2.3 Neutralisation von Vorderzungenvokalen ([±rund])

Das 15-fache maximale vokalische Kontrastpotenzial ist auch in der auf die Kopfsilbe des Fußes folgenden, unbetonten Silbe reduziert. Hier zeigt sich eine Beschränkung gegen fünf Vorderzungenvokale, einschließlich der Phonempaare {/y/, /ʏ/} und {/ø/, /œ/}, die sich jeweils nur durch das Merkmal [±peripher] unterscheiden, sowie des peripheren Vokals /æ/, dem kein zentralisiertes Oppositionsglied gegenübersteht. Während es im synchronen Vokabular des Deutschen hier einige Ausnahmen gibt (Málm/ø/ <Malmö>, Kál/ʏ/m <Kalym>, Báf/œ/g <Bafög>), zeigt sich in der in (28) veranschaulichten diachronen Stabilität des Finalakzents auf Endsilben, die solche Vokale enthalten, Evidenz für eine aktive Markiertheitsbeschränkung. In Wörtern, deren Endsilbe einen der übrigen Vokale enthält, führt die für das Deutsche charakteristische Präferenz für trochäische Füße oft zu einer Verlagerung des Wortakzents auf die nichtfinale Silbe (siehe die Beispiele in der rechten Spalte):

(28)a./meˈny/ <Menü>/kɑˈnu/ > /ˈkɑnu/ <Kanu>
/deˈby/ <Debüt>/tʀiˈko/ > /ˈtʀɪko/ <Trikot>
/eˈkʀy/ <ekrü>/ʒyˈʀi/ > /ˈʒyʀi/ <Jury>
/paʀvəˈny/ <Parvenü>/ʒiɡoˈlo/ > /ˈʒiɡoˌlo/ <Gigolo>
/bɑˈʀʏt/ <Baryt>/kɔtˈlɛt/ > /ˈkɔtlɛt/ <Kotelett>
/mɪlˈiø/ <Milieu>/kaˈfe/ > /ˈkafe/ <Kaffee>
/ɑˈdiø/ <adieu>/yˈni/ > /ˈʏni/ <uni>
/diɑˈʀø/ <Diarrhö>/katmanˈdu/ > /katˈmandu/ <Katmandu>
b./pɔʀˈtʀæ/ <Porträt>/toˈʀɑ/ > /ˈtoʀɑ/ <Thora>
/pɑˈlæ/ <Palais>/fʀɔˈte/ > /ˈfʀɔte/ <Frottee>
/boʒoˈlæ/ <Beaujolais>/ʃikoˈʀe/ > /ˈʃɪkoˌʀe/ <Chicorée>
/pɔʀtmoˈnæ/ <Portemonnaie>/pɔʀtmoˈne/ > /ˈpɔʀtmoˌne/ <Portemonnaie>

Trotz des einheitlichen Neutralisationsmusters legt das in 2.2.2 besprochene Korrespondenzverhalten nahe, dass es sich um zwei getrennte Vokalklassen handelt: zum einen die Paare {/y/, /ʏ/} und {/ø/, /œ/} in (28a) und zum anderen der Vokal /æ/ in (28b), der nur für etwa die Hälfte der SprecherInnen zum Phoneminventar gehört. Wie dort erläutert, indiziert das fragliche Korrespondenzverhalten die präferierte Zuordnung der Vokale /ɑ/ und /æ/ gegenüber dem Paar /ɑ/ - /e/. Dadurch gibt sich /æ/ als tiefer ungerundeter Vorderzungenvokal zu erkennen, der den nichttiefen gerundeten Vorderzungenvokalen {/y/, /ʏ/, /ø/, /œ/} gegenübersteht.

Diese Zweiteilung stimmt auch mit unterschiedlichen Markiertheitsbeschränkungen überein. Zum einen gelten gerundete gegenüber den ungerundeten Vorderzungenvokalen als markiert (Die Untersuchung von 317 Sprachen im Korpus UPSID (UCLA Phonological Segment Inventory Database) ergibt, dass 94 % aller Vorderzungenvokale ungerundet sind (Maddieson 1984:124).). Zum anderen gelten tiefe gegenüber nichttiefen Vorderzungenvokalen als markiert. (Hier zeigt UPSID, dass 85 % aller tiefen Vokale keine Vorderzungenvokale sind (Maddieson 1984:124).) Die fraglichen Markiertheitsbeschränkungen sind in (29) aufgeführt:

(29)*[-hinten] [+rund]Keine gerundeten Vorderzungenvokale!
*[+vorne] [+tief]Keine tiefen Vorderzungenvokale!

Die Stabilitätsmuster der Vokale in (28) ist charakteristisch für markierte Phoneme, die übereinzelsprachlich oft mit prominenten Positionen assoziiert sind. Diese Assoziation lässt sich durch Differenzierungen zwischen Treuebeschränkungen mit Bezug auf unterschiedliche Positionen und deren Rangordnung mit Markiertheitsbeschränkungen wie in (29) erfassen.

Auch für wortinitiale unbetonte Silben des Deutschen zeigt sich eine Präferenz für unmarkierte ungerundete Vorderzungenvokale, wobei aber gerundete Vokale im Gegensatz zur unbetonten Silbe innerhalb des Fußes immerhin möglich sind:

(30)G/ʏ/mnásium > G/ɪ/mnásium <Gymnasium>
s/ʏ/mpátisch > s/ɪ/mpátisch <sympathisch>
S/ʏ/stém > S/ɪ/stém <System>

Schließlich finden sich auch morphologische Kontexte, in denen sowohl die markierten runden als auch die markierten tiefen Vorderzungenvokale fehlen. Sie erscheinen nie in den Stammformen des Präteritums oder des Partizip Perfekts der starken Verben.

Das Korrespondenzverhalten von /æ/ ist bereits behandelt worden. Im folgenden Abschnitt werden kurz die Korrespondenzen der markierten gerundeten Vorderzungenvokale beschrieben.

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Autor(en)
Renate Raffelsiefen
Bearbeiter
Steffen Knapp
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