2.4 Neutralisation von Vokalhöhe ([±hoch])
Die Klasse der hohen Vokale unterscheidet sich von den nichthohen Vokalen durch ein besonderes Akzentverhalten. Die Beispiele in (33a) zeigen, dass hohe Vokale direkt vor Schwa nicht betont werden. Nichthohe Vokale in dieser Position müssen hingegen betont werden, wie die Beispiele in (33b) veranschaulichen:
(33) | a. | /ˈfe.ʀi.ən/ */fe.ˈʀi.ən/ <Ferien> | b. | /kakˈte.ə/ */ˈkak.te.ə/ <Kaktee> |
/ˈʃtɑ.tu.ə/ */ʃtɑ.ˈtu.ə/ <Statue> | /oˈbo.ə/ */ˈo.bo.ə/ <Oboe> | |||
/ˈli.by.ən/ */li.ˈby.ən/ <Libyen> | /tʀoˈfæ.ə/ */ˈtʀo.fæ.ə/ <Trophäe> |
Im Hiatuskontext sind zentralisierte Vokale systematisch ausgeschlossen. Die Akzentmuster in (33) ergeben zusammen mit den in 2.1.1 etablierten Korrespondenzen zwischen peripheren und den entsprechenden zentralisierten Oppositionsgliedern folgende Zweiteilung in hohe und nichthohe Vokale:
(34) | Hohe Vokale | Nichthohe Vokale |
/i/ - /ɪ/ | /e/ - /ɛ/ | |
/u/ - /ʊ/ | /o/ - /ɔ/ | |
/y/ - /ʏ/ | /ø/ - /œ/ | |
/ɑ/ - /a/ | ||
/æ/ |
Auch die Opposition von hohen und nichthohen Vokalen ist im Deutschen in morphologischen Kontexten aufgehoben. Die Zusammenstellung der nichttrennbaren Verbpräfixe in (35) zeigt eine Begrenzung auf Schwa und hohe Vokale.
(35) | Schwa im Präfix | Hohe Vokale |
/bə/ 'be-' | /mɪs/ 'miss-' | |
/ɡə/ 'ge-' | /hɪntəʀ/ 'hinter-' | |
/əʀ/ 'er-' | /vidəʀ/ 'wider-' | |
/fəʀ/ 'ver-' | /ʊm/ 'um-' | |
/tsəʀ/ 'zer-' | /dʊʀç/ 'durch-' | |
/ənt/ 'ent-' | /ʊntəʀ/ 'unter-' | |
/ybəʀ/ 'über-' |
Beide Gegenbeispiele mit mittleren Vokalen, die nichttrennbaren Präfixe voll- und ob-, sind unproduktiv und kommen nur in wenigen, teils veralteten Verben vor (obsíegen, oblíegen, obwálten, vollzíehen, vollbríngen, vollstrécken). Die sehr zahlreichen Verben mit nichttrennbaren Präfixen mit hohen Vokalen lassen sich anhand folgender Beispiele veranschaulichen: missfállen, missbráuchen, widerlégen, widerspréchen, hinterfrágen, hintergéhen, umármen, umklámmern, durchscháuen, durchdríngen, unterlássen, unterschlágen, überlégen, überráschen.
Die Beobachtung, dass die Neutralisation in den nichttrennbaren Präfixen hohe Vokale begünstigt, im Gegensatz zu der in (25) veranschaulichten Präferenz für tiefe Vokale in unbetonten wortinitialen Silben, ist prosodisch bedingt. Letztere Fälle wie z. B. die wortinitiale Silbe in Schlamassel, betreffen Silben innerhalb des phonologischen Worts: hier sind tiefe Vokale am wenigsten markiert. Nichttrennbare Präfixe hingegen sind nicht in das phonologische Wort des Stamms integriert, bilden aber auch kein eigenes phonologisches Wort. Die prosodische Konstituente dieser Präfixe hängt von ihrer jeweiligen Segmentstruktur ab: die Schwa-Präfixe und auch /mɪs/ und /ʊm/ bilden nur eine Silbe aber keinen Fuß, die mehrsilbigen Präfixe hingegen bilden einen trochäischen Fuß. Die jeweilige Präfixkonstituente (Silbe oder Fuß) bildet zusammen mit dem nachfolgenden phonologischen Wort des Stamms eine komplexe phonologische Konstituente. Für Morpheme, die nicht von einem phonologischen Wort dominiert sind, gelten hohe Vokale und Schwa als maximal unmarkiert.