Entscheidungsbaum Teil A: Erstglied mit auslautendem Konsonant


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Abbildung 2: Entscheidungsbaum Teil A (konsonantisch auslautendes Erstglied)

Zahlenwerte in Klammern: Anzahl korrekt und falsch vorausgesagte Komposita, Summenangabe zusätzlich mit prozentualem Anteil der korrekt vorausgesagten Komposita.

Zunächst zu den Voraussagen, die für konsonantisch auslautende Erstglieder getroffen werden können (vgl. Teil A des Entscheidungsbaums in Abbildung 2). Der relevante Teil unseres Modells spricht zunächst deutlich gegen eine „auf den ersten Blick fast regellos wirkende Vielfalt“ (Ortner u. a. 1991, S. 68), da allein aufgrund der Erstglied-Endung, d.h. aufgrund der „Wortausgänge“ (Augst 1975, S. 85), direkte und recht zuverlässige Voraussagen für das Auftreten von vier unterschiedlichen Fugenelementen (inkl. Null-Fuge) getroffen werden können.1

Mit anderen Worten: Unser Modell benötigt für konsonantisch auslautende Ersteinheiten lediglich eine Spezifizierung der Erstgliedendung, um vorherzusagen, ob eine nen-, en-, s- oder Null-Fuge auftritt (vgl. dazu den Ausschnitt A1 des Entscheidungsbaums in Abbildung 3).


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Abbildung 3: Entscheidungsbaum Teil A1

Wenn das Erstglied auf -in, -essin oder -nerin endet, tritt, was aufgrund existierender Hypothesen in der Sekundärliteratur nicht überrascht, in ca. 70 % aller berücksichtigter Fälle das Element ‚nen’ in der Fuge entsprechender Komposita auf, z.B. Lehrerinnenverband, Prinzessinnenkleid, Wöchnerinnenstation. Es handelt sich in diesen Fällen prinzipiell um eine en-Fuge; da der letzte Konsonant des Erstgliedstamms (‚n‘) bei der Kompositabildung verdoppelt wird2, erfasst unser Modell das zwischen Erst- und Zweitglied auftretende Element allerdings als ‚nen’.

Besonders aussagekräftig ist die Vorhersage dieser nen-Fuge (bzw. dieses modellinhärenten Spezialfalls der en-Fuge) für Erstglieder mit dem Ableitungssuffix -in, mit dem ausschließlich Feminina gebildet werden (vgl. Altmann 2011, S. 90). Als mögliche Basen gelten Nomina, die Lebewesen bezeichnen. Da es sich auch bei den in unserem Modell enthaltenen Erstgliedern auf -essin und -nerin durchweg um Feminina handelt, die semantisch gesehen zur Bezeichnung von Lebewesen dienen, kann die folgende Regel formuliert werden:

nen-Fuge für feminine Nomen auf -in, -essin oder -nerin, die Lebewesen bezeichnen (korrekt: 280; falsch: 118; Abdeckung: 0,07%) 3

Diese Voraussage deckt sich prinzipiell mit Thesen aus der Sekundärliteratur, so z.B. mit einem Teilergebnis von Ortner u. a. zum Auftreten der en-Fuge: „Immer steht die Fuge nur bei Feminina auf -in (Lehrerinnenmentalität)“ (Ortner u. a. 1991, S. 94).

Eine en-Fuge (ohne Verdopplung des letzten Erstglied-Konsonanten) kann in unserem Modell mit 94-prozentiger Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden. Diese Prognose basiert auf einer (Teil)datenmenge von 2025 Komposita mit 130 unterschiedlichen Erstgliedern. Betrachtet man von den Endungen, über die diese Gruppe definiert ist, nur die, zu denen es mindestens 50 Erstglieder gibt – -ent (Konsumenteninformation), -ist (Touristenattraktion) -ant (Gratulantenschar; Repräsentantenhaus), -(at)or (Donatorenliste) – sind hier klare Regularitäten erkennbar: Alle genannten Endungen sind Ableitungssuffixe, die zur Bildung maskuliner Nomina dienen und lateinischen oder griechischen Ursprungs sind.

en-Fuge für maskuline Nomina auf -ent, -ist, -ant, -or oder -(at)or (korrekt: 2025; falsch: 124; Abdeckung: 0,5%) 4

Ausschlaggebend scheinen innerhalb dieser Gruppe aber weniger die konkreten Ableitungssuffixe als das maskuline Genus bzw. das Flexionsparadigma der suffigierten Erstglieder zu sein: Es handelt sich bei den entsprechenden Erstgliedern aus unserem Modell überwiegend um schwach flektierende Maskulina (-en im Genitiv Singular und im Nominativ Plural), die zudem über die Gemeinsamkeit ‚Bezeichnung von Personen‘ verfügen, so dass eine eindeutige Übereinstimmung mit Lohde besteht: „Nach einigen Maskulina (im Genitiv Singular/Plural -en), die Personen […] benennen, wird -en gesetzt. Hierher gehören auch Nomen mit Fremdsuffixen (v.a. -ant, -ent, -ist und -or)“5 (Lohde 2006, S. 24).

Aufgrund der Erstgliedendung am sichersten vorhersagbar sind die s-Fuge (ca. 98% der Fälle) und die Null-Fuge (ca. 96% der Fälle). Zur Voraussage beider Fugen definiert unser Modell jeweils eine sehr große Gruppe verschiedener Erstgliedendungen. Hier stellt sich die Frage, ob für diese beiden Großgruppen tatsächlich gemeinsame abstrakte Merkmale gefunden und somit Regeln modelliert werden können, oder ob keine Systematik erkennbar ist und der Aspekt der Konvention somit den Ausschlag für die Wahl des Fugenelements zu geben scheint.

Zunächst zu den Erstgliedern, für die unser Modell eine s-Fuge voraussagt und die durch das Vorliegen von 52.600 entsprechenden Komposita innerhalb des hier beschriebenen Baumausschnittes die größte Gruppe bilden6: Hier ist insofern eine klare Systematik erkennbar, als dass der Großteil der enthaltenen Ableitungssuffixe zur Bildung femininer Nomina dient, z.B. -ung (Regierungschef) -ion (Koalitionsvertrag), -keit (Abhängigkeitsbericht), -schaft (Gesellschaftstanz, Gemeinschaftserlebnis, Gewerkschaftsmitglied), -heit (Hoheitsgebiet, Sicherheitsbericht, Weisheitszahn). Nur vier Ableitungssuffixe weichen von dieser Systematik ab, da sie zur Bildung maskuliner Nomina dienen: -ling7 , -at, -tum, -eur. Da der Großteil der Suffixe aus der hier thematisierten Gruppe jedoch über das gemeinsame Merkmal ‚dient zur Bildung femininer Nomen‘ verbunden ist, kann nicht von einer regellosen, möglicherweise nur auf sprachlichen Konventionen basierenden Verteilung ausgegangen werden, auch wenn aufgrund der angeführten Abweichungen auf der anderen Seite auch nicht von einer 100-prozentigen Regelhaftigkeit gesprochen werden kann:

s-Fuge für feminine Nomen auf -ung, -ion, -keit, -heit oder -schaft (korrekt: 52600; falsch: 1184; Abdeckung: 12,9%)

Diese Beobachtung ist in ähnlicher Form auch in der Sekundärliteratur verbreitet. Es herrscht ein Konsens darüber, dass die unparadigmische s-Fuge „regelmäßig nach Suffixen, die feminine Nomen bilden (-heit, -ion, -ität, -ung)“ (Duden 2005, S. 723), auftritt.8

Für das Auftreten der s- und der en-Fuge (ohne Verdopplung des letzten Erstglied-Konsonanten) können also recht eindeutige, deutlich voneinander abgrenzbare Bedingungen formuliert werden (feminine suffigierte Nomen vs. maskuline suffigierte Nomen als Erstglied).

Diese Systematik verliert jedoch an Klarheit und Überzeugungskraft, wenn man die Vorhersagen betrachtet, die unser Modell für das Auftreten einer Null-Fuge trifft. Für die Gruppe von Erstgliedendungen, über die der Ast ‚führt zu einer Null-Fuge‘ definiert ist, kann keine eindeutige Regel formuliert werden: Die Gruppe enthält Ableitungssuffixe, mit denen Adjektive gebildet werden (-al, Regionalliga), Ableitungssuffixe, mit denen feminine Nomen gebildet werden (-ik, Anglistikprofessor) sowie Ableitungssuffixe, mit denen maskuline Nomen gebildet werden (-ier, Agrarierpartei). Eine Abgrenzung zwischen Null- und s-Fuge bzw. en-Fuge kann also nicht durch eine abstrakte grammatische Beschreibung der entsprechenden Ableitungssuffixe, sondern im Zweifelsfall nur durch die Anführung der konkreten Erstgliedendungen erfolgen. Es handelt sich dabei um eine Beobachtung, die deutlich macht, dass die Wahl des Fugenelements – bei aller bisher im Entscheidungsbaum nachgewiesenen Regelhaftigkeit – nicht in allen Fällen durch linguistische Regeln erklärbar bzw. vorhersagbar ist.

Auffallend ist jedoch, dass etwa ein Drittel der Komposita mit Null-Fuge, im Gegensatz zu den anderen Gruppen des hier beschriebenen Baumausschnittes, adjektivische und adverbiale Erstglieder aufweisen (z.B. sozial). Daher könnte man aufgrund unseres Modells zumindest postulieren, dass die Null-Fuge tendenziell bei der Integration adjektivischer oder adverbialer suffigierter Erstglieder in ein Kompositum auftritt:

Null-Fuge (tendenziell) für adjektivische oder adverbiale Erstglieder (Abdeckung: ~1,4%9)

In jedem Fall tritt die Null-Fuge innerhalb der Gruppe der Komposita mit suffigiertem Erstglied deutlich seltener auf als die s-Fuge (17.467 vs. 52.600 Komposita). Da nominale Komposita mit adjektivischer Ersteinheit insgesamt deutlich seltener sind als solche mit nominaler Ersteinheit (Lohde 2006, S. 68), scheint die Postulierung einer Tendenz adjektivischer Erstglieder zur Null-Fuge nicht unplausibel. Auch in der Sekundärliteratur wird davon ausgegangen, dass Adjektive bei der Erstgliedbildung im Normalfall ihre Grundform beibehalten (vgl. z.B. Ortner u. a. 1991, S. 57; Fuhrhop 1996, S. 529; Fleischer/Barz 1995, S. 138).

Unter Bezugnahme auf Nübling/Szczepaniak (2011, S. 57) könnte die quantitative Dominanz der s-Fuge über die Null-Fuge innerhalb des hier betrachteten Baumausschnittes der suffigierten Erstglieder damit erklärbar sein, dass „derivationelle Komplexität […] oft schlechte phonologische Wörter [generiert], die dann umso eher verfugt werden. […] Besonders schlechte phonologische Wörter werden im Deutschen bereits zuverlässig s-verfugt […]“.

Sehr eindeutig vorhersagbar ist die Null-Fuge außerdem für Erstglieder mit dem Ableitungssuffix -er, das vor allem zur Bildung maskuliner Nomina dient, z.B. Siegerehrung, Bürgerinitiative, Anführerrolle, Ausländerbehörde. Hinsichtlich seiner grammatischen Eigenschaften (Bildung maskuliner Nomina) stimmt -er mit den zu einer en-Fuge führenden Suffixen (-ent, -ist, -ant, -or oder -(at)or) überein, so dass die Null-Fuge auch in diesem Fall nur über die konkrete Erstgliedendung, und nicht über abstrakte Suffixeigenschaften, vorhergesagt werden kann:

Null-Fuge für Erstglieder mit dem Ableitungssuffix -er10 (korrekt: 12871; falsch: 169; 3,2%)

Im Vorhergegangenen wurden Fälle skizziert, in denen allein aufgrund der Erstgliedendung unmittelbar auf die Ausformung der Kompositionsfuge geschlossen werden kann.11 Die Endung des Erstglieds bildet innerhalb unseres Entscheidungsbaums demnach ein sehr mächtiges Kriterium, oder, unter Einnahme einer anderen Perspektive: Für Erstglieder, die in CELEX als suffigiert ausgezeichnet sind, ermöglicht unser Modell recht eindeutige Voraussagen, die ohne komplexe Verkettungen von Kriterien auskommen. Somit bestätigt unsere statistische Herangehensweise die These, dass „die ausgeprägtesten – wenngleich nicht absolut geltenden – Regelungen […] sich in Abhängigkeit von bestimmten Suffixen [finden]“ (Fleischer/Barz 1995, S. 139).12


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Abbildung 4: Entscheidungsbaum Teil A2

Etwas komplexer gestalten sich die Vorhersagen unseres Modells für konsonantisch auslautende Erstglieder, die laut CELEX kein Suffix enthalten (vgl. dazu den Ausschnitt A2 des Entscheidungsbaums in Abbildung 4). Die entsprechenden Ersteinheiten müssen in Bezug auf ein weiteres Merkmal, die phonetische Umschrift der letzten Erstgliedsilbe, spezifiziert werden, damit Aussagen über die auftretende Kompositionsfuge getroffen werden können. Im Folgenden wird jedoch noch deutlich werden, dass sich für die im Modell jeweils gruppierten Letztsilben so gut wie keine abstrakten phonologischen Gemeinsamkeiten erkennen lassen, so dass zur Erschließung der Gruppensystematik – sofern vorhanden – auf andere Merkmale zurückgegriffen werden muss.13

Die in CELEX nicht-suffigierten Komposita, für die eine e-, er- oder es-Fuge vorausgesagt wird, weisen jeweils nur zehn bis zwölf unterschiedliche Erstglieder auf. Betrachtet man die entsprechenden Gruppen genauer, ist außerdem auffällig, dass die Letztsilben, über die die Gruppen bestimmt sind, fast ausschließlich jeweils nur innerhalb eines Erstglieds auftreten. Beispielsweise kommt die Silbe trƐŋk nur mit dem Erstglied Getränk vor (Getränkemarkt). Da weder zwischen den entsprechenden Letztsilben noch zwischen den entsprechenden Erstgliedern abstrakte Gemeinsamkeiten vorliegen, scheint die Voraussage einer e-, er- oder es-Fuge innerhalb unseres Modells weniger mit den Eigenschaften der letzten Erstgliedsilbe als mit einem konkreten Erstgliedlexem zusammenzuhängen. Die Wirksamkeit solcher lexikalischer Konventionen ist besonders im Fall von einsilbigen Erstgliedern wie z.B. Freund augenfällig, da hier durch die Angabe der Letztsilbe frɔʏnt das gesamte Erstgliedlexem abgebildet wird (es-Fuge: Freundeskreis)14 . Die Tatsache, dass die Erstglieder der Komposita mit e-, er- oder es-Fuge überwiegend einsilbig sind und durch die Angabe der Letztsilben somit überwiegend eine Abbildung des gesamten Erstglieds erfolgt, liefert positive Evidenz für die Wirksamkeit idiosynkratischer lexikalischer Konventionen an dieser Stelle im Entscheidungsbaum.15

Für das Auftreten von s-, Null- und en-Fuge werden in unserem Modell jeweils Gruppen mit einer deutlich höheren Anzahl unterschiedlicher Erstglieder (ca. 60-2200) definiert. Zudem finden sich die Letztsilben, über die die Gruppen bestimmt sind, nicht durchgängig nur in einem einzelnen Erstglied, sondern treten (zumindest zum Teil) innerhalb einer Vielzahl unterschiedlicher Erstglieder auf. Allgemein lassen sich für die Gruppe der Komposita, für die im Entscheidungsbaum eine s-, Null- oder en-Fuge vorhergesagt wird, eher Regularitäten – wenn auch keine phonologisch motivierten – erkennen als für das Auftreten von e-, er- oder es-Fuge.

Betrachtet man die in CELEX nicht-suffigierten Erstglieder mit s-Fugen-Voraussage, können, zumindest tendenziell, zwei linguistische Regeln formuliert werden. Erstens scheint ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer s-Fuge und dem Flexionsparadigma des Erstglieds zu bestehen, da ‚s‘ für die Mehrheit der enthaltenen Erstglieder paradigmisch ist, z.B. Vereinsheim, Geschäftsbereich, Kriegsende:

(1) s-Fuge (tendenziell) für nicht-suffigierte Erstglieder, für die die s-Fuge paradigmisch ist 16

Jedoch trifft diese abstrakte Beschreibung nicht auf alle Erstglieder zu, für die in diesem Baumausschnitt eine s-Fuge vorausgesagt wird. Beispielsweise handelt es sich beim Erstglied Weihnacht, das in unseren Daten in 508 Komposita vorkommt, um eine sehr frequente Ausnahme im Sinne einer Bildung, die von der in (1) formulierten Eigenschaft nicht erfasst wird, aber dennoch mit einer s-Fuge auftritt.

Unter Berücksichtigung der Beobachtung, dass die Gruppe der suffixlosen Komposita mit s-Fuge fast ausschließlich mehrsilbige und/oder derivationell komplexe Erstglieder aufweist 17 (z.B. Arbeitskampf, Lebensweise, Abzugsabkommen, Vereinsheim), lässt sich zudem die folgende Regel ansetzen:

(2) s-Fuge (tendenziell) für nicht-suffigierte Erstglieder, die mehrsilbig und/oder derivationell komplex sind (für 1 und 2 zusammen gilt: korrekt: 32310; falsch: 6219; Abdeckung: 7,9%)

Durch die in (2) formulierte Regel bestätigt sich einerseits die vorherrschende Meinung, dass die s-Fuge „bevorzugt nach mehrsilbigen [Erstgliedern]“ (Fuhrhop 1996, S. 537) auftritt. Andererseits liefert (2) positive Evidenz für die in Verbindung mit suffigierten Erstgliedern bereits angeführte These vom Zusammenhang zwischen s-Fuge und derivationell komplexen Erstgliedern bzw. zwischen s-Fuge und schlechten phonologischen Wörtern (Nübling/Szczepaniak 2011, S. 57).

Unser Modell bestätigt an dieser Stelle im Baum allerdings nicht, dass vor allem mehrsilbige Nomen, die auf -t enden (vgl. z.B. Fuhrhop 1996, S. 537) im Kompositum eine s-Fuge nehmen, auch wenn der Entscheidungsbaum entsprechende Fälle enthält, z.B. Ankunftsabend.

Nun zu der Gruppe von nicht-suffigierten Erstgliedern, für die unser Modell eine en-Fuge voraussagt: Die Erstglied-Letztsilben, über die die Gruppe definiert ist, sind nicht sehr frequent – mit einem Vorkommen in vier unterschiedlichen Erstgliedern stellt -graf die in dieser Hinsicht frequenteste Silbe dar (Markgraf, Fotograf, Telegraf, Graf). Auch hier scheint aber ohnehin – wie auch schon im Fall der s-Fuge – keine linguistische Regel formulierbar, die auf den jeweiligen Letztsilben oder deren Lautung basiert. Vielmehr lässt sich auch hier ein Zusammenhang zwischen dem auftretenden Fugenelement und dem Flexionsparadigma des Erstglieds feststellen: Es handelt sich bei den entsprechenden Erstgliedern aus unserem Modell überwiegend um schwache Maskulina (-en im Genitiv Singular und im Nominativ Plural), so dass ‚en‘ hier als paradigmisches Fugenelement auftritt, z.B. Menschenmenge, Herrenabend, Bärenanhänger.

(1) en-Fuge für nicht-suffigierte, schwach flektierende Maskulina

Diese Regel deckt sich insofern mit einer anderen Stelle im Modell, als dass in Verbindung mit suffigierten Erstgliedern für schwach flektierende Maskulina, die der Bezeichnung von Personen dienen, bereits eine Tendenz zur en-Fuge festgestellt wurde.18

Die Gruppe der nicht-suffigierten Erstglieder mit en-Fuge enthält jedoch auch feminine Nomen, z.B. Schuldenberg, Instanzenweg, Personenverkehr. Mit Fuhrhop könnte man das Auftreten des Fugenelements ‚en‘ in solchen Zusammensetzungen mit femininem Erstglied auf das Vorliegen positiver Pluralmarkierungen zurückführen (vgl. Fuhrhop 1996, S. 541):

(2) en-Fuge für nicht-suffigierte, feminine Erstglieder, die tatsächlich einen Plural ausdrücken (für 1 und 2 zusammen gilt: 3634 korrekt; 424 falsch; Abdeckung 0,9%)

Schließlich soll noch auf die Gruppe nicht-suffigierter Erstglieder eingegangen werden, für die unser Modell eine Null-Fuge voraussagt. Betrachtet man innerhalb dieser Gruppe die frequentesten Letztsilben genauer – d.h. die Letztsilben, die in vielen unterschiedlichen Erstgliedern auftreten – fällt auf, dass die entsprechenden Erstglieder größtenteils auf ‚e + Konsonant‘ (genauer: nach CELEX auf ‚Schwa + Konsonant‘) enden, z.B. Abendkasse, Jugendarbeit, Titelverteidiger, Körperverletzung, Winterpause, Steuerzahler.19 Folglich kann in Verbindung mit den Letztsilben zumindest für die Null-Fuge eine Regel formuliert werden, in der lautliche Aspekt immerhin eine minimale Rolle spielen:

(1) Null-Fuge (tendenziell) für nicht-suffigierte Erstglieder, die auf ‚e + Konsonant‘ enden

Diese Regel verliert jedoch an Klarheit bzw. Überzeugungskraft, wenn man anstelle der frequentesten Letztsilben die frequentesten Erstglieder als Ausgangspunkt nimmt. Aus dieser Perspektive ist vielmehr auffallend, dass die Gruppe der Komposita mit Null-Fuge vor allem dadurch bestimmt ist, dass es sich überwiegend um Simplizia handelt, z.B. Weltkrieg, Abendabitur:

(2) Null-Fuge (tendenziell) für simplizische Erstglieder (für 1 und 2 zusammen gilt: korrekt: 160442; 8943 falsch; Abdeckung 39,3%)

Zum Abschluss der Betrachtung von Erstgliedern, die in CELEX als endungslos ausgezeichnet sind, sei noch darauf verwiesen, dass die Voraussagen unseres Modells hier zwar prinzipiell in linguistische Regeln überführt werden können, es sich aber um eine Stelle im Entscheidungsbaum handelt, an der sich die dem Modell zugrundeliegende Systematik nur schwer erschließen lässt. Trotz der angeführten linguistischen Regeln sollte nicht ausgeschlossen werden, dass lexikalische Konventionen an dieser Stelle im Modell eine ‚mächtige‘ Rolle spielen.


1Wie bereits erwähnt, werden in CELEX zum Teil auch ‚Wortausgänge‘ als Suffixe ausgezeichnet, die keine Suffixe im morphologisch engen Sinne sind, z. B. ‚ern‘ in modern. Daher wird auf dieses CELEX-Merkmal im Folgenden mit dem allgemeineren Begriff ‚Endung‘ Bezug genommen. Wenn gekennzeichnet werden soll, dass es sich bei einer Endung um ein Suffix im morphologisch engen Sinne handelt, das der Wortbildung dient, (vgl. auch Bußmann 2008, S. 701, „Suffix“) wird dies durch die Verwendung des Begriffs ‚Ableitungssuffix‘ kenntlich gemacht. [zurück]

2 Gemäß Donalies ist das „gedoppelte[…] n“ hier als „reine Schreibgewohnheit“ zu betrachten (Donalies 2011, S. 30). [zurück]

3 Die Zahlenwerte geben an, für wie viele der 407.865 Komposita die Regel gilt. Dabei wird die Anzahl der mit dieser Regel korrekt und falsch vorausgesagten Komposita angegeben. Zusätzlich ist mit ‚Abdeckung’ angegeben, wie viel Prozent der 407.865 Komposita über diese Regel abgedeckt werden. Allerdings ist Folgendes zu berücksichtigen: Die aus dem Entscheidungsbaum abstrahierte linguistische Regel muss nicht unbedingt vollständig mit der Regel im Entscheidungsbaum übereinstimmen. Bei manueller Durchsicht würde man Komposita finden, auf die die Regel des Entscheidungsbaums zwar zutrifft, nicht jedoch die davon abstrahierte linguistische Regel. In den angegebenen Zahlen sind diese Fälle jedoch nicht berücksichtigt. [zurück]

4 Auf einige weniger frequente Erstglied-Typen der Gruppe, in der ‚en‘ als Fugenelement auftritt, trifft dies nicht zu. Dies gilt z.B. für das Ableitungssuffix -(ig)keit, mit dem feminine Nomen gebildet werden. Alle abweichenden Erstglieder sind aber nur vereinzelt in dem hier relevanten Datenausschnitt enthalten, so dass die oben getätigte Generalisierung trotz der Abweichungen gerechtfertigt scheint. [zurück]

5 Allerdings zeigen Maskulina auf -or in der Regel einen Genitiv auf -s, z. B. des Autors, des Donators. [zurück]

6 Hier werden nur Endungen berücksichtigt, die Ableitungssuffixe sind und in Grammis kodifiziert sind. [zurück]

7 Auch in der Sekundärliteratur wird postuliert, dass aus der Gruppe der maskulinen Suffixe nur -ling regelmäßig mit einem Fugen-s auftritt (vgl. Fuhrhop 1996, S. 537). [zurück]

8 Vgl. z.B. auch Fuhrhop (1996, S. 537); Fleischer (1995, S. 139). Die unparadigmische s-Fuge wird in der Sekundärliteratur außerdem für die Gruppe der „mehrsilbigen femininen Substantive mit dem Auslaut -t“ (vgl. Duden 2005, S. 723) vorhergesagt. [zurück]

9 Die komplette Regel des Modells, die auch nicht adjektivische und nicht adverbiale Erstglieder enthält, weist die folgenden Zahlen auf: korrekt: 17467; falsch: 708; Abdeckung: 4,3%. Etwa ein Drittel der Komposita (also etwa 5800) lässt sich über die oben formulierte Regel (Null-Fuge für adjektivische oder adverbiale Erstglieder) abdecken. Zwei Drittel bleiben aber unerfasst. [zurück]

10 Auch Fleischer/Barz postulieren für Erstglieder mit dem heimischen Suffix -er eine Null-Fuge (Fleischer/Barz 1995, S. 139). Eine hochfrequente Abweichung von dieser Regel stellen in unserem Modell Komposita mit dem Erstglied Alter dar (s-Fuge: Altersarmut, Alterssitz). [zurück]

11 Zwei Äste wurden dabei nicht berücksichtigt: (1) Erstglieder, die laut CELEX zwar suffigiert sind, zu deren Endung es in CELEX aber keine Informationen gibt. (2) Erstglieder, die in CELEX einerseits als nicht-suffigiert ausgezeichnet sind und zugleich den Zusatz enthalten, dass sich die Endung nicht in CELEX befindet.[zurück]

12 Unser Modell zeigt, dass nicht nur auf der Grundlage von Suffixen im morphologisch engen Sinne, sondern auch aufgrund von ‚einfachen‘ Erstgliedendungen zum Teil recht eindeutige Fugenvoraussagen möglich sind. [zurück]

13 Nur weil die Letztsilben im Entscheidungsbaum in phonetischer Umschrift kodiert wurden, heißt das nicht, dass der Algorithmus hier eine phonologische Regel gefunden hat. Vielmehr ist die Eigenschaft ‚Letztsilbe’ an diesem Punkt unter den berücksichtigten Eigenschaften nur die beste Möglichkeit, die Erstglieder zu gruppieren. [zurück]

14 Auch in der Sekundärliteratur wird angenommen, dass das Fugenelement ‚es‘ überwiegend bei einsilbigen Erstgliedern auftritt (z.B. Duden 2005, S. 723). [zurück]

15 An dieser Stelle wird darauf verzichtet, die Silben (bzw. Erstglieder) aufzulisten, die jeweils zu einer e-, er- bzw. es-Fuge führen. Diese können Abbildung 4 entnommen werden. [zurück]

16 „Da ein Erstglied mit paradigmischem -s- niemals einer Pluralform entspricht, kann es nur der GenSg-Form homonym sein“ (Fuhrhop 1996, S. 535). [zurück]

17 Die Erstglieder sind zwar in CELEX als nicht-suffigiert ausgezeichnet, können aber über ein Präfix verfügen, das dann zu derivationeller Komplexität führt. [zurück]

18 Diese Tendenz schwacher Maskulina zur (e)n-Fuge wird auch in Verbindung mit der Fugenmodellierung für vokalisch auslautende Erstglieder wieder auftreten. [zurück]

19 Alle genannten Fälle werden in CELEX mit Schwa vor dem jeweiligen Konsonanten codiert; allerdings gibt es einen großen Interpretationsspielraum und Fälle wie Körper könnten z.B. auch mit einem vokalisierten r ([ˈkœʁpɐ]) codiert werden. [zurück]

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Katrin Hein, Noah Bubenhofer, Caren Brinckmann
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