2.1 Neutralisation von "A-Vokalen" versus "B-Vokalen" ([?peripher])
Das 15-fache maximale vokalische Kontrastpotenzial ist am Wortende auf maximal acht (fur etwa die Halfte der SprecherInnen nur sieben) Kontraste reduziert.
(4) | /ku/ <Kuh> |
/kni/ <Knie> | |
/f?y/ <fruh> | |
/b?/ <Bo> | |
/n?/ <nah> | |
/tso/ <Zoo> | |
/ze/ <See> | |
(/ts?/ <zah>) |
Ersetzt man die A-Vokale durch B-Vokale (also periphere durch zentralisierte Vokale), ergeben sich ungrammatische Wortformen wie in (5) veranschaulicht. Mit Sternchen markierte Formen sind keine moglichen Worter des Deutschen.
(5) | {*/k?/, */k?/, */k?/, *k?/, */ka/, */k?/, */k?/} |
Die systematische Beschrankung des Kontrastpotenzials am Wortende motiviert eine Zweiteilung aller Vokale in die Klasse der "A-Vokale", die am Wortende erlaubt sind, und die Klasse der "B-Vokale", die am Wortende nicht erlaubt sind.
(6) | A-Vokale: {/?/, /e/, /?/, /i/, /y/, /o/, /u/, (/?/)} |
B-Vokale: {/a/, /?/, /?/, /?/, /?/, /?/, /?/} |
Weitere Daten zeigen eine Beschrankung auf A-Vokale auch vor Vokal im Hiatuskontext, sowohl in betonter als auch in unbetonter Position:
(7) | a. | /?di.?/ <Dia> | b. | /pi.??no/ <Piano> |
/?e.?/ <Ehe> | /te.??t??/ <Theater> | |||
/?k??.?/ <Krahe> | /m?.?and??/ <Maander> | |||
/?b?y.?/ <Bruhe> | /dy.??d?/ <Dyade> | |||
/?h?.?/ <Hohe> | /hom?.o?p?t/ <Homoopath> | |||
/?k?.?s/ <Chaos> | /?.?id?/ <Aida> | |||
/?du.o/ <Duo> | /d?u.?id?/ <Druide> | |||
/?bo.?/ <Boa> | /klo.??k?/ <Kloake> |
Auch hier sind samtliche B-Vokale ausgeschlossen. Folgende mit Sternchen markierte Formen sind daher im Deutschen ebenfalls ausgeschlossen:
(8) | {*/?d?.?/, */?d?.? /, */?d?.?/, */?d?.?/, */?da.?/, */?d?.?/, */?d?.?/} |
Die hier gezeigten Aufhebungskontexte deuten auf die Relevanz von Silbenstruktur hin. Nimmt man an, dass Vokale gewohnlich den Nukleus einer Silbe bilden wahrend Konsonanten im Silbenrand erscheinen, ergibt sich, dass beide Aufhebungskontexte durch eine gemeinsame Eigenschaft gekennzeichnet sind: die fraglichen Silben enden immer auf einen Nukleus. Diese Generalisierung ist anhand der Silbenposition von /u/ in den prosodischen Organisationen der Worter in (9) gezeigt. (A = Ansatz, N = Nukleus, K = Koda, ? = Silbe, ? = Fu?, ?K = Kopfsilbe). Silben, die auf einen Nukleus enden, werden "offene" Silben genannt, im Gegensatz zu "geschlossenen Silben", deren letztes Phonem mit dem Silbenrand assoziiert.
Die prosodische Organisation von Wortern beruht auf der Annahme, dass morphologische Worter phonologische Worter (?) bilden, die ihrerseits als Domane fur Silbifizierung (Assoziation von Phonemen mit Silbenpositionen (? = Silbe, A = Ansatz, N = Nukleus, K = Koda) und Pedifizierung (? = Fu?) (Gruppierung von Silben in Form von Fu?en) fungieren. Jeder Fu? enthalt eine Kopfsilbe (?K), die betont wird. Die genauen Bedingungen fur die Silbifizierung und Pedifizierung, sowie die Bestimmung der Kopfkonstituenten deuten auf eine komplexe Interaktion zwischen phonologischen Markiertheits- und Treuebeschrankungen hin. Eine Studie zu Kurzwortbildungen im Deutschen veranschaulicht diese Interaktion.
Die Markiertheitsbeschrankungen, die die Neutralisation des Kontrasts in (8) bewirkt, lasst sich vorlaufig wie folgt beschreiben:
(10) Keine B-Vokale in offener Silbe.
Neben Kontexten die keine B-Vokale erlauben, finden sich auch solche, die ausschlie?lich B-Vokale aufweisen. Hierzu gehoren eine Reihe nachfolgender Konsonantenverbindungen, insbesondere solcher, die aus einem Sonoranten und einem Obstruenten bestehen, wie zum Beispiel das Cluster /nts/:
(11) | a. | /?m?nts?/ <Minze> | b. | /?p??nts/ <Prinz> |
/?m?nts?/ <Munze> | ||||
/??nts?/ <Unze> | /?k?nts/ <Kunz> | |||
/?b?nts?/ <Bonze> | ||||
/????nts?/ <Grenze> | /?l?nts/ <Lenz> | |||
/?lants?/<Lanze> | /?tants/ <Tanz> |
Ersetzt man die B-Vokale durch A-Vokale ergeben sich ungrammatische Wortformen:
(12) | {*/mints?/, */mynts?/, */munts?/, */ments?/, */monts?/, */m?nts?/, */m?nts?/, */m?nts?/} |
{*/p?ints/, */p?ynts/, */p?unts/, */p?ents/, */p?onts/, */p??nts/, */p??nts/, */p??nts/} |
Unter der Annahme, dass die fraglichen Konsonantenverbindungen notwendigerweise eine geschlossene Erstsilbe bewirken, lie?e sich die Neutralisation des Kontrasts in (12) wie folgt beschreiben:
(13) Keine A-Vokale in geschlossener Silbe.
An dieser Stelle bietet sich eine nahere Untersuchung der phonologischen Markiertheitsbeschrankungen an, um Aufschluss uber die Beschaffenheit der fraglichen Vokalklassen zu erhalten. Insbesondere geht es um die Frage, ob sich diese Klassen fundamental durch Qualitat (z. B. [?gespannt], [?ATR], [?peripher]) oder durch Quantitat (Lang- versus Kurzvokale) unterscheiden. In Anbetracht der Universalitat der phonologischen Markiertheitsbeschrankungen stellt sich die Frage nach Neutralisationserscheinungen in anderen Sprachen, die auf offene versus geschlossene Silben Bezug nehmen. Im Franzosischen etwa findet sich ein dem A- versus B-Vokale entsprechender Kontrast nur fur mittlere Vokale (siehe (14a)). In wortfinaler Position ist dieser Kontrast mit Bezug auf die Silbenstruktur neutralisiert (siehe (14b)). Fur gerundete Vokale gilt, dass in offenen Silben nur A-Vokale vorkommen wahrend fur ungerundete Vokale gilt, dass in geschlossenen Silben nur B-Vokale vorkommen. (Die franzosischen Vokale sind jeweils phonetisch transkribiert, einschlie?lich der Markierung von Dauer.)
In der Sprachwissenschaft bezeichnet der Begriff Markiertheit den Status einer Form als ungewohnlich oder schwierig im Vergleich zu einer gewohnlicheren oder einfacheren Form. Der jetzt gelaufige Gebrauch des Begriffs geht auf den Strukturalismus der Prager Schule zuruck, der auf die Charakterisierung binarer Oppositionen wie etwa stimmhaft versus stimmlos, gerundet versus ungerundet in der segmentalen Phonologie zielt. Die Vorstellung ist, dass je einer der Werte fur etwa das Merkmal [?stimmhaft] als markiert, der entgegengesetzte Wert als unmarkiert gilt. Solche Zuordnungen sind gewohnlich kontextabhangig. Hinsichtlich der Stimmhaftigkeit gilt, dass fur Obstruenten das Merkmal [-stimmlos] als unmarkiert erscheint, fur Sonoranten ist es umgekehrt.
(1) | Obstruenten: | Sonoranten: |
[-stimmhaft] -> unmarkiert | [+stimmhaft] -> unmarkiert | |
[+stimmhaft] -> markiert | [-stimmhaft] -> markiert |
Markiertheit ist letztlich biologisch (anatomisch) bedingt, wobei in der Phonologie insbesondere jene Faktoren relevant sind, die bei der Artikulation, Perzeption und lexikalischen Speicherung von Lautstruktur eine Rolle spielen. Der Begriff der Stimmhaftigkeit etwa bezeichnet aus phonetischer Sicht eine Gerauschbildung aufgrund des Schwingens der Stimmlippen, das sich bei der fur Sonoranten charakteristischen ungehindert ausstromenden Luft naturlich ergibt. Ein Aussetzen dieser Schwingungen wurde eine besondere Anstrengung (Offnung der Stimmritze) erfordern, was den markierten Status der Stimmlosigkeit fur Sonoranten erklart. Die Klasse der Obstruenten ist durch eine Verengung im Ansatzrohr definiert, der die ausstromende Luft vollig unterbricht oder derart behindert, dass Turbulenz entsteht. Hier erfordert die Erzeugung und der Erhalt der Schwingungen eine besondere Anstrengung, was den markierten Status der Stimmhaftigkeit fur Obstruenten erklart.
Markiertheit findet ihren Niederschlag im Spracherwerb (unmarkierte vor entsprechenden markierten Strukturen) wie auch in der Verteilung entsprechender Phoneme in typologischen Studien. Untersuchungen von Phoneminventaren von 317 Sprachen ergeben folgende Zahlen fur einige ausgewahlte Lautklassen (s. Maddieson 1984).
(2) | Obstruenten: | Sonoranten: | ||
Plosive: | [-stimmhaft]: 61,2 % | Nasale: | [+stimmhaft]: 93,1 % | |
[+stimmhaft]: 38,8 % | [-stimmhaft]: 6,9 % | |||
Frikativ /?/: | [-stimmhaft]: 74,1 % | Liquid /r/: | [+stimmhaft]: 97,5 % | |
Frikativ /?/: | [+stimmhaft]: 25,9 % | Liquid /r?/: | [-stimmhaft]: 2,5 % |
Die unterschiedlichen Zahlenverhaltnisse deuten darauf hin, dass stimmlose (gegenuber stimmhaften) Sonoranten starker markiert sind als stimmhafte (gegenuber stimmlosen) Obstruenten. Auch innerhalb der Klassen gibt es deutliche Unterschiede (stimmhafte Frikative scheinen seltener und somit starker markiert als stimmhafte Plosive).
Der Begriff Markiertheitsbeschrankung kann als Grammatikalisierung solcher Asymmetrien verstanden werden. So deuten die Zahlenverhaltnisse in (2) unter anderem auf die Markiertheitsbeschrankungen in (3) hin:
(3) | *{[-sonorant][+stimmhaft]} (Keine stimmhaften Obstruenten) |
*{[+sonorant][-stimmhaft]} (Keine stimmlosen Sonoranten) |
Des weiteren deuten die Zahlenverhaltnisse wie in (2) auf universell festgelegte Rangordnungen unter den Markiertheitsbeschrankungen hin. Die Ordnung in (4a) besagt, dass die Vermeidung stimmloser Sonoranten universell wichtiger ist als die Vermeidung stimmhafter Obstruenten. Die Ordnung in (4b) besagt, dass die Vermeidung stimmhafter Frikative universell wichtiger ist als die Vermeidung stimmhafter Plosive.
(4) | a. | *{[+sonorant][-stimmhaft]} | >>*{[-sonorant][+stimmhaft]} |
b. | *{[-sonorant][+kontinuant][+stimmhaft]} | >>*{[-sonorant][-kontinuant][+stimmhaft]} |
Die Rangordnung in (4b) tragt zum Beispiel den Gegebenheiten im Altenglischen Rechnung, wo stimmlose und stimmhafte Plosive kontrastieren aber Frikative stimmlos sind. (Stimmhaftigkeit in intervokalischer Umgebung kann als allophonisch betrachtet werden.) Die Ordnung ware widerlegt durch den Nachweis von Sprachen, in denen stimmlose und stimmhafte Frikative kontrastieren, aber alle Plosive stimmlos sind.
Vage definiertes und kontroverses Klassifikationsmerkmal zur Unterscheidung von Segmenten hinsichtlich artikulatorischer Eigenschaften wie Muskelspannung oder Grad der Bewegung der Artikulationsorgane (extremer versus weniger extrem), und der Starke des subglottalen Luftdrucks (Trask 1996: 352).
ATR = Advanced Tongue Root. Klassifikationsmerkmal zur Unterscheidung von Segmenten hinsichtlich der Position der Zungenwurzel. [+ATR] bezeichnet das Vorziehen der Zungenwurzel und Anheben des Zungenkorpers bei gleichzeitiger Vergro?erung des Rachenraums. [-ATR] wird auch als Retracted Tongue Root bezeichnet (Trask 1996: 39).
Klassifikationsmerkmal zur Unterscheidung von Segmenten hinsichtlich der Zungenposition, wobei [+peripher] die maximale Entfernung von einer Zentralposition bezeichnet. Das Merkmal wird auch mit Bezug auf akustische Vokaleigenschaften (d. h. Formantwerte) verwendet, wobei peripher als Antonym von zentralisiert verwendet wird (Lindau 1978).
(14) | a. | /?[o:]k/ <rauque> : | /?[?]k/ <roc> | b. | /b[o]/ <beau> | *b[?] |
?heiser` | ?Fels` | ?schon` | ||||
/?[?:]n/ <jeune> : | /?[?]n/ <jeune> | /f[?]/ <feu> | *f[?] | |||
?fasten` | ?jung` | ?Feuer` | ||||
/t[e]/ <the> : | /t[?]/ <taie> | t[?]t <tete> | *t[e]t | |||
?Tee` | ?Kopfkissenbezug` | ?Kopf` | ||||
?[?:]v? <chevre> | *?[e]v? | |||||
?Ziege` |
Diese als "Loi de Position" bekannte Neutralisation ist relevant, weil sie eindeutig auf Vokalqualitat und nicht auf Vokallange Bezug nimmt. Die relevanten phonologischen Markiertheitsbeschrankungen lassen sich wie folgt naher spezifizieren. Ein Bezug auf Vokallange ware hier sinnlos, da z. B. Vokale am Wortende im Franzosischen immer kurz gesprochen werden. (Vor der Verbindung [v?] wie in /?[?:]v?/ <chevre> wird ein Vokal im Franzosischen hingegen immer gedehnt.)
(15) | Keine (gerundeten) B-Vokale in offener Silbe (B-Vokale sind durch eine bestimmte Qualitat gekennzeichnet (z. B. [-gespannt], [-ATR], [-peripher]) |
Keine (ungerundeten) A-Vokale in geschlossener Silbe (A-Vokale sind durch eine bestimmte Qualitat gekennzeichnet (z. B. [+gespannt], [+ATR], [+peripher]) |
Dieses Beispiel verdeutlicht die Rolle des Sprachvergleichs im Projekt Wortphonologie. Es geht hier nicht primar um den Vergleich von Phoneminventaren oder phonetischen Prozessen sondern um die Bestimmung von Markiertheitsbeschrankungen um Aufschluss uber das phonologische System zu bekommen. Weitere Untersuchungen bestatigen, dass auch im Deutschen die Eigenschaften der A- versus B-Vokale einen Qualitatskontrast indizieren. Die einheitliche Beschrankung des Kontrasts auf A-Vokale in den in (9) veranschaulichten Fallen bestatigt den Bezug auf Qualitat, da der Kontrast in allen offenen Silben aufgehoben ist, unabhangig von der Vokallange. Nur die erste Fassung der Markiertheitsbeschrankung in (16) erfasst alle hier betrachteten Falle:
(16) | Fassung 1: Keine B-Vokale in offener Silbe (B-Vokale sind durch eine bestimmte Qualitat gekennzeichnet (z. B. [-gespannt], [-ATR], [-peripher]) |
Fassung 2: Keine Kurzvokale in offener Silbe |
Der Umstand, dass eine Beschreibung der fraglichen Neutralisationserscheinungen im Deutschen Bezug auf Vokalqualitat erfordert, lasst vermuten, dass Vokaldauer eine durch den jeweiligen Kontext bedingte, strikt phonetische Eigenschaft ist. Der fragliche Kontext ist wie folgt: gespannte Vokale in Kopfsilben werden gedehnt, sonst werden sie eher kurz gesprochen. Kontextuell bedingte Eigenschaften werden hier nicht symbolisch reprasentiert, sondern, wie in (17) veranschaulicht, allenfalls durch Messergebnisse angezeigt.
Die Annahme einer aktiven phonologischen Markiertheitsbeschrankung in der phonologischen Grammatik des Deutschen, derzufolge die "A-Vokale" in offenen Silben, die "B-Vokale" hingegen in geschlossenen Silben ausgeschlossen sind, wirft die Frage auf, ob diese komplementare Verteilung nicht auf Allophonie hindeutet und wie der Kontrast zwischen A- und B-Vokalen in Fallen wie Koma - Komma, Schrot - Schrott dann zu verstehen ist. Hier wird die Analyse vorgeschlagen, dass im Deutschen der Kontrast zwischen A- und B-Vokalen wichtiger ist als die Befolgung weiterer Markiertheitsbeschrankungen wie etwa das Verbot der Ambisilbizitat. Formal lasst sich eine solche Analyse durch eine spezifische Interaktion der entsprechenden Treuebeschrankung (TREUEA:B) mit den relevanten Markiertiertheitsbeschrankungen erfassen. (Dazu ausfuhrlich Raffelsiefen (2016, 2018), wo auch weitere Evidenz fur die Analyse des Kontrasts der A- versus B-Vokale als Qualitatsunterschied prasentiert wird.)