2.2.2 Markiertheitsverhältnisse unter hinteren Vokalen

Für die sechs Hinterzungenvokale ergibt sich aufgrund verschiedener Beschränkungen eine Zweiteilung in die beiden Vokale {/ɑ/, /a/} einerseits und die vier Vokale {/u/, /ʊ/, /o/, /ɔ/} andererseits. Evidenz für eine solche Zweiteilung findet sich in dem in (25) veranschaulichten Lautwandel in wortinitialen unbetonten Silben. Obwohl die hier gezeigten Änderungen nur sporadisch auftreten, zeigt sich doch die Generalisierung, dass nichttiefe Vokale in dieser Position durch {/ɑ/, /a/} ersetzt werden, nicht umgekehrt. (Die einzige Ausnahme ist das Wort Tornister, das wohl auf ostmitteldeutsch Tanister (vgl. tschechisch tanistra, griechisch kánistron) zurückgeht. Der Wechsel von /a/ zu /ɔʀ/ lässt nach Kluge 1989 auf eine hyperkorrekte Umbildung schließen, da der umgekehrte Wechsel von /ɔʀ/ zu /a/ charakteristisch für das Ostmitteldeutsche ist (vgl. Hornisse > ostmitteldeutsch Hanisse).

(25)Jiddisch schlimássel> Schl/ɑ/mássel <Schlamassel>
Jiddisch melóche> M/ɑ/lóche <Maloche>
Jiddisch kessówim> K/a/ssíber <Kassiber>
Mittelhochdeutsch lekrítze> L/ɑ/krítze <Lakritze>
Mittelhochdeutsch kretschéme> K/ɑ/schémme <Kaschemme>
Mittelhochdeutsch reubarber ~ rebarbe> Rh/ɑ/bárber <Rhabarber>
Mittelhochdeutsch kestigen> k/a/stéien <kasteien>
Mittelhochdeutsch kestene> k/a/stánie <Kastanie>
Frühneuhochdeutsch hólla> h/a/lló <Hallo>
Schlesisch holomken> H/ɑ/lúnke <Halunke>
Ostmitteldeutsch holunke> H/ɑ/lúnke
Tschechisch kolésa> K/ɑ/lésche <Kalesche>
Niederländisch gordijn> G/a/rdíne <Gardine>

Da es sich um einen nicht-assimilatorischen Lautwandel handelt, lässt die hier gezeigte Beschränkung auf die maximale Unmarkiertheit von {/ɑ/, /a/} in dem fraglichen prosodischen Kontext schließen. Bei dem Kontext handelt es sich um eine unbetonte Silbe außerhalb des Fußes, aber innerhalb des phonologischen Wortes (vgl. etwa die Erstsilbe /dʀu/ in /dʀuidə/ in der prosodischen Organisation in (17)). In diesem Kontext gelten die bekannten Präferenzen für möglichst sonore Nuklei, d. h. Nuklei, die durch einen möglichst offenen Vokal besetzt sind. Dies deutet auf die Klassifizierung der Vokale {/ɑ/, /a/} als [+tief] hin, im Gegensatz zu den Vokalen {/u/, /ʊ/, /o/, /ɔ/}, die [-tief] sind. Hieraus ergeben sich weitere Markiertheitsbeschränkungen für das Merkmal [±rund]. Typologische Studien zeigen, dass tiefe Vokale, insbesondere solche, die phonetisch eher zentral sind wie Deutsch {/ɑ/, /a/}, gewöhnlich ungerundet sind. Nichttiefe hintere Vokale hingegen sind gewöhnlich gerundet. Für die deutschen Hinterzungenvokale ergibt sich aufgrund der in (25) veranschaulichten Beschränkung sowie universeller Markiertheitsregeln somit die folgende Klassifikation:

(26){/ɑ/, /a/}[+tief] [-rund]
{/u/, /ʊ/, /o/, /ɔ/}[-tief] [+rund]

Eine Bestätigung der in (26) gezeigten Klassifikation zeigt sich in Neutralisationsmustern. Die dissimilatorische Markiertheitsbeschränkung *V[+rund]V[+rund] (Keine Sequenzen von runden Vokalen) ist auch im Deutschen aktiv und führt zu einer Lücke in der Verteilung von Vokalen. Gegenbeispiele weisen gewöhnlich eine interne Morphemgrenze auf (s. (27a)); Kombinationen von runden und nichtrunden Hinterzungenvokalen finden sich hingegen auch morphemintern (s. (27b)).

(27)a.Fl/u+ɔ/r]N-MASK <Fluor> (vgl. Tum+ɔr]N-MASC, Liqu+ɔr]N-MASC)
Vak/u+ʊ/m]N-NEUT <Vakuum> (vgl. Zentr+um]N-NEUT, Publik+um]N-NEUT)
Z/o+o/loge]N-MASK <Zoologe> (vgl. Japan+olog+e]N-MASK, Dialekt+olog+e]N-MASK)
b.Ch/ɑɔ/s <Chaos>, B/oɑ/ <Boa>, /ɑɔ/rta <Aorta>, /oɑ/se <Oase>, T/ɑo/ismus <Taoismus>
Marih/uɑ/na <Marihuana>, T/uɑ/reg <Tuareg>, R/ua/nda <Ruanda>, S/au/di <Saudi>

Auch das in (24) gezeigte Korrespondenzverhalten bestätigt die Klassifikation in (26). Die nichttiefen runden Hinterzungenvokale {/u/, /ʊ/, /o/, /ɔ/} haben nichttiefe runde Korrespondenten unter den Vorderzungenvokalen (s. (24a)). Für die tiefen ungerundeten Hinterzungenvokale {/ɑ/, /a/} zeigt das Korrespondenzverhalten einen signifikanten Zusammenhang mit dem Phoneminventar. Für SprecherInnen, die die Vokale in /tse/ <Zeh> - /tsæ/ <zäh> kontrastieren, korrespondiert der Hinterzungenvokal /ɑ/ regelmäßig mit /æ/. Eine Korrespondenz /ɑ/ - /e/ besteht nur für diejenigen SprecherInnen, die /tse/ <Zeh> - /tsæ/ <zäh> nicht kontrastieren, sondern beide Wörter identisch als /tse/ repräsentieren. Dies deutet daraufhin, dass die Korrespondenz /ɑ/ - /e/ eine bestimmte Lösung eines Konflikts darstellt, die auf dem Fehlen eines geeigneten tiefen Vorderzungenvokals im Inventar beruht. Hier wird der "nächstbeste" Vokal gewählt, der zumindest hinsichtlich der Merkmale [±peripher] und [±rund] perfekt korrespondiert und zudem auch [-hoch] ist. Das Ergebnis ist dann die Korrespondenz /ɑ/ - /e/ (siehe (24b)). Für den zentralisierten Vokal /a/ ist diese Lösung für alle SprecherInnen die nächstliegende, womit sich die Korrespondenz /a/ - /ɛ/ ergibt (siehe (24b)). (Aufgrund dieser beiden Abweichungen hinsichtlich der Vokalhöhe fehlt das Attribut "nur" in der Überschrift der Korrespondenzen in 24 (vgl. (19) und (20)).

Für die Klassifikation in (26) finden sich schließlich auch phonetische Korrelate. Der in (26) postulierte Höhenunterschied zwischen {/ɑ/, /a/} und {/u/, /ʊ/, /o/, /ɔ/} ist anhand der Formantkarte leicht nachzuvollziehen. Hinsichtlich des Merkmals [±rund] ergeben sich zwar keine klaren akustischen Korrelate aber der fragliche Unterschied ist artikulatorisch (gerundete versus nichtgerundete Lippen) umso leichter nachzuvollziehen.

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Autor(en)
Renate Raffelsiefen
Bearbeiter
Steffen Knapp
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