2.2 Neutralisation von hinteren und vorderen Vokalen ([±hinten])

Das fünfzehnfache maximale vokalische Kontrastpotenzial ist in diversen morphologischen Kontexten auf maximal neun (für etwa die Hälfte der SprecherInnen nur acht) Kontraste reduziert. Diese Kontexte betreffen Stammformen bestimmter Affigierungen, einschließlich der in (21) gezeigten Stämme von Pluralformen auf -er. Die fraglichen Vokale, {/i/, /ɪ/, /y/, /ʏ/, /e/, /ɛ/, /ø/, /œ/, /æ/}, sind allesamt Vorderzungenvokale und unterscheiden sich somit von den übrigen sechs Hinterzungenvokalen {/ɑ/, /a/, /u/, /ʊ/, /o/, /ɔ/}. Auch in Formantkarten sind die fraglichen Vokalklassen deutlich getrennt (vgl. die Position der Vokale in der Formantkarte [±hinten] in 3.2. (P5a)). Es zeigt sich hier zwar, dass die tiefen Vokale {/ɑ/, /a/} eher eine zentrale Position einnehmen, aber hinsichtlich der im folgenden behandelten Neutralisierungserscheinungen bilden sie eine Klasse mit den Hinterzungenvokalen.

Die systematische Beschränkung auf Vorderzungenvokale zeigt sich insbesondere in den Pluralformen in (21b), deren Basisformen Hinterzungenvokale haben. Diese Fälle zeigen zugleich, dass die fragliche Beschränkung wichtiger ist als Paradigmenuniformität.

(21)a./fiçəʀ/ <Viecher>b./dœʀfəʀ/ <Dörfer> (/dɔʀf/ <Dorf>)
/fɛldəʀ/ <Felder>/bædəʀ/ <Bäder> (/bɑd/ <Bad>)
/bɪldəʀ/ <Bilder>/vɛldəʀ/ <Wälder> (/vald/ <Wald>)
/lidəʀ/ <Lieder>/mʏndəʀ/ <Münder> (/mʊnd/) <Mund>)
/bʀɛtəʀ/ <Bretter>/byçəʀ/ <Bücher> (/bux/ <Buch>)

Die einzigen Fälle, in denen Hinterzungenvokale in Stammformen von Pluralformen auf -er erscheinen, sind die "Diphthonge" /ai/ und /ɔi/ (/vaibəʀ/ <Weiber>, /hɔizəʀ/ <Häuser>). Eine mögliche Generalisierung ist, dass die fraglichen Stammformen notwendigerweise einen Vorderzungenvokal enthalten müssen. In Fällen wie (/vaibəʀ/ <Weiber>, /hɔizəʀ/ <Häuser>) würde diese Bedingung durch den Vokal /i/ erfüllt.

Die Daten in (22) veranschaulichen einen weiteren morphologischen Kontext, Stammformen des Konjunktiv II bei starken Verben, der eine Beschränkung auf Vorderzungenvokale aufweist. Die Regelhaftigkeit dieser Beschränkung zeigt sich wieder in den in (22b) gezeigten Formen, deren Basisform einen Hinterzungenvokal enthält.

(22)a./blibə/ <bliebe>b./fløɡə/ <flöge> (/floɡ/ <flog>)
/hɪŋə/ <hinge>œsə/ <schösse> (/ʃɔs/ <schoss>)
/tʀibə/ <triebe>/zæsə/ <säße> (/zɑs/ <saß>)
/pʀizə/ <priese>/zɛŋə/ <sänge> (/zaŋ/ <sang>)
ɪsə/ <risse>/fyʀə/ <führe> (/fuʀ/ <fuhr>)

Die durch die Neutralisation der Vokalkontraste in den Stammformen in (21), (22) motivierte Zweiteilung der deutschen Vokalphoneme lässt sich zudem durch eine subphonemische Regel motivieren. Der palatale Frikativ /ç/ wird velar realisiert, wenn ein Hinterzungenvokal unmittelbar vorangeht, sonst wird er palatal realisiert. Diese Verteilung der Allophone [ç] und [x] ist in (23) veranschaulicht:

(23)/tɔ[x]təʀ/ <Tochter>/tœ[ç]təʀ/ <Töchter>
/da[x]/ <Dach>/dɛ[ç]əʀ/ <Dächer>
/gəˈmɑ[x]/ <Gemach>/gəˈmæ[ç]əʀ/ <Gemächer>
/bu[x]/ <Buch>/by[ç]əʀ/ <Bücher>
/bau[x]/ <Bauch>/bɔi[ç]ə/ <Bäuche>
/zʊ[x]t/ <Sucht>/zʏ[ç]tə/ <Süchte>

Fälle, in denen Vorder- und Hinterzungenvokale paradigmatisch alternieren, veranschaulichen zugleich Korrespondenzbeziehungen zur Ermittlung von proportionalen Oppositionspaaren (s. 2.2.1).

Hinsichtlich der Klassifizierung der einzelnen Vokalphoneme lässt sich noch feststellen, dass die Zugehörigkeit eines peripheren Vokals zur Klasse der hinteren, bzw. vorderen, Vokalklasse immer die Zugehörigkeit des entsprechenden nichtperipheren Oppositionsglieds einschließt. Das heißt, wird etwa das periphere /u/ als [+hinten] klassifiziert, so gehört auch der zentralisierte Korrespondent /ʊ/ zu der Klasse der hinteren Vokale. Das gleiche gilt auch umgekehrt: gehört etwa der nichtperiphere Vokal /ɪ/ zur Klasse der Vorderzungenvokale, dann gehört auch der entsprechende periphere Korrespondent /i/ zu dieser Klasse.

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Autor(en)
Renate Raffelsiefen
Bearbeiter
Steffen Knapp
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