Das Präsens

(norwegisch: presens)


Präsens liegt z. B. in folgenden Sätzen vor:

Das ist eine Marotte von mir. Ich rauche Zigarillos und immer fünf pro Tag, aber das ist nur der Durchschnitt. [Roman Herzog, am 22.1.1994 in SDR3: Leute]

Vom Knall geweckt rümpft nur der Hase, zwei, drei, vier Mal die Schnuppernase ... [Loriot, Advent]

Wir reden immer von der Kritik, oder wir reden nur von den Leuten, die meinen, die Kritik bestimmen zu können. [Günter Grass, Oktober 1995 in SDR3: Leute]

... So a Antwort bekommen Sie von einem Politiker nur, wenn sie falsch ist. [Manfred Rommel, 1996 in SDR3: Leute] (mit schwäbischer Aussprache)

Das Präsens ist das prototypische Tempus des Gegenwartsbezugs. Anders als die Bezeichnung 'Präsens' aber vermuten lassen könnte, ist der Gebrauch des Präsens nicht auf das Reden über ein Geschehen in der gegenwärtigen Sprechzeit festgelegt. Beim Präsens ist die Lage der Betrachtzeit relativ zur Sprechzeit offen:

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Auch im Norwegischen ist das Präsens (norw. presens) das prototypische Tempus des Gegenwartsbezugs, doch auch hier ist der Gebrauch des Präsens nicht auf das Reden über ein Geschehen in der gegenwärtigen Sprechzeit festgelegt. Wie im Deutschen ist die Lage der Betrachtzeit relativ zur Sprechzeit offen. In der Darstellung der Norsk referansegrammatikk (1997) entspricht Gegenwartsbezug der Konstellation [H, P, U], also dem Zusammenfall von Ereigniszeit (hendelsestid (H)), Referenzpunkt (P) und Sprechzeit (utsagnstid (U)), wobei die Ereigniszeit (H) jedoch häufig weiter ausgedehnt ist als der Augenblick des Sprechens. Folgende Typen der Verwendung des Präsens mit Gegenwartsbezug werden genannt, vgl. ebd. 562-564):

Vollständiger Zusammenfall von H und U in performativen Aussagen:

Jeg døper deg i navnet til Fadderen, Sønnen og Den Hellige Ånd! (Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes, und des Heiligen Geistes!)
Jeg lover å komme! (Ich verspreche zu kommen!)

H hat eine größere Ausdehnung als U in folgenden Fällen:

Bei durativen Aktivitäts- oder Zustandsverben:

Gutten skriver stil. (Der Junge schreibt einen Aufsatz.)
Det lukter godt. (Das riecht gut.)
Styret eier halvparten av aksjene. (Dem Vorstand gehört die Hälfte der Aktien.)

In habituellen Aussagen:

Hver dag går jeg en tur før frokost. (Jeden Tag laufe ich ein Stück vor dem Frühstück.)
Martin spiller golf. (Martin spielt Golf.)
Jeg sover godt om natten. (Ich schlafe gut nachts.)

In Aussagen, die Fertigkeiten oder Fähigkeiten einer Person beschreiben, die die Handlung ausführen:

Else snakker fransk. (Else spricht Französisch.)
Hun er flink med hendene. (Sie ist gut mit den Händen.)

In allgemeingültigen Aussagen (vgl. Bemerkungen zum zeitlosen Präsens im Deutschen unten):

To ganger to er fire. (Zwei mal zwei ist vier.)
Jorden er rund. (Die Erde ist rund.)
Vann koker ved 100 grader celsius. (Wasser kocht bei 100 Grad Celsius.)

In Sprichwörtern (vgl. Bemerkungen zum zeitlosen Präsens im Deutschen unten):

Gammel vane er vond å vende. (Alte Gewohnheit ist schwer zu wenden.)
Et uhell kommer sjelden alene. (Ein Unglück kommt selten allein.)
Er enden god, er allting godt. (Ist das Ende gut, ist alles gut.)

Nicht gegenwartsbezogene Verwendungsweisen

Mit dem Tempus Präsens werden nicht nur Vorgänge und Ereignisse bezeichnet, die in der Gegenwart stattfinden. Es gibt neben dem gegenwartsbezogenen Präsens noch weitere Bezüge mit Betrachtzeiten, die kontextbedingt als nicht-gegenwärtig festgelegt sind. Dies kann für stilistische Effekte genutzt werden. Die Betrachtzeit kann durch Temporaladverbialia (z. B. heute, im letzten Monat, demnächst) im Satz selbst festgelegt oder durch zeitgebunden zu interpretierende Nominalphrasen (der derzeitige Titelträger, Napoleon der Dritte) im Satz erschließbar sein:

Gestern sitze ich mit Charly im alten Rathaus und wer kommt herein: der Oskar Lafontaine!

Der VfB spielt in der nächsten Saison immer am Samstag.

Im ersten Beispiel steht die Präsensform sitze in Konkurrenz zu der in ähnlich gelagerten Kontexten üblicheren Präteritumform saß (im süddeutschen Raum zur Präsensperfektform bin gesessen). Die Verwendung der Präsensform dient hier dazu, eine spezielle stilistische Wirkung, eine Vergegenwärtigung, zu erzielen. Das zweite Beispiel verdient besondere Beachtung, denn, anders als die traditionelle Bezeichnung suggeriert, wird im Deutschen meist Präsens und nicht etwa das Futur verwendet, wenn von Zukünftigem die Rede ist. Es handelt sich dann um eine Verwendung als 'futurisches' Präsens.

Wo die Kontextunterstützung fehlt und auch Weltwissen nicht weiterhilft, wird zum Futur gegriffen, um von Zukünftigem zu sprechen:

Wir werden ein Haus am Meer haben und ein eigenes Segelboot.

Stellt man diese Ankündigung in einen Kontext, in dem vorab klar ist, dass von Erwartetem die Rede ist, könnte ohne weiteres die Präsensform gewählt werden.

Du wirst sehen, in ein paar Jahren geht es uns wieder besser. Wir haben ein Haus am Meer und ein eigenes Segelboot.

Auch Äußerungen, in denen die Betrachtzeit nicht ausdrücklich spezifiziert ist, lassen sich dennoch oft hinreichend genau interpretieren, wenn man allgemeine Prinzipien für kommunikatives Handeln in Rechnung stellt.

Das weitgehende Fehlen einer Festlegung der Betrachtzeit beim Präsens und die damit verbundene Flexibilität machen das Präsens zum idealen Tempus für zeitunabhängige Aussagen:

Wissenschaft ist im eigentlichen Sinne Muße [...] [Heimpel 1960, 78]

sowie für Aussagen, die relativ zu im Kontext bestimmten Zeitintervallen zutreffen:

Aber am Schluss ist mir nur wichtig, dass wir am 27. September bei den ausgezählten Stimmen die Mehrheit haben. [Wolfgang Schäuble, 1998 in SWR1: Leute]

Es kann sich um die Sprech- oder Kommunikationszeit handeln, aber auch um ein Intervall in Zukunft oder Vergangenheit. Der Sprecher/Schreiber hat dabei Sorge zu tragen, dass die Betrachtzeit durch sprachliche Ausdrücke wie z. B. Temporaladverbialia – auch im weiteren Kontext – spezifiziert ist oder anhand pragmatischer Prinzipien erschließbar ist.

Ein zeitloses Präsens wird z. B. in Phraseologismen, Sprichwörtern, allgemeingültigen Aussagen und Gesetzestexten verwendet und hat immerwährende Gültigkeit:

Die Axt im Hause ersetzt den Zimmermann.

Bei der Verwendung von Sätzen im Präsens, bei denen die Betrachtzeit vor der Sprechzeit liegt, wird vor allem in mündlicher Rede durch die 'szenisches' Präsens genannte Verwendung ein stilistischer Effekt der Vergegenwärtigung erzielt, insbesondere, wenn solche Sätze in Erzählsequenzen auftreten, die Vergangenheitstempora gebrauchen:

Karl kam beim Fest mit der Flasche ins Zimmer, Pauline dreht sich um, und die Flasche fliegt in hohem Bogen auf den Boden.

Das weiß ich noch, und zwar just, als ich's erste Mal lief, da spielte Bayern bei Ajax Amsterdam, und es läuft die Halbzeit, und die wurde verkürzt von irgendeinem wildgewordenen Uefa-Funktionär, der, nach dreizehn Minuten schickt er die Mannschaften raus, und ich frag noch so über, über unsere Regie: "Sag mal, Leute, wie lang läuft die Werbung noch?" - Ja noch - fff - drei Minuten. - Sag ich: "Das kann ich mir aber nicht vorstellen, weil die Herrschaften kommen gerade auf den Platz." - Ja, is aber so. - Um's kurz zu machen: Normal sagt man dann immer beim Zurückkommen: "Und es ist 20, 30 Sekunden gespielt. Sie haben nichts verpasst." Was passierte dort? Litmanen - ich seh die Szene vor mir, die werd ich in hundert Jahren nicht vergessen - es läuft als letzte Werbung, und zwar zum ersten Mal, die Bitburger-Geschichte mit mir. Ich seh mich da. Litmanen holt aus und versenkt das Ding. [Marcel Reif in SDR3: Leute, Best of Leute 1997]

Eines Morgens hatte ich nach meiner Gewohnheit das Holz durchstrichen, die Fährte eines Hirsches zu verfolgen. Zwei Stunden hatte ich mich vergeblich ermüdet, und schon fing ich an, meine Beute verloren zu geben, als ich sie auf einmal in schussgerechter Entfernung entdeckte. Ich will anschlagen und abdrücken – aber plötzlich erschreckt mich der Anblick eines Hutes, der wenige Schritte vor mir auf der Erde liegt. [Friedrich Schiller (1786), Der Verbrecher aus verlorener Ehre. →E-Text]

Fast schon konventionalisiert ist auch die Verwendung des vergangenheitsbezogenen Präsens in historischen Texten ('historisches' Präsens), bei denen Datumsangaben die Bestimmung der Betrachtzeit erleichtern:

1918 beendet Ludwig Wittgenstein seinen Tractatus Logico-Philosophicus.

Zweiter Oktober 1989, 20.000 Menschen demonstrieren in Leipzig. Am zweiten Oktober ist die Nikolai-Kirche schon um 17 Uhr völlig überfüllt. Vor der Kirche drängen sich noch einmal mehrere tausend Menschen.
[Susanne Henn in der Sendung 40 Tage im Herbst, SWR 1, 1999]

Im Zusammenhang mit dem 'historischen Präsens' stehen auch entsprechende Verwendungsweisen des Futurs und des Futurperfekts.


Die Möglichkeiten der nicht gegenwartsbezogenen Verwendung des Präsens im Norwegischen entsprechen denen im Deutschen. Neben dem Futur (presens futurum) ist das Präsens das Tempus, das häufig einen Zukunftsbezug zum Ausdruck bringen kann. In der Darstellung der Norsk referansegrammatikk (1997: 570) kann dies zum einen der punktuellen Zeitrelation der "Gegenwartszukunft" (norw. nåtids-framtid), also der Konstellation [U – H, P] (Sprechzeit U vor der Ereigniszeit H und dem Referenzpunkt P) entsprechen, vgl. die Darstellung des norwegischen Tempussystems in der Norsk referansegrammatikk. Dabei muss der Zeitpunkt in der Zukunft (also der Referenzpunkt) durch ein entsprechendes Adverbiale gekennzeichnet sein:

Vi reiser til utlandet i morgen. (Wir reisen morgen ins Ausland.)
Toget går om ti minutter. (Der Zug fährt in zehn Minuten.)

Das norwegische Präsens kann auch die terminative (also nicht-punktuelle) Zeitrelation "Nach-Gegenwart" (norw. etter-nåtid) zum Ausdruck bringen, entsprechend der Konstellation [U, P – H] (Sprechzeit U und Referenzpunkt P vor der Ereigniszeit H), vgl. wieder die Darstellung des norwegischen Tempussystems in der Norsk referansegrammatikk. Hier können Adverbiale mit unbestimmter, "terminativer" Zeitreferenz die Handlung nach der Sprechzeit U lokalisieren, z. B. heretter (hiernach), etter nå (ab jetzt), fra nå av (von nun an), die Zeitreferenz kann aber auch implizit bleiben:

Heretter reiser vi til utlandet i ferien. (Hiernach reisen wir ins Ausland in Urlaub.)
Vi kommer tilbake til denne saken. (Wir kommen auf diese Sache zurück.)

Weitere Beispiele für zukunftsbezogene Verwendungen des Präsens:

Bei "momentanen" Verben und Verben, die den Anfang oder das Ende einer Handlung markieren:

Hun begynner i 2. klasse. (Sie fängt in der 2. Klasse an.)
Hun slutter på skolen. (Sie hört mit der Schule auf.)
Vi kommer hjem. (Wir kommen nach Hause.)
Dere treffer mange slektninger i USA. (Ihr trefft viele Verwandte in den USA.)
Du glemmer det bare! (Du vergisst das nur!)

Bei Sätzen mit durativen Verben kann der Zukunftsbezug durch entsprechende Adverbialia markiert werden oder durch (Adverbial-)Komplemente, die dem Verbalkomplex eine nicht-durative Bedeutung geben (können):

I morgen er jeg på Lillehammer. (Morgen bin ich in Lillehammer.)
Vi sitter oppe når du kommer hjem. (Wir sitzen oben, wenn du nach Hause kommst.)
Vi spaserer ned til byen. (Wir laufen runter in die Stadt.)

Bei durativen Verben, die einen Zustand beschreiben, der auch in der Zukunft andauert. Der Zukunftsbezug kann auch aus dem Kontext hervorgehen:

Den som lever i år 2050, får se. (Wer im Jahr 2050 lebt, kann/wird sehen.)
De som bor her om et år, vil sette pris på endringene. (Die, die in einem Jahr hier wohnen, werden die Änderungen zu schätzen wissen.)
(Det er langt fram til år 2050.) Mye er nok annerledes da. ((Es ist lange hin bis zum Jahr 2050.) Vieles ist da wohl anders.)

In Nebensätzen mit når (wenn) und hvis (falls), drücken Präsensformen häufig einen Zukunftsbezug aus (bei durativen und nicht-durativen Verben) :

Når du blir eldre, vil du nok huske dette. (Wenn du älter wirst/bist, wirst du dich daran erinnern.)
Hvis det blir oppholdsvær, kan vi ha fest i helgen. (Wenn das Wetter trocken wird/bleibt, können wir am Wochenende ein Fest machen.)
Når du finner henne, må du si fra. (Wenn du sie findest, musst du Bescheid sagen.)
Hvis jeg trives i jobben, fortsetter jeg fram til jul. (Wenn es mir auf der Arbeit gefällt, mache ich bis Weihnachten weiter.)

Die Verwendung des Präsens mit Vergangenheitsbezug als dramatisches (episches, szenisches) oder historisches Präsens ist auch im Norwegischen möglich ebd. 556) :

Dramatisches Präsens (dramatisk presens): Han tok smiehammeren og ville slå til Gunhild med skaftet. Han traff ikke, – hun griper hammeren, råker øret hans og flår huden. [...] [Holt, Kåre. 1965. Kongen. Mannen fra utskjæret. Oslo: Gyldendal]
(Er nahm den Schmiedehammer und wollte Gunhild mit dem Schaft schlagen. Er traf nicht, – sie greift den Hammer, trifft sein Ohr und streift die Haut. [ ...])

Historisches Präsens: Mai 1945: Norge er på ny et fritt land. (Mai 1945: Norwegen ist wieder ein freies Land.)


Aufgabe zum Tempus Präsens

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Autor(en)
Wiebke Ramm
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