Der Formenbestand des deutschen Tempussystems
Unter Tempus ist, wie unter Modus, Genus
verbi, Verbnumerus und
Person, ein Gesichtspunkt der
Einteilung – eine Kategorisierung – von Verbformen zu verstehen.
Verbformen in einem bestimmtem Tempus zeigen an, dass und wie
Sätze in Hinblick auf ihre zeitliche Einordnung zu interpretieren sind.
Dabei wirken die Verbformen zusammen mit Ausdrücken anderer
Ausdruckseinheiten, insbesondere mit solchen, die als Temporaladverbialia
fungieren.
Unter dem Einfluss der lateinischen Grammatik hat man die morphologische Unterscheidung zwischen synthetisch (durch Flexionsaffixe) gebildeten finiten Formen und analytisch gebildeten Formen oft vernachlässigt und ist damit zu einem der lateinischen Grammatik angenäherten System von sechs Tempora gelangt, die traditionell als Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II bezeichnet werden (vgl. Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, 5. Aufl.).
In ProGr@mm präsentieren wir ein davon abweichendes System, das ausgeht von
- den infiniten Formen
- Infinitiv (Präsens) (=Infinitiv I)
- Infinitiv Perfekt (=Infinitiv II)
- Partizip Perfekt (=Partizip II)
- den zwei synthetisch gebildeten Tempusformreihen
- dem analytisch gebildeten Futur (=Futur I)
- den drei übrigen analytischen Formen, die als Resultat
der Kombination einer Hilfsverbform mit dem Partizip Perfekt bzw. Infinitiv
Perfekt behandelt werden
- Präsensperfekt (=Perfekt)
- Präteritumperfekt (=Plusquamperfekt)
- Futurperfekt (=Futur II)
Der Infinitiv Perfekt wird analytisch gebildet aus dem Infinitiv des verbspezifischen Hilfsverbs – haben oder sein – und dem Partizip Perfekt des entsprechenden Verbs.
Präsens finites Vollverb ich spiele | Präteritum finites Vollverb ich spielte | Futur werden (finite Präsensform) + Infinitiv (Vollverb) ich werde spielen |
Präsensperfekt haben/sein (finite Präsensform) + Partizip Perfekt (Vollverb) ich habe gespielt | Präteritumperfekt haben/sein (finite Präteritalform) + Partizip Perfekt (Vollverb) ich hatte gespielt | Futurperfekt werden (finite Präsensform) + Infinitiv Perfekt (Vollverb) ich werde gespielt haben |
Die Norsk referansegrammatikk (1997: 542) klassifiziert das Tempussystems im Norwegischen in ähnlicher Weise. Die Unterschiede zum Deutschen beruhen zum einen darauf, dass das Norwegische über ein kombiniertes Tempus-Modus-System verfügt, was dazu führt, das Präteritalformen konjunktivisch verwendet werden können (vgl. Verbalkomplex, Modalverben im Verbalkomplex, Hilfsverben im Verbalkomplex, Flexion nach Tempus und Modus). Zum anderen beruhen die Unterschiede darauf, dass Futurformen mit Hilfe der Modalverben skulle und ville gebildet werden (sowie mit der Form komme til å). Die mit Präteritalformen der Modalverben gebildeten Formen des preteritum futurum und preteritum perfektum futurum sind daher im Norwegischen Teil des Tempus-Modus-Systems, während ihre deutschen Entsprechungen in den Bereich des Konjunktivs fallen (Grundtempus und Perfekttempus des Konjunktiv II). Es wird zwischen den folgenden Tempus-Modus-Formen unterschieden (ebd.: 542):
- den infiniten Formen
- presens infinitiv
(å) reise - perfektum
partisipp
reist - perfektum infinitiv
(å) ha/være reist - perfektum futurum infinitiv
(å) skulle/ville (ha/være) reist - futurum infinitiv
(å) skulle/ville reise
- presens infinitiv
- den zwei synthetisch gebildeten Tempusformreihen (norw.:
enkle former)
-
presens
reiser -
preteritum
reiste
-
presens
- den analytischen Formen (norw.: sammensatte former)
- presens perfekt
har/er reist - preteritum perfektum (=
pluskvamperfektum)
hadde/var reist - presens perfektum futurum (= 2.
futurum)
skal/vil ha/være reist - preteritum perfektum futurum (= 2.
kondisjonalis)
skulle/ville (ha/være) reist - presens futurum (das Futur wird hier nicht als
Sonderfall wie im Deutschen – analytisch gebildet aber zu den einfachen
Tempora gezählt – behandelt)
skal/vil reise - preteritum futurum (= 1.
kondisjonalis)
skulle/ville reise
- presens perfekt
Alle Tempusformen werden einem "presenssystem" (presens, presens perfektum, presens perfektum futurum, presens futurum) und einem "preteritumssystem" (preteritum, preteritum perfektum, preteritum perfektum futurum, preteritum futurm) zugeordnet . Dies ist die einzige Tempusopposition, die als Flexionsform am Verb (Hilfsverb oder Vollverb) zum Ausdruck gebracht wird. Bei den analytischen Formen wird weiterhin zwischen einem "perfektumssystem" (gebildet mit den Hilfsverben ha und være) und einem "futurumssystem" (gebildet mit den Modalverben skulle und ville sowie komme til å + Infinitiv) unterschieden: Presens perfektum und preteritum perfektum gehören ausschließlich zum "perfektumssystem", presens futurum und preteritum futurum gehören zum "futurumssystem" und presens perfektum futurum und preteritum perfektum futurum gehören zu beiden Systemen (ebd.: 541).
Der perfektum infinitiv wird wie im Deutschen analytisch gebildet aus dem Infinitiv des Hilfsverbs (ha oder være) und dem perfektum partisipp des entsprechenden Verbs. Der futurum infinitiv wird analytisch gebildet aus dem Infinitiv des Modalverbs (skulle oder ville) und dem Infinitiv des entsprechenden Verbs. Der perfektum futurum infinitiv wird analytisch gebildet aus dem Infinitiv des Modalverbs (skulle oder ville), dem Infinitiv des Hilvsverbs ha oder være (optional) und dem perfektum partisipp des entsprechenden Verbs.
Synthetische Formen: | presens finites Vollverb jeg reiser | preteritum finites Vollverb jeg reiste |
Analytische
Formen (perfektumssystem): | presens
perfektum ha/være (finite Präsensform) + perfektum partisipp (Vollverb) jeg har/er reist | preteritum
perfektum a/være (finite Präteritalform) + perfektum partisipp (Vollverb) jeg hadde/var reist |
Analytische
Formen (perfektumssystem + futurumssystem): | presens
perfektum futurum skal/vil (finite Präsensform des Modalverbs) + perfektum infinitiv (Vollverb) jeg skal/vil ha/være reist | preteritum
perfektum futurum skulle/ville (finite Präteritalform des Modalverbs) + Infinitiv des Hilfsverbs (optional) + perfektum partisipp (Vollverb) jeg skulle/ville (ha/være) reist |
Analytische
Formen (futurumssystem): | presens
futurum skal/vil/kommer til å (finite Präsensform) + Infinitiv (Vollverb) jeg skal/vil/kommer til å reise | preteritum
futurum skulle/ville/kom til å (finite Präteritalfom des Modalverbs bzw. von komme til å) + Infinitiv (Vollverb) jeg skulle/ville/kom til å reise |
Formenbestand des starken Verbs gehen
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Formenbestand des schwachen Verbs machen
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Formenbestand des gemischten Verbs kennen
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In diese Übersicht nicht aufgenommen wurden die sogenannten "superkomponierten Formen" aus finitem Hilfsverb + Partizip Perfekt des Vollverbs + Partizip Perfekt des Hilfsverbs, die regional als Ersatzformen des Präteritumperfekts gebräuchlich sind, wo Formen des Präsensperfekts in der dem Präteritum entsprechenden Funktion auftreten, z. B.:
Altmünster hat vor vielen Jahren die Trasse für eine Umfahrungsstraße festgelegt gehabt. Damals hat sich die Bevölkerung vehement dagegen gewehrt. [Oberösterreichische Nachrichten, 27.01.1999]
"Superkomponierte Formen" sind – laut Hauser-Suida/Hoppe-Beugel – in den oberdeutschen Mundarten, aber auch in den ost- und westmitteldeutschen verbreitet. In der geschriebenen Hochsprache kommt die sogenannte Doppelumschreibung selten vor.
Ich hab's zwar das alles schon vorher gehört gehabt, dass sowas möglich ist, aber ich hab's nicht, äh, für realisitisch gehalten, dass das sich verwirklichen könnte. [Manfred Rommel, 2.9.1998 im Gespräch mit Martin Born in SWR 4: Unternehmungen]
Weitere Beispiele für "superkomponierte Formen" mit dem finiten Hilfsverb im Indikativ Präsens (1) und Präteritum (2, 3), Konjunktiv I (4), Konjunktiv II (5, 6):
(1) "Ich hab schon halb geschlafen gehabt, als am Dienstagabend um halb zwölf der Anruf mit der Auslosung kam." [Berliner Zeitung, 22.05.2003]
(2) "Das war ein ganz schwaches Spiel von beiden Mannschaften. Diese Partie hatte keinen Sieger verdient gehabt, das Remis ist gerecht." [Mannheimer Morgen, 29.08.2005]
(3) Die französischen Experten waren bereits in den vergangenen drei Monaten von der Baustelle abgezogen gewesen. [Die Presse, 17.06.1995]
(4) Er habe damals reichlich Alkohol getrunken gehabt, und seine Aktion habe sich natürlich gegen die Terroristen um Bin Laden gewandt. [St. Galler Tagblatt, 09.11.2001]
(5) Wäre die Partie beim SV Traisen nach genau 90 Minuten abgepfiffen worden, hätte Stromberg verloren gehabt und wäre nun Dritter. [Rhein-Zeitung, 11.04.2005]
(6) Paul Friberg: Meines Erachtens hätte Kuhn in beiden Spielen andere Leute bringen müssen. [...] Spätestens gegen die Türken wäre der Zeitpunkt gekommen gewesen, Barnetta zu ersetzen. [Die Südostschweiz, 14.06.2008]
Ein ausführlicherer Überblick zur Bildung der synthetischen Tempussformen wird in den Einheiten zur Verbflexion, insbesondere Flexion nach Tempus und Modus und Flexionsklassen der Verben, präsentiert.
Einfache vs. zusammengesetzte Tempora
Neben der morphologischen Unterscheidung von synthetisch und analytisch gebildeten Tempusformen, kann noch ein weiterer Unterschied zur Beschreibung der Tempora herangezogen werden, nämlich der zwischen semantisch einfachen (Präsens, Präteritum, Futur) und zusammengesetzten Formen (Präsensperfekt, Präteritumperfekt, Futurperfekt), der bei der Analyse der Bedeutung der Tempora genutzt werden kann:
einfach | zusammengesetzt | |
synthetisch | Präsens Präteritum | — |
analytisch | Futur | Präsensperfekt Präteritumperfekt Futurperfekt |
Die Bedeutung der zusammengesetzten Tempora lässt sich kompositional aus der Bedeutung des finiten Hilfsverbs und des infiniten Bestandteils der analytischen Tempusform gewinnen.
Beim Futur handelt es sich – im Gegensatz zum Präsens und zum Präteritum – um eine analytische Form. Dennoch ordnen wir es unter die einfachen Tempora, denn:
- Die Bedeutung lässt sich nicht in einfacher Weise kompositional gewinnen aus der Bedeutung des Hilfsverbs werden im Präsens und der Bedeutung des Infinitivs.
- Das Konjugationsparadigma ist im Vergleich zu den beiden
anderen Tempushilfsverben haben und sein
unvollständig. Die Hilfsverben haben und
sein kommen bei den analytisch gebildeten Tempusformen
Präsensperfekt und Präteritumperfekt einerseits im Präsens,
andererseits auch im Präteritum vor. Für das Hilfverb
werden gibt es keine entsprechende
Form:
Ich habe gesehen – Ich hatte gesehen
Ich bin gekommen - Ich war gekommen
versus
Ich werde kommen - *Ich wurde kommen. - Das analytische Futur verhält sich zum Futurperfekt in seiner Bedeutung wie die einfachen Tempora Präsens und Präteritum zu ihren zusammengesetzten Tempusformen Präsensperfekt und Präteritumperfekt.
Im Unterschied zum traditionellen System werden hier die zusammengesetzten Tempora schon in der Terminologie als solche ausgewiesen. Die Bildung des Kompositums Präsensperfekt ist z. B. motiviert, da das Tempus Präsensperfekt aus einem Hilfsverb im Präsens und einem Partizip Perfekt gebildet wird. Die Summe der Bedeutung beider Konstituenten des Kompositums trägt zur Analyse der temporalen Bedeutung bei.