Neumotivierung

Definition

Neumotivierung ist ein marginales Verfahren der Wortbildung, bei dem ein komplexes Wort mit mindestens einer sprachhistorisch verdunkelten Einheit morphologisch so verändert wird, dass ein neues, aktuell verständliches Wort entsteht. Das verdunkelte Wort fließt dabei assoziativ in das neue Wort ein.

Erläuterungen

Der prototypische Fall der Neumotivierung ist Sündflut; es wurde umgebildet aus veraltetem Sintflut ‚allumfassende Flut‘ zu germanisch sin 'immer, überall'; die Neumotivierung Sündflut spielt darauf an, dass Gott die auslöschende Flut zur Bestrafung der Menschen für ihre Sünden gesandt haben soll. Siehe zur Erklärung der übrigen Beispiele Donalies 2021. Neumotiviert werden aber nicht nur sprachhistorisch verdunkelte Wörter, sondern auch unverständliche Wörter aus anderen Sprachen. Üblicherweise werden Wörter einfach entlehnt, etwa aus dem Englischen Manager oder aus dem Französischen Café. Selten werden sie aber auch morphologisch ein-empfunden, zum Beispiel haiitianisch hamaca 'Schlafnetz' zu Hängematte. Außerdem motivieren Kinder in ihren Sprachlernphasen ihnen undurchsichtige Wörter neu. Aus meinem Umfeld weiß ich von kindlichem Hutschrauber für Hubschrauber, Kräutertür für Korridortür und Staubsaufer für Staubsauger. Siehe Donalies 2002 und Belege c. und d.

Beispiele

  1. Eisbein
  2. Hängematte
  3. Kichererbse
  4. Maulwurf
  5. Meerrettich
  6. Muckefuck
  7. Muskelkater
  8. mutterseelenallein
  9. Schattenmorelle
  10. Sündflut
  11. Vielfraß

Korpusbelege

a    Noch Tage nach der furchtbaren Unglücksnacht, in der das Wasser wie eine Sündflut auf das nach sengender Sommerhitze ausgedörrte Land niederging und kleine Rinnsale in rasende Flüsse verwandelte, lagen auf der Rambla von Tarrasa Steinblöcke, die durch Menschenkraft nicht zu bewegen waren. (Die Zeit 1962)
b    Was war ich erschrocken, als von Bettina und Jakob die Einladung ins Haus trudelte – zum Lungenbraten! Zum Lungenbraten! Nichts gegen Überraschungen, aber ich kannte Bettinas Vorlieben für besondere Belletristik und kleine Nagetiere. Allzu viel Überraschung muss nicht immer sein im Leben. Auch nicht in meinem, also rief ich Jakob an, fragte diskret, was seine Frau da auf den Tisch zu zaubern ausgeheckt habe und erfuhr: "Lass Dich überraschen!" Nicht eine einzige Ingredienz war Jakob zu entlocken. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 15.05.2003)
c    „Was ist ein Heim?“ „Das ist ein großes Haus mit vielen Kindern und mit Heimbetreuern, die sich um dich kümmern.“ „Was sind Heimwehstreuer?“ (Paris, Gilles (2007): Autobiografie einer Pflaume. Roman. Übersetzt von Melanie Walz. München: btb, S. 16)
d    Aber Papa motivierte mich immer, das Beste aus meinem Mistgeschick zu machen. (Wilson, Christopher (2018): Guten Morgen, Genosse Elefant. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 13)

Hinweise

Neumotivierung wird mitunter genauso wie die terminologisch alternativen Verfahren Pseudomotivierung, sekundäre Motivierung, Volksetymologie allgemein der Wortbildung zugeordnet, meint aber auch reine Bedeutungsveränderung und ist dann keine Wortbildung, zum Beispiel die Umdeutung von etabliertem Feldherr ‚militärischer Oberbefehlshaber‘ in Feldherr ‚Saatgutproduzent, der die Anbaupraxis auf bäuerlichen Feldern oktroyiert‘. Siehe allgemein Olschansky (1996) und Olschansky (2017).

die Feld-Herren aus der Saatgut-Branche(Geo 5/2000, S. 104)
Künstlerisch veranlagte Höhlenbewohner hatten die Gebeine zu dekorativen Zwecken benutzt, Knochenornamente in die Wände gefügt oder ganze Tunnel mit Totenköpfen gepflastert – hier bekam der Begriff Kopfsteinpflaster eine ganz neue Bedeutung.(Moers, Walter (2004): Die Stadt der träumenden Bücher – Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München: Piper, S. 185)

Der bis heute gebräuchlichste Terminus Volksetymologie wurde im 19. Jahrhundert vom deutschen Archivar Ernst Förstemann geprägt. Siehe Förstemann (1852). Der Terminus verleitet allerdings dazu, dem Volk Diletantismus zu unterstellen. Diese „sprachwissenschaftliche Behandlung vorwissenschaftlicher Sprachreflexion" kritisiert Antos (1996, S. 216). Das Volk will ohnehin nicht die Etymologie ergründen, sondern Wörter verständlich oder jedenfalls leichter memorier- und rezipierbar machen, also Kommunikation optimieren.

Siehe auch

Andere Bezeichnungen

Pseudomotivierung, Remotivierung, sekundäre Motivierung, Volksetymologie

Übersetzungen

remotivation lexicale (französisch), rimotivazione (italienisch), (nymotivering) (norwegisch), remotywacja (polnisch), remotiváció (ungarisch)

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