschichte erzähltest.
Du erzählest eine häßliche, verschlungene, lange Geschichte.

Gleicher Modus dicendi, jedoch verschiedene Proposition

US-Präsidenten sind in die Geschichte ebenso verwickelt wie 35 000 amerikanische Kriegsveteranen und 1500 deutsche Arbeiter; vor allem aber sieben Chemie-Firmen aus zwei Ländern.
Die lange Geschichte streift die Karriere von W., in den sechziger Jahren Geschäftsführer des Chemie-Unternehmens B.
Manchmal, wenn H. ruhig vor dem Fernseher sitzt, merkt er, daß irgendwo am Körper etwas wächst.

Mit der Feststellung, in der ersten Gruppe von Beispielen würde die gleiche Proposition, in der zweiten Gruppe jeweils der gleiche Modus dicendi zum Ausdruck gebracht, ist es natürlich nicht getan. Es bleibt zu zeigen, wie und worin sich die Gemeinsamkeit äußert, und dazu sind in beiden Fällen formale und funktionale Anzeichen zu bestimmen, die kontrollierbare Beurteilungen erlauben.

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Autor(en)
Bruno Strecker
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