Entscheidungsbaum Teil B: Erstglied mit auslautendem Vokal


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Abbildung 5: Entscheidungsbaum Teil B (mit auslautendem Vokal des Erstglieds)

Zahlenwerte in Klammern: Anzahl korrekt und falsch vorausgesagte Komposita, Summenangabe zusätzlich mit prozentualem Anteil der korrekt vorausgesagten Komposita.

Während in unserem Modell für konsonantisch auslautende, suffigierte Erstglieder aufgrund ihrer Endung unmittelbar auf die Gestaltung der Kompositionsfuge geschlossen werden kann und auch die Voraussagen für konsonantisch auslautende, nicht-suffigierte Erstglieder ohne komplizierte Regelverkettungen auskommen, gestaltet sich die Vorhersage von Fugenelementen für vokalisch auslautende Erstglieder grundsätzlich etwas komplexer (vgl. den Teil B des Entscheidungsbaums in Abbildung 5). Zunächst ist im Entscheidungsbaum ausschlaggebend, ob die letzte Silbe des Erstglieds betont oder unbetont ist. Die Spezifizierung dieses Kriteriums führt jedoch nicht zu terminalen Knoten. Vielmehr müssen weitere Merkmale spezifiziert werden, um Voraussagen über die entsprechenden Kompositionsfugen treffen zu können.


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Abbildung 6: Entscheidungsbaum Teil B1

Für vokalisch auslautende Erstglieder mit betonter Letztsilbe muss zur Fugen-Vorhersage die phonetische Umschrift der letzten Silbe spezifiziert werden (vgl. den Ausschnitt B1 des Entscheidungsbaums in Abbildung 6). Für diese Gruppe von Erstgliedern fällt bereits unabhängig von der Berücksichtigung lautlicher Details auf, dass deren Integration in ein Kompositum überwiegend ohne Fugenelement erfolgt: Unsere Daten enthalten insgesamt 14.867 entsprechende Komposita mit Null-Fuge (z.B. Polizeisprecher, Neuordnung), während nur 1.007 Zusammensetzungen vorliegen, in denen ein Fugenelement realisiert wird. Zusätzlich zu dieser vergleichsweise geringen Gesamtfrequenz muss hier noch berücksichtigt werden, dass sich innerhalb dieser 1007 Komposita mit Fugenelement nur sechs unterschiedliche Erstglieder befinden (= Idee1, lau, treu, Frau, Papagei, Ei), während innerhalb der Komposita mit Null-Fuge 288 unterschiedliche Erstglieder vorliegen.

Da die Gruppe der Komposita mit Null-Fuge in unserem Modell über eine Vielzahl von Erstglied-Merkmalen definiert ist, wird an dieser Stelle darauf verzichtet, die einzelnen Merkmale anzuführen. Vielmehr kann die aus dem Entscheidungsbaum ableitbare Regel für das Auftreten einer Null-Fuge am einfachsten in Form der folgenden negativen Definition formuliert werden:

Null-Fuge für Erstglieder mit betonter Letztsilbe, deren letzte Silbe nicht die Lautung -de, -laʊ, -trɔʏ, -fraʊ, -gaɪ oder -aɪ hat (korrekt: 14867; falsch: 444; Abdeckung: 3,7%).


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Abbildung 7: Entscheidungsbaum Teil B2

Ist die letzte Silbe vokalisch auslautender Erstglieder hingegen unbetont, muss in unserem Modell zur Vorhersage der Kompositionsfuge die phonetische Umschrift des letzten Lautes, nicht die der letzten Silbe, des Erstglieds bestimmt werden (vgl. dazu den Ausschnitt B2 des Entscheidungsbaums in Abbildung 7). Endet ein entsprechendes Erstglied nicht auf Schwa, tritt ebenfalls kein Fugenelement auf, z.B. Kilogramm, Klimaschutz, Taxifahrer, Abbauantrag usw.

Null-Fuge für Erstglieder mit unbetonter Letztsilbe, deren letzter Laut nicht Schwa ist (korrekt: 9787; falsch: 16; Abdeckung: 2,4%).2

Endet das Erstglied hingegen mit einem Schwa, muss zur Vorhersage der Kompositionsfuge das Kriterium ‚Flexionsparadigma des Erstglieds‘3 berücksichtigt werden – die Flexionsklasse gilt neben Wortart und Lautstruktur allgemein als einer der Faktoren des Erstglieds, die Einfluss auf die Gestaltung der Fuge haben (z.B. Lohde 2006, S. 22).

Als eine Art Zwischenfazit kann bereits an dieser Stelle im Entscheidungsbaum konstatiert werden, dass das Flexionsparadigma des Erstglieds bei konsonantisch auslautenden Erstgliedern so gut wie keine Rolle spielt4, während es bei vokalisch auslautenden Erstgliedern deutlich relevanter ist und sich in der Hierarchie des Entscheidungsbaums relativ weit oben – wenn auch unterhalb einiger lautlicher Merkmale – befindet.

Welche Vorhersagen können durch die Spezifizierung des Flexionsparadigmas für Ersteinheiten auf Schwa mit unbetonter Letztsilbe in unserem Modell getroffen werden? Zunächst zu den vier Fällen, in denen anhand der zusätzlichen Spezifizierung des Flexionsparadigmas direkt auf die Kompositionsfuge geschlossen werden kann.

Eine Null-Fuge tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von ca. 88 % mit Erstgliedern auf, die wie folgt flektieren5:

  • (1) -(e)s im Genitiv-Singular/endungslos im Nominativ Plural (nominales Flexionsparadigma) --> (e)s/- --> starke Nomen
  • Bsp. aus unserem Modell: Gewerbegebiet, Gemäldegalerie
  • (2) -(e)s im Genitiv Singular/nur im Singular gebräuchlich (nominales Flexionsparadigma) --> (e)s/Singularia Tantum --> starke Nomen
  • Bsp. aus unserem Modell (die Beispiele gehen nur auf zwei unterschiedliche Erstglieder zurück): Prestigedenken, Karatemeister

Daraus lässt sich die folgende Regel ableiten:

Null-Fuge für nominale Erstglieder auf Schwa, die im Genitiv Singular auf -(e)s enden und im Nominativ Plural endungslos sind oder nur im Singular gebräuchlich sind (korrekt: 11735; falsch: 287; Abdeckung: 2,88%).6

Prinzipiell bestätigt unser Modell damit in der Sekundärliteratur formulierte Regularitäten: Gemäß Fuhrhop (1996, S. 542) wird Schwa u.a. immer dann beibehalten – in unserer Terminologie entspricht dies dem Auftreten einer Null-Fuge – wenn das Erstglied keinen Plural kennt, keinen n-Plural hat oder der Plural ungewöhnlich ist. Die erstgenannte Bedingung Fuhrhops trifft auch in unserem Entscheidungsbaum eindeutig zu, während der Bedingung ‚kein n-Plural‘ in unserem Modell zumindest durch das Auftreten von den Erstgliedern Ehe und Pleite mit einer Null-Fuge widersprochen wird. Die in (2) formulierte Bedingung für das Auftreten der Null-Fuge stimmt eindeutig mit einer These von Fleischer/Barz überein: „-0- steht bei Singulariatantum“ (Fleischer/Barz 1995, S. 139).

Neben der Null-Fuge sagt unser Modell für die Kompositabildung bestimmter Erstglieder auf Schwa außerdem die Tilgung des Letztlauts voraus. Hier wird ersichtlich, dass für die „Problematik der Kompositionsfuge“ auch die „Tilgung bestimmter Elemente […] eine Rolle“ (Fleischer/Barz 1995, S. 136) spielt.

Es handelt sich dabei in unserem Modell aber um eine deutlich weniger aussagekräftige Prognose als bei der Vorhersage der Null-Fuge, da die entsprechende Datengrundlage nur acht unterschiedliche Erstglieder (aber insgesamt 1151 Komposita) aufweist: Die in dieser Gruppe enthaltenen Lexeme sind zum einen Nomina, die im Genitiv Singular -(e)s und im Nominativ Plural -n nehmen (Flexionsklasse(e)s/n) oder im Genitiv Singular -ns nehmen und nur im Singular gebräuchlich sind (Flexionsklasse: ns/Singularia Tantum). Zum anderen wird die Schwa-Tilgung für 560 Erstglieder vorausgesagt, für die in CELEX zwar angegeben wird, dass sie flektieren, für die aber kein Paradigma verfügbar ist. Beispiele für entsprechende Erstglieder sind Ende (Endstand), Glaube (Glaubwürdigkeit), zweite (Zweitliga), dritte (Drittmittel). Auffallend ist hier, dass ein Zusammenhang zwischen Ordinalzahlen als Erstglied und der Schwa-Tilgung zu bestehen scheint:

Schwa-Tilgung bei Ordinalzahlen als Erstglied (Abdeckung: < 0,2%)7

Die Formulierung einer weiteren Regel, z.B. die Herstellung eines direkten Zusammenhangs zwischen Schwa-Tilgung und Flexionsparadigma, ist hingegen schwierig, zumal die beschriebene Gruppe nur acht unterschiedliche Erstglieder enthält, darunter allein fünf Ordinalzahlen. Die Schwa-Tilgung wird in unserem Modell u.a. für das Nomen Ende (z.B. Endstation) vorausgesagt, für das auch in der Sekundärliteratur der „regelmäßig[e] Ausfall des stammauslautenden -e“ (Fleischer/Barz 1995, S. 71) postuliert wird.8

Das Auftreten der n-Fuge für auf Schwa auslautende Erstglieder kann am ehesten durch eine negative Definition modelliert werden, da diese Fuge in unserem Modell über eine Vielzahl möglicher Flexionsparadigmen bestimmt wird: Bei Erstgliedern mit anderen Flexionsparadigmen (als bei den Ersteinheiten mit Null-, ns-Fuge9 oder Schwa-Tilgung) tritt innerhalb einer Zusammensetzung ein ‚n‘ als Fugenelement auf. Unsere Daten enthalten an die 6000 entsprechende Komposita, so dass die n-Fuge bei der Kompositabildung mit auf Schwa auslautenden Ersteinheiten (mit unbetonter Letztsilbe) in unserem Modell am üblichsten ist. Zum Vergleich: Unsere Daten enthalten für auf Schwa auslautende Erstglieder 1.948 Komposita mit Null-Fuge, 1151 Komposita mit Schwa-Tilgung und 190 Komposita mit ns-Fuge. Auch Fuhrhop bezeichnet es als den „Normalfall“, „daß Schwa in der Komposition -n- nimmt“ (Fuhrhop 1996, S. 541).

Auch wenn das Auftreten der n-Fuge zunächst negativ definiert wurde, sollen die entsprechenden Erstglieder hinsichtlich ihres Flexionsparadigmas noch genauer spezifiziert werden: Es handelt sich überwiegend um schwach flektierende Maskulina – Flexionsparadigman/n – wie z.B. Kranke (Krankenversicherung), Schütze (Schützenhaus) oder Franzose (Franzosenduo). Die auftretende n-Fuge ist jeweils paradigmisch.

n-Fuge für schwach flektierende Maskulina, die auf Schwa auslauten (korrekt: 5865; falsch: 468; Abdeckung: 1,4%).

Diese recht deutlich hervortretende Regelhaftigkeit wurde in ähnlicher Form bereits an einer anderen Stelle im Modell konstatiert: Für suffigierte, schwach flektierende Maskulina, die mit einem Konsonanten enden, wurde eine eindeutige Tendenz zur en-Fuge festgestellt (vgl. Interpretation der Erstglieder mit auslautendem Konsonanten). Auch in der Forschungsliteratur wird die Tendenz zur (e)n-Fuge in allgemeiner Form, d.h. unabhängig vom Letztlaut, erfasst: „Die Fugenelemente -en und -n erscheinen paradigmisch bei schwach flektierenden Maskulina“ (Duden 2005, S. 723). Fuhrhop formuliert die „hinreichende Bedingung“, dass „alle schwach flektierenden Maskulina […] in ihrer flektierten Form im Kompositum auf[treten]“ (Fuhrhop 1996, S. 541) und konkretisiert diese Aussage dann noch dahingehend, dass das Fugenelement ‚n‘ nur nach Schwa auftritt (vgl. Fuhrhop 1996, S. 543).

Neben den vorstehend erläuterten vier terminalen Knoten führt die Spezifizierung des linguistischen Kriteriums ‚Flexionsparadigma‘ für die auf Schwa auslautenden Erstglieder in unserem Entscheidungsbaum auch zu nicht-terminalen Knoten. Da in der Folge sehr komplexe Regelverkettungen entstehen, deren Erläuterung für die Zwecke des vorliegenden Aufsatzes nicht zielführend ist, wird der entsprechende Teil des Entscheidungsbaums an dieser Stelle nicht weiter beschrieben. Es sei lediglich erwähnt, dass zur Fugen-Vorhersage für auf Schwa auslautende Erstglieder mit bestimmtem Flexionsparadigma eines oder mehrere der folgenden Merkmale aus CELEX spezifiziert werden müssen: morphologischer Status des Erstglied-Präfixes bzw. -Suffixes (wenn kein Präfix vorhanden), Lautung der letzten Erstgliedsilbe, Silbenanzahl des Erstglieds, Position der betonten Silbe innerhalb des Erstglieds, Betontheit der ersten Zweitgliedsilbe, morphologischer Status des Zweitglieds.

Allein aufgrund dieser Andeutungen zum weiteren Verlauf der Modellierung sollte deutlich geworden sein, dass Erstglieder mit dem Letztlaut Schwa innerhalb der Gruppe der vokalisch auslautenden Erstglieder eine deutliche Sonderstellung einnehmen. Während anhand unseres Entscheidungsbaums für alle nicht auf Schwa endenden Ersteinheiten (mit unbetonter letzter Silbe) generell eine Null-Fuge vorausgesagt wird, müssen für auf Schwa auslautende Ersteinheiten sehr komplexe und komplizierte Regelverkettungen modelliert werden. Am kompliziertesten werden die Voraussagen unseres Modells, wenn Ersteinheiten mit entsprechendem Letztlaut weder über ein Präfix noch über ein Suffix verfügen. Die Prognosen unseres Modells bleiben zwar auch in diesen Fällen sehr zuverlässig, sie beziehen sich aber häufig nur noch auf eine sehr beschränkte Zahl von Erstglied-Lexemen. Dieser Teil des Baums spricht für Erstglieder auf Schwa tendenziell eher gegen eine eindeutige Systematisierbarkeit der Fugenelemente – zumindest gegen eine in linguistische Regeln übertragbare Systematisierbarkeit.


1 Bildungen auf -ee unterliegen laut Fleischer/Barz bezüglich der Fugengestaltung stärkeren Schwankungen (vgl. Fleischer/Barz 1995, S. 139). [zurück]

2 Recht frequente Ausnahmen von dieser Regel sind Komposita mit dem Erstglied Firma (z.B. Firmengründer) und Komposita mit dem Erstglied Thema (z.B. Themenkomplex). [zurück]

3 Die folgenden Ausführungen orientieren sich an der CELEX-Klassifikation, für die bereits auf Abweichungen von anderen üblichen Flexionsparadigmen hingewiesen wurde. [zurück]

4 Bei konsonantisch auslautenden Erstgliedern spielt das Merkmal ‚Flexionsparadigma‘ nur eine Rolle, wenn man Erstglieder berücksichtigt, deren Suffix nicht in CELEX enthalten ist. Wie bereits erwähnt, wurden solche Erstglieder hier aber nicht betrachtet, da nicht transparent genug ist, um welche Art von Suffigierung es sich dabei handelt. [zurück]

5 Hier werden nur Flexionsparadigmen berücksichtigt, zu denen in unseren Daten mindestens 50 Exemplare vorliegen. [zurück]

6 Eine weitere Null-Fugen-Gruppe mit mehr als 50 Exemplaren (CELEX-Flexionsparadigma S3/P3;U) wird von dieser Regel nicht erfasst. Sie enthält jedoch nur 2 unterschiedliche Erstglieder (Ehe, Pleite). [zurück]

7 Der Entscheidungsbaum weist in dieser Gruppe keine Differenzierung zwischen Ordinalzahlen als Erstgliedern und anderen Erstgliedern auf. 545 der 849 Komposita dieser Gruppe weisen Ordinalzahlen-Erstglieder auf. Die Regel deckt demnach weniger als 0,2% der Komposita ab. [zurück]

8 Auch Fuhrhop nennt entsprechende Bildungen, merkt jedoch an, dass die Tilgung des Schwas „weiterhin ungeklärt [bleibt]“ (Fuhrhop 1996, S. 543). [zurück]

9 Die ns-Fuge wurde im Vorhergegangenen nicht näher betrachtet, da sie von unserem Modell nicht musterhaft vorausgesagt wird. Sie tritt nur mit einem bestimmten auf Schwa auslautenden Erstglied – Name – auf, z.B. Namensregister, Namenspatrone, Namenstag, Namensnennung. Name flektiert gemäß des ns/n-Paradigmas, so dass das auftretende Fugenelement ‚ns‘ der Genitiv-Singular-Form entspricht und somit paradigmisch ist. [zurück]

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Autor(en)
Karin Hein, Noah Bubenhofer, Caren Brinckmann
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