Grundlagen der Flexionsmorphologie
Nachfolgend werden Grundbegriffe für eine Beschreibung der Nominal- und Verbflexion des Deutschen erläutert.
Wortform und Lexem
Grundlage der morphologischen Betrachtung ist die abstrakte Einheit der Wortform. Die Menge der zu einem Paradigma gehörenden Wortformen wird durch die abstrakte Einheit Lexem dargestellt. Zwischen dem konkreten Vorkommen sprachlicher Einheiten und den von ihnen repräsentierten abstrakten Einheiten muss unterschieden werden. Das Lexem Jahr beispielsweise besitzt die Wortformen Jahr, Jahre, Jahres, Jahren, die konkret in Texten vorkommen können (Wortformvorkommen):
Wortformen können ganz unterschiedliche Funktionen im syntaktischen Zusammenhang einnehmen, z. B:
(2) Der verkaufte Fisch war frisch.
In (1) ist verkaufte eine Präteritalform und Teil des Verbalkomplexes, in (2) ein adjektivisch verwendetes Partizip II und Teil einer Nominalphrase. Fisch ist Kopf einer Nominalphrase, die in (1) als Akkusativkomplement und in (2) als Subjekt (im Nominativ) fungiert. Es handelt sich jeweils um dieselbe Wortform, aber um unterschiedliche Wortformvorkommen. Erst aus dem konkreten Vorkommen einer Wortform in der schriftlichen oder mündlichen Kommunikation lässt sich auf ihre syntaktische Funktion schließen, die im Deutschen morphologisch (Kasus, Präposition) und durch Stellungseigenschaften gekennzeichnet wird.
Aussprachevarianten zeichnen sich durch formale Unterschiede zwischen den Einheiten aus, die nicht grammatisch interpretierbar sind (z. B. Stockfisch ['ʃtɔkfɪʃ], regional auch ['stɔkfɪʃ]). Sie stellen keine Realisierungen unterschiedlicher Wortformen, sondern derselben Wortform dar. Eine Wortform vertritt also inhaltlich und formal zusammengehörige Ausdruckseinheiten, welche keine grammatisch interpretierbaren Formunterschiede aufweisen, z. B.:
Lexem: | "Stockfisch" |
Aussprachevarianten der gleichen Wortform: | ['ʃtɔkfɪʃ] (Standard) / ['stɔkfɪʃ] (regional) |
verschiedene Wortformen: | Stockfisch, Stockfisch(e)s, Stockfische, Stockfischen |
Wortformen können hinsichtlich ihres formalen Aufbaus aus syntagmatischer Sicht näher analysiert werden (z. B. Stockfisch-es). Aus paradigmatischer Sicht bilden alle Wortformen eines Lexems sein Flexionsparadigma:
Siehe auch: Was sind syntagmatische und paradigmatische Beziehungen?
Verschiedene Wortformen (z. B. Stockfisch, Stockfisches, Stockfische, Stockfischen) lassen sich somit ein und demselben Lexem zuordnen. Ein- und dieselbe Wortform kann aber auch zu unterschiedlichen Lexemen gehören, z. B. sieben (Zahlwort vs. Verbform). Auf der anderen Seite gibt es Lexeme, denen nur eine Wortform zugeordnet werden kann, z. B. leider, also, und. Solche Wörter zeichnen sich dadurch aus, dass sie nie verändert werden, sie kommen nur in einer Form vor. Neben einzelnen Vertretern verschiedener potenziell flektierbarer Wortarten (z. B. der Quantifikativ-Artikel irgendwas) gibt es auch ganze Wortarten, deren Vertreter grundsätzlich nicht flektierbar sind (z. B. Partikeln). Eine Wortform kann auch als Menge von Ausdruckseinheiten aufgefasst werden, die keine grammatisch interpretierbaren Formunterschiede aufweisen, ein Lexem auch als Menge von Wortformen.
Zu den Wortarten, deren Vertreter formal unveränderlich sind, d. h. nicht flektiert werden, zählen im Deutschen die Adverbien, Partikeln, Präpositionen und Junktoren. Flektierbar und damit potenziell mehrere Wortformen pro Lexem bildend sind hingegen Verben, Nomina, Adjektive, Artikel und Pronomina.
Lexeme sind als abstrakte Basiseinheiten des Wortschatzes zu betrachten. Gibt es mehrere zusammengehörige Wortformen, wird auf das Lexem mit Hilfe einer konventionalisierten Nennform (z. B. "Stockfisch") Bezug genommen. In der Lexikographie wird das Verfahren Lemmatisierung genannt. In Wörterbüchern werden üblicherweise Lemmata verzeichnet, wobei es sich dabei um Repräsentanten von Lexemen handelt.
Kategorien und Funktionen der Flexionsmorphologie
Die formale Markierung grammatischer Merkmale in Wortformen ist abhängig von der Wortart. Jede flektierbare Wortart, z. B. das Nomen, kann ganz bestimmte Kategorien flexionsmorphologisch kennzeichnen. Welche Kategorien mit Hilfe der Flexion an einem Nomen markiert werden, kann man am Lexem "Stockfisch" erkennen, wenn man seine verschiedenen Wortformen betrachtet:
Die Wortformen sind durch Kenntnis ihres flexionsmorphologischen Aufbaus hinsichtlich der Kategorisierungen Numerus und Kasus als mögliche
Singularformen: | Stockfisch_ (Nom.), Stockfisches (Gen.), Stockfische (Dat.) |
Pluralformen: | Stockfische (Nom./Akk./Gen.), Stockfischen (Dat.) |
bzw. | |
Genitivform: | Stockfisches (Sg.) |
Dativformen: | Stockfischen (Pl.), Stockfische (Sg.) |
identifizierbar, wenn sie Numerus- und Kasusmarker erhalten. Numerus-/Kasusmarkierungen an Wortformen alleine reichen, wie die Beispiele zeigen, allerdings meistens nicht aus, um die Kategorien eindeutig auszuweisen (vgl. Synkretismen). Das Genus des Nomens (hier: Maskulinum) ist für das Nomen keine relevante Flexionskategorie, da es ein konstantes Merkmal darstellt, das sich nicht in Abhängigkeit von bestimmten Flexionsformen ändert. Das Genus der Nomina spielt in der Flexion aber trotzdem eine wichtige Rolle, z. B. bei den Flexionsklassen der Nomina, die Aussagen über den formalen Aufbau der Wortformen zulassen, sowie bei der Herstellung von Beziehungen zwischen verschiedenen korrespondierenden Wortformen. Bei flektierenden Wortarten lässt sich die wortformspezifische grammatische Funktion durch Flexionskategorien (hier: Plural, Dativ, Genitiv) beschreiben, die konkrete Ausprägungen relevanter Kategorisierungen (Mengen von Kategorien, hier: Numerus, Kasus) darstellen.
Welche Kategorien bei welchen Wortarten im Deutschen markiert werden und welche Funktionen ihnen zukommen siehe Kategorien und Funktionen der Flexionsmorphologie.
Aufbau von Wortformen
Wortformen werden herkömmlicherweise in Morpheme segmentiert. Sie sind die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten (Ausdrucks- und Inhaltsseite) der Sprache. Man kann zwischen lexikalischen und grammatischen Morphemen unterscheiden. Letztere sind der Beschreibungsgegenstand der Flexionsmorphologie und werden auch Flexionsmorpheme genannt. Morpheme lassen sich also wie folgt beschreiben:
Eine Analyse des deutschen Flexionssystems auf der Basis des klassischen strukturalistischen Morphembegriffs ist aus Gründen, die weiter unten geschildert werden, allerdings problematisch.
Die Zusammensetzung Stockfisch besteht aus den zwei Wörtern Stock und Fisch, die jeweils nur aus nur einem Morphem {stock} und {fisch} bestehen und verschiedene lexikalische Bedeutungen besitzen. Die Wortform Stockfische besitzt noch ein weiteres Morphem {-e}, das gebunden ist und eine grammatische Bedeutung hat. Welchen Kasus {-e} neben der grammatischen Information Plural (nur im Singular ist die Form auf Dativ festgelegt) trägt, ist kontextlos allerdings nicht entscheidbar (vgl. Problematik des Morphembegriffs). Wie eingangs beschrieben, beschäftigt sich die Flexionsmorphologie nur mit der systematischen formalen Markierung der grammatischen Kategorien in Wortformen, in diesem Beispiel durch {-e}. Verfahren wie die Zusammensetzung der Morpheme {stock} und {fisch} sind hingegen Gegenstand der Wortbildung.
Bei Wortformen, z. B. seht, kann man zwischen Grundmorphemen wie {seh-} und einzelnen Flexionsmorphemen wie {-t} unterscheiden. Grundmorpheme, die Träger der Lexembedeutung sind, sind die nicht weiter untergliederbaren Stammformen ohne Flexionsmorpheme. Flexionsmorpheme sind hier als Flexionsaffixe (Flexive) zu verstehen, da sie in diesem Fall nur gebunden vorkommen.
Morpheme können frei sein und als Wörter oder Stämme fungieren, z. B. {fisch, in, euch}, oder ausschließlich gebunden vorkommen, z.B. {-e, -st, ge-...-t} in Fische, kaufst, gekauft. Affixe sind Ausdruckseinheiten, die nicht alleine, sondern nur gebunden an andere Ausdruckseinheiten vorkommen können.
Der Vokalwechsel (z. B. Umlaut) ist neben der Affigierung eines der beiden zentralen Mittel des flexionsmorphologischen Formenbaus. Beide Formmittel werden in bestimmten Bereichen der Flexion systematisch miteinander kombiniert und werden dann auch in ein und derselben Wortform verwendet, z. B. Männer.
Flexionsaffixe können gleichzeitig Kategorien mehrerer Kategorisierungen markieren (z. B. Genus und Kasus), sie werden dann fusionierend genannt. Flexionsaffixe, die nur eine Kategorie markieren, werden als agglutinierend bezeichnet, die Markierung einer weiteren Kategorie bzw. weiterer Kategorien erfordert in diesem Fall das Anhängen eines neuen Affixes. Im Deutschen illustrieren dies folgende Beispiele mit Suffixen:
fusionierende Suffigierung: | diesem | Genus: Mask/Neut, Kasus: Dat |
agglutinierende Suffigierung: | schön-er-es | Komparationsstufe: Komparativ, Genus: Neutrum, Kasus: Nominativ/Akkusativ (Nicht-Oblique) |
Die Verwendung des Terminus "Morphem" für die Flexionsaffixe im Deutschen ist allerdings problematisch, denn eine eindeutige Zuordnung von Form und grammatischer Bedeutung/Funktion ist bei der Vielzahl homonymer Flexionsaffixe im Deutschen kaum gegeben. Betrachtet man nur die Deklination der Nomina, so zeigt sich, dass die Affixe -e und -(e)n, die den Plural kennzeichnen können (Stockfische, Frauen, Zungen), auch andere Verwendungen haben: -e kann im veraltenden Gebrauch auch im Dativ Singular der Maskulina und Neutra (z. B. Manne, Kinde) auftreten, -(e)n kennzeichnet auch den Nicht-Nominativ der sog. schwachen Maskulina (des/dem/den Menschen) und den Dativ im Plural (Hunden, Kindern, Gänsen). Es empfiehlt sich daher, die Flexionsaffixe im Deutschen weniger als Morpheme mit fester Bedeutung/Funktion zu betrachten, sondern vielmehr als formale Unterscheidungsmerkmale der Wortformen.
Für die systematische Erfassung der Markierungen grammatischer Kategorien in Wortformen bietet es sich aus einem weiteren Grund an, nicht "Morpheme" als Beschreibungsgrundlage zu wählen, sondern von Markern (im Sinne von Wurzel 1984:60) zu sprechen. So ist es sinnvoll, z. B. bei Kombinationen von Umlaut in nominalen Stammformen und einem bestimmten Flexionsaffix (Markierung der Kategorie Plural), unabhängig vom Morphemstatus der Flexionsmittel von kombinierten Flexionsmarkern "Umlaut + Flexionsaffix" (z. B. "-er in Männer) auszugehen. Der Terminus erlaubt es, die Kombination von Vokalwechsel und Affigierung als zusammengehöriges Phänomen zu benennen. Der Begriff Marker soll für die Flexionsmorphologie im engeren Sinne, d. h. ohne Einbezug analytischer Formen ("syntaktische Marker"), als Flexionsmarker ("morphologische Marker") wie folgt definiert werden:
Die verschiedenen Mittel und die einzelnen Flexionsmarker werden in der Einheit Mittel des flexionsmorphologischen Formenbaus vorgestellt.
Markiertheit
Der Begriff Markiertheit beschreibt eine Eigenschaft, die nicht mit der Markierung von grammatischen Kategorien durch Marker gleichgesetzt werden darf. Die abstrakte Eigenschaft der Markiertheit bezieht sich auf ein sprachliches Ph��nomen, das im Sprachsystem als "hervorgehoben, auffällig" charakterisiert werden kann und auf unterschiedlichen Beschreibungsebenen, z. B. im Bereich der Phonetik/Phonologie, Morphologie oder Syntax vorkommt.
Für die Flexionsmorphologie ist auch eine phonologische Markiertheit von Bedeutung. Bei der Wahl der Pluralmarker zum Beispiel konkurrieren genusgesteuerte und lautliche Prinzipien. Nomina, die nach den Regeln der Phonologie im Deutschen "auffällig" sind, z. B. solche mit unbetontem Vollvokal im Wortauslaut, erhalten den Pluralmarker -s (z. B. Uhu – Uhus).
Markierte Strukturen sind oft Ergebnis von Konflikten zwischen verschiedenen gegeneinanderwirkenden Bereichen des Sprachsystems, z. B. zwischen der Phonologie und der Morphologie. Morphologischer Wandel vollzieht sich in der Regel zu Gunsten der unmarkierten Formen, stellt also einen Markiertheitsabbau dar. Manchmal führt aber z. B. der Abbau von Markiertheit in der Phonologie zu vermehrter Markiertheit in der Morphologie oder umgekehrt. Ein Beispiel für einen solchen Prozess ist der phonologisch bedingte Abbau des mittelhochdeutschen Pluralmarkers -e bei Nomina auf -el, -en, -er, wie z. B. bei mhd. wagen (Sg.) – wagene (Pl.) > nhd. Wagen (Sg.) – Wagen (Pl.). Der endungslose Genitiv Plural bestimmter slawischer Feminina, z. B. poln. ulica (Nom. Sg.) – ulic (Gen. Pl.) (dt. Straße) ist ebenfalls durch phonologischen Abbau eines in früheren Sprachstadien vorhandenen Flexionsmarkers entstanden.
Im Bereich der Morphologie können verschiedene Arten von Markiertheit unterschieden werden, die sich auf die grammatischen Kategorien, ihre Kodierung und die dabei resultierenden Wortformen beziehen. Nach Mayerthaler (1980) und Wurzel (1984) lassen sich die verschiedene Typen von Markiertheit in der Flexionsmorphologie wie folgt erläutern:
Kategorien-Markiertheit
Die Kategorien-Markiertheit bezieht sich auf die Semantik von Flexionskategorien (z. B. Plural, Genitiv, Präteritum, Konjunktiv etc.). Eine Kategorie kommt meistens für das Allgemeine zum Einsatz, während eine andere Kategorie derselben Kategorisierung gewählt wird, um etwas besonderes auszudrücken (vgl. Eisenberg 2006:20). Die einzelnen Kategorien einer Kategorisierung sind semantisch unterschiedlich komplex aufgebaut. Als unmarkierte bzw. nicht-komplexe Instanz gilt der Sprecher in einem aktualen Sprechakt. Von daher leiten sich als unmarkierte Kategorien die 1. Person Singular (Sprecher), Präsens ("Hier und Jetzt"), Indikativ (in der realen Welt) ab. Die Standardkategorien dienen dem Ausdrücken von allgemeineren, die anderen Kategorien dem von spezifischeren Sachverhalten (z. B. andere Personen, Mehrzahl, Vergangenheit, Irreales). Das Tragen spezifischerer Bedeutungen ist an semantische Komplexität geknüpft, die zur "Auffälligkeit" von Kategorien im System führt: der Markiertheit.
Dieser Markiertheitstyp kann am Beispiel der Kategorisierung Numerus erklärt werden. Der Plural ist im Vergleich zum Singular semantisch die spezifischere Kategorie, da nur ihm eindeutig die besondere Bedeutung von (additiver, d. h. hinzufügender) Pluralität zuzuordnen ist. Der unspezifischere Singular kann hingegen neben der Bedeutung Singularität auch besondere Arten von (nicht-additiver, z. B. kollektiver oder kontinuativer) Pluralität umfassen (vgl. Obst, Vieh, Herde, Mannschaft). Der Singular kommt im Deutschen immer dann zum Tragen, wenn die semantische Anwendungsbedingung für den Plural nicht gegeben ist. Der Plural stellt also (im Deutschen und in vielen anderen Sprachen) die markierte Kategorie dar, der Singular die unmarkierte.
Kodierung von Kategorien
Ein weiterer Typ von Markiertheit bezieht sich auf die Art und Weise der Kodierung (Kennzeichnung) von Kategorien an Wortformen. Eine Kodierung einer grammatischen Kategorie durch Flexionsmarker ist unmarkiert, wenn sie morphologisch adäquat realisiert wird. Das ist der Fall, wenn die Kodierung ikonisch ist, d. h. eine markierte Kategorie durch mehr formale Mittel als eine unmarkierte Kategorie gekennzeichnet wird und eine möglichst eindeutige Zuordnung zwischen Form und Funktion gewährleistet ist.
Der Begriff Ikonismus, abgeleitet von Ikon (< griech. εικών (eikon) dt. Bild, Abbild, Vorstellung), stammt aus der Zeichentheorie und beschreibt einen Abbildungsbezug von Zeichen, die mit ihrem Gegenstand durch Ähnlichkeit verbunden sind (vgl. Peirce 2000:205).
Im Rahmen der Morphologie wird das ikonische Abbildungsverhältnis von Zeichen auf Flexionsmarker übertragen, welche die semantische Markiertheit einer Kategorie durch das Vorhandensein formaler morphologischer Mittel symbolisieren. Von konstruktionellem Ikonismus ist die Rede, wenn (wie am Beispiel der deutschen Pluralmarker gezeigt) eine markierte Kategorie durch mehr formale Mittel als eine unmarkierte Kategorie gekennzeichnet ist. Dieses ikonische Verhältnis kann morphologisch unterschiedlich stark repräsentiert sein, z. B. maximal durch ein Affix (insbesondere mit Umlaut) wie den Pluralmarker "-er in Ämter oder minimal durch Vokalwechsel, z. B. beim Pluralmarker "-(e), wenn Schwa nicht realisiert wird, z. B. Mütter. Kein konstruktioneller Ikonismus liegt vor, wenn der semantischen Markiertheit einer Kategorie keine morphologische Markierung entspricht, wie bei Nomina ohne Pluralmarker, z. B. Lehrer. Als kontraikonisch können Formen bezeichnet werden, bei denen die markierte Kategorie durch weniger formale Mittel gekennzeichnet sind, wie z. B. der endungslose Genitiv Plural bestimmter slawischer Feminina: poln. ulica (Nom. Sg.) – ulic (Gen. Pl.) (dt. Straße). Ein Maßstab für die morphologische Symbolisierung grammatischer Kategorien ist nicht nur, wie ikonisch sie ist, sondern auch ob eine eindeutige (uniforme und transparente) Zuordnung zwischen Form und Funktion gegeben ist.
Der Plural ist auch auf der Formseite komplexer gekennzeichnet als der Singular, denn es gibt für ihn spezifische Flexionsmarker, für den Singular aber nicht (vgl. Kind-Kinder, Frau-Frauen). Der semantisch markierte Numerus Plural besitzt also auch eine formal komplexere Struktur, d. h. er ist ikonisch (unmarkiert) kodiert. Bestimmte genusabhängige Pluralbildungen, wie z. B. die Affigierung von -en an die Singularform femininer Nomina (Frau - Frauen), sind im Deutschen der Normalfall, regelmäßig und als solche unmarkiert. Als markiert kann demnach die Pluralbildung von Nomina gelten, die keine Pluralmarker erhalten, wie z. B. Lehrer, Wagen. Ebenfalls "auffällige", d. h. markierte Pluralbildungen kommen z.B. bei Feminina vor, die den Plural nicht mit -en bilden (vgl. Hand - Hände). Die genusabhängig selteneren Pluralbildungen verletzen das Prinzip der eindeutigen Zuordnung von Form und Funktion, da sie nicht den Standardmarker (z. B. für Feminina -en) wählen.
Markiertheit von Wortformen
Ob eine Wortform in einem Sprachsystem als markiert gelten kann oder nicht, hängt sowohl von der semantischen Markiertheit der in ihr kodierten Kategorien ab, als auch von der Art und Weise, wie diese Kategorien kodiert werden. Stimmen beide Markiertheitstypen überein (beide markiert oder beide unmarkiert), sind die resultierenden Wortformen unmarkiert. Bei unmarkierter (ikonischer) Kodierung bleiben also die entsprechenden Wortformen auch unmarkiert - unabhängig davon, ob eine markierte oder unmarkierte Kategorie kodiert wird.
Die Singularform Frau und die Pluralform Frauen sind beide unmarkiert, da die jeweiligen Numeruskategorien ikonisch kodiert sind. In Pluralformen ohne Pluralmarker, z. B. Spiegel, Lehrer, Wagen (Pl.), ist der markierte Numerus nicht ikonisch kodiert, sie können als markiert gelten.
Natürliche Morphologie
Aus einem im Rahmen der Phonologie entwickelten Natürlichkeitskonzept wurde auch eine Theorie der natürlichen Morphologie entwickelt. Als Indikatoren für "Natürlichkeit" dienen Faktoren wie Frequenz sprachlicher Ausdrücke, Bedingungen des Spracherwerbs und Sprachwandel. Die natürliche Morphologie betrachtet morphologische Erscheinungen und Systeme auf der Grundlage einer Markiertheits- bzw. Präferenztheorie. Je markierter eine morphologische Erscheinung ist, desto weniger natürlich ist sie, unmarkierte Strukturen sind natürlicher. Bestimmte Struktureigenschaften werden von natürlichen Sprachen präferiert, während andere vermieden werden (vgl. Mayerthaler 1980). Zu den präferierten Strukturen zählt der konstruktionelle Ikonismus sowie die Eindeutigkeit der Form-Funktion-Zuordnung. Markiertheitsabbau kann in dieser Perspektive als natürlicher grammatischer Wandel angesehen werden.
Dabei müssen morphologische Erscheinungen in Abhängigkeit des der jeweilige Sprache zugrundeliegenden Systems beurteilt werden. Morphologische Natürlichkeit äußert sich demnach sprachspezifisch in der Systemangemessenheit (Wurzel 1984) morphologischer Erscheinungen. Was in einer natürlichen Sprache mehr oder weniger markiert ist, richtet sich nach sprachspezifischen Struktureigenschaften. Die Prinzipien, die hierbei zum Tragen kommen, sind prinzipiell sprachübergreifend (universell), ihre einzelsprachlichen Auswirkungen aber unterschiedlich. Als unmarkiert gilt in einer Sprache dann, was den strukturellen Eigenschaften ihres grammatischen Systems angemessen ist, während nicht systemangemessene Erscheinungen markiert sind. Das bedeutet, dass bestimmte Eigenschaften, die in einer Sprache markiert sind, in einer anderen Sprache unmarkiert sein können.
Gründe für das Be- oder Entstehen nicht systemangemessener Erscheinungen sind z. B. Entlehnungen aus anderen Sprachen, bei denen fremde Systemeigenschaften übernommen werden (z. B. Stammflexion bei entlehnten Pluralformen wie in Globus - Globen) oder phonologische Prozesse (z. B. lautlicher Zusammenfall von ehemals distinkten Formen). Auch sozial bedingte Faktoren wie Normierung oder Sprachpflege können eine Rolle spielen. Dem Prinzip der Systemangemessenheit folgend tendieren das System störende morphologische Erscheinungen dazu, durch Sprachwandel allmählich abgebaut zu werden.
Die Markiertheitsverhältnisse, morphologische Natürlichkeit und Systemangemessenheit haben entscheidenden Einfluss auf die Produktivität morphologischer Erscheinungen. Ob die Mittel des flexionsmorphologischen Formenbaus, z. B. Marker oder Flexionsklassen, im heutigen Deutsch produktiv sind oder nicht, hängt u. a. davon ab, wie stabil und systemangemessen sie sind. Produktive Flexionsklassen zeichnen sich durch Systemangemessenheit und Stabilität aus (z. B. schwache Verben, Feminina mit en-Plural), während nicht (mehr) systemangemessene Klassen ihre Produktivität verlieren (z. B. starke Verben, Feminina mit umgelauteten (e)-Plural).
Flexionssysteme
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass zum Verständnis der Flexionsmorphologie einer Sprache eine Reihe grundlegender Systemeigenschaften beschrieben werden müssen. Wichtige Eigenschaften, die für das Flexionssystem einer Sprache systemdefinierend sind, lassen sich durch folgende Fragen erfassen (nach Wurzel 1994):
- Welche Kategorisierungen und ihnen zugeordnete Kategorien gibt es?
- Liegt hauptsächlich Grundform- oder Stammformflexion vor?
- Liegt hauptsächlich fusionierende oder agglutinierende Flexion vor?
- Welche Mittel des morphologischen Formenbaus kommen allgemein und in Bezug auf einzelne Kategori(sierung)en zum Einsatz?
- Gibt es Flexionsklassen?
Auf diese grundlegenden Fragen wird in folgenden Einheiten näher eingegangen: