2.1.1 Korrespondenzen ([±peripher])

Die in 2.1 betrachteten Neutralisationserscheinungen motivieren die Klassifizierung der Vokalphoneme in zwei Klassen, hier A-Vokale versus B-Vokale genannt. Eine Untersuchung der relevanten Markiertheitsbeschränkungen motiviert weiterhin eine Analyse der fraglichen Klassen mit Bezug auf Qualität, und nicht die Annahme eines Quantitätskontrasts. Es stellt sich nun die Frage, auf welcher Basis sich die einzelnen Oppositionsglieder einander zuordnen lassen. Aus phonologischer Sicht wären hier Verletzungen von Korrespondenzbeschränkungen zu nennen, die systematische Alternationen zur Folge haben. Derlei Korrespondenzbeschränkungen betreffen sowohl Laute in paradigmatisch verwandten Wörtern als auch Laute in bestimmten syntagmatischen Kontexten.

Das Beispiel in (18) zeigt eine Verletzung einer Korrespondenzbeschränkung in paradigmatisch verwandten Wörtern, wobei ein B-Vokal mit einem A-Vokal alterniert. Die Alternation deutet auf die oben erwähnten Markiertheitsbeschränkungen hin (s. (10) Keine B-Vokale in offener Silbe, (13) Keine A-Vokale in geschlossener Silbe). Die Silbe, die den B-Vokal einschließt, ist notwendigerweise geschlossen, da sie unbetont ist und auf einen Obstruenten endet (s. (18a)). (Zur Relevanz von Betontheit in diesem Kontext, s. Raffelsiefen 2018.) Die Silbe, die den A-Vokal einschließt, ist offen, da die darauffolgende Silbe betont ist und der auf den A-Vokal folgende Einzelkonsonant in diesem Fall als ausschließlicher Ansatz organisiert wird (siehe (18b)).

(18) a. und b.

Der Vorschlag, die resultierende Alternation in (18) als Evidenz für eine Korrespondenzbeziehung zwischen dem B-Vokal /ɛ/ und dem A-Vokal /e/ zu werten, ist auf zwei Annahmen gestützt. Eine Annahme betrifft die Korrespondenzbeschränkung, die für paradigmatisch verwandte Wörter eine vollständige Übereinstimmung lautlicher Struktur auf der phonemischen Ebene verlangt. (Derlei Korrespondenzbeschränkungen sind als Paradigmenuniformitätsbedingungen bekannt. Wichtig ist hier die Referenz auf die phonemische Ebene.) In dem Beispiel in (18) erfüllen sämtliche Phoneme der jeweiligen Stämme, bis auf die Vokale der Nebensilbe, die hier geforderte Identität. Die zweite Annahme betrifft ein Grundprinzip der Optimalitätstheorie, dass Beschränkungsverletzungen immer minimal sind. Minimalität bedeutet hier, dass die Korrespondenz nur soweit verletzt wird, wie durch den jeweiligen Kontext gefordert. In dem Beispiel in (18) betreffen diese Kontexte die Silbenstruktur. Zu erwarten ist, dass sich Vokale innerhalb eines Paradigmas wie in (18) nur in soweit voneinander unterscheiden, wie es die unterschiedliche Silbenstruktur (geschlossen versus offen) verlangt. Auf diese Weise ergibt sich aufgrund der Wortpaare in (18) die Zuordnung der Vokale /ɛ/ - /e/.

Weitere Beispiele sind in (19) aufgeführt, wobei die entsprechenden Korrespondenzen in der rechten Spalte zusammengestellt sind. Relevante Fälle sind eher rar im Deutschen, da aufgrund sprachhistorischer Prozesse Vollvokale in unbetonten Silben innerhalb des Fußes meist zu Schwa reduziert wurden. Beispiele mit Vollvokalen in unbetonten Silben wie in Tíb[ɛ]t sind synchron daher gewöhnlich nur in Namen und Lehnwörtern zu finden. Für die ohnehin nicht frequenten gerundeten Vorderzungenvokale lassen sich keine entsprechenden Wörter finden. Die konstruierten Bildungen in (19b) legen dennoch nahe, dass /œ/ mit /ø/ und /ʏ/ mit /y/ korrespondiert. (Idealerweise sollten die fraglichen Korrespondenzen anhand von Experimenten mit SprecherInnen überprüft werden, die mit den relevanten Schreib- und Lesekonventionen nicht vertraut sind.)

(19) Korrespondenzen zwischen Vokalen, die sich nur durch unterschiedliche Werte für das Merkmal [±peripher] unterscheiden

a./ˈtotɛm/ <Totem> - /toteˈmɪsmʊs/ <Totemismus>/ɛ/ - /e/
/ˈiɑkɔp/ <Jakob> - /iɑkobˈinəʀ/ <Jakobiner>/ɔ/ - /o/
/ˈlɪmɪt/ <Limit> - /limiˈtiʀən/ <limitieren>/ɪ/ - /i/
/ˈçeʀʊp/ <Cherub> - /çeruˈbinɪʃ/ <cherubinisch>/ʊ/ - /u/
/ˈbalzam/ <Balsam> - /balzɑˈmiʀən/ <balsamieren>/a/ - /ɑ/
b./ˈbɑfœk/ <Bafög> - ??/bɑføˈɡiʀən/ <bafögieren>/œ/ - /ø/
/ˈkɑlʏm/ <Kalym> - ??/kɑlyˈmiʀən/ <kalymieren>/ʏ/ - /y/

Die in (19) gezeigten Korrespondenzen veranschaulichen eine phonologisch begründete proportionale Opposition. Für solche Oppositionen wird ein konsistentes phonetisches Korrelat erwartet, d.h. eine einheitliche phonetische Eigenschaft, die sämtliche Phonempaare unterscheidet.

Syntagmatische Korrespondenzbeziehungen finden sich z. B. in Assonanz- oder Reimmustern in der Dichtung, wo durch Lautkorrespondenzen Kohäsion hergestellt werden soll. Auch hier wird die Zuordnung von Oppositionsgliedern durch spezifische Abweichungen von vollständiger Phonemidentität gestützt. So finden sich etwa in Brentanos Gedicht Romanzen vom Rosenkranze folgende Fälle von Assonanz, die die Zuordnung der Vokale in (19) bestätigen.

Korrespondenzen zwischen Vokalen, die sich nur durch unterschiedliche Werte für das Merkmal [±peripher] unterscheiden

/ˈbɛstəʀ/ <bester> - /ˈlebən/ <leben>/ɛ/ - /e/
/ˈɡɔldəs/ <Goldes> - /ˈtoʀə/ <Tore>/ɔ/ - /o/
/ˈlɪndə/ <Linde> - /ˈtsiən/ <ziehen>/ɪ/ - /i/
ʊntəʀ/ <unter> - /ˈɡʀubə/ <Grube>/ʊ/ - /u/
/ˈɡlantsə/ <Glanze> - /ˈʃtʀɑlən/ <strahlen>/a/ - /ɑ/
/ˈzʏndə/ <Sünde> - /ˈvylən/ <wühlen>/ʏ/ - /y/

Assonanzpaare wie Messer - Tränen könnten überdies die Korrespondenz /æ/ - /ɛ/ als Teil der proportionalen Opposition indizieren, vorausgesetzt, dass die Vokale /æ/ - /e/ in der Sprache des Dichters kontrastieren (vgl. /tse/ <Zeh> - /tsæ/ <zäh>). Alternativ käme auch eine Analyse von /æ/ als einem isolierten A-Vokal in Betracht, d. h. ein A-Vokal ohne Korrespondenzbeziehung zu einem B-Vokal. Die akustische Studie zu den phonetischen Korrelaten der hier ermittelten Phonemkorrespondenzen stützt die Wahl des Merkmals [±peripher] zur Klassifikation der A- versus B-Vokale (s. 3.1. Phonetische Korrelate ([±peripher])).

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Autor(en)
Renate Raffelsiefen
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Steffen Knapp
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