Hilfsverben im Verbalkomplex
Die zusammengesetzten Verbformen im Norwegischen stellen ein kombiniertes Tempus- und Modussystem dar:
Während die zusammengesetzten Vergangenheitsformen mit Hilfe der Hilfsverben (norwegisch: hjelpeverb) ha und være gebildet werden, werden die Zukunftsformen mit Hilfe der Modalverben (norw.: modalverb) skal und vil, sowie mit der Konstruktion kommer til å gebildet. Die temporale und modale Funktion der Hilfsverben ist dabei nicht klar voneinander zu trennen.
Die zusammengesetzten (periphrastischen) Formen des Passivs werden im Norwegischen mit bli und være gebildet.
Die Hilfsverben im Paradigma der Vollverben
Als Hilfsverben werden die Verben haben, sein und werden bezeichnet, wenn sie mit einer oder mehreren infiniten Verbformen kombiniert werden, z. B.:
(2) Che Guevara hat sicherlich den Armen helfen wollen. [Salzburger Nachrichten, 26.01.1998]
(3) Die Zahl der Kubatouristen ist 2003 deutlich gestiegen. [die tageszeitung, 05.01.2004]
(4) Die Saison ist eröffnet. [Berliner Zeitung, 05.04.2004]
(5) Zwischen elf und 14 solcher Arbeitsplätze werden jährlich geschaffen. [Kleine Zeitung, 09.01.2000]
(6) Wir werden diese Inszenierung ganz rasch vergessen haben. [Die Zeit (Online-Ausgabe), 25.04.2001]
(7) Vor vier Wochen wurde ein Friedensabkommen für Südsudan unterschrieben. [die tageszeitung, 08.02.2005]
Die Verbindung der Hilfsverben mit einem Vollverb oder Modalverb wird Verbalperiphrase genannt. Die Verbalperiphrase ist eine komplexe Verbform, sie heißt auch "umschriebene", "periphrastische" oder "analytische" Verbform. In den zusammengesetzten Tempuskategorien (Präsensperfekt, Präteritumperfekt, Futur, Futurperfekt) und im Passiv kommen nur Verbalperiphrasen zur Geltung.
Auch im Norwegischen werden die Tempuskategorien presens perfektum, preteritum perfektum, presens futur, preteritum futurum, presens perfektum futurum und preteritum perfektum futurum durch Verbalperiphrasen gebildet. Neben den periphrastischen Passivformen gibt es im Norwegischen aber auch noch ein morphologisch markiertes Passiv, das so genannte s-passiv.
Rektion und Funktion der Hilfsverben
Die deutschen Hilfsverben werden nach ihrer Rektion und Funktion im verbalen Paradigma in drei Gruppen geordnet:
- haben und sein
- werden in der Verwendung von werden I (= werden in Tempus- und Moduskonstruktionen)
- werden in der Verwendung von werden II (= werden in Passivkonstruktionen)
haben und sein dienen in erster Linie zur Bildung der periphrastischen Formen des Präsensperfekts und Präteritumperfekts im Indikativ und in den entsprechenden Konjunktiven:
- Beide Hilfsverben regieren dabei das Partizip II eines Vollverbs:
- Er hat/hatte gearbeitet.
Er habe/hätte gearbeitet. - Er ist/war gekommen.
Er sei/wäre gekommen.
- Er hat/hatte gearbeitet.
- haben regiert auch das Partizip eines Modalverbs (a) oder den
Infinitiv eines Modalverbs (b):
- Er hat gewollt.
- Er hat kommen wollen.
- Nur sein wird zur Bildung der beiden Perfektparadigmen im
werden-Passiv gebraucht. Es regiert dann die Partizipialsonderform
worden von werden II, auf diese Weise wird eine zweifache
Präfigierung von ge- (beim Vollverb und beim Hilfsverb) vermieden (vgl.
b):
- Er ist/war gerufen worden.
Er sei/wäre gerufen worden. - *Er ist gerufen geworden.
- Er ist/war gerufen worden.
werden I dient zur Bildung der periphrastischen Tempusformen des Futurs und des Futurperfekts sowie der konjunktivischen würde-Form. In dieser Verwendung regiert werden
- den Infinitiv eines Vollverbs:
Das Mädchen wird/werde/würde rufen. - den Infinitiv eines Modalverbs:
Das Mädchen wird arbeiten müssen. - den Infinitiv des Hilfsverbs haben oder sein
(bzw. den Infinitiv Perfekt):
Das Mädchen wird gerufen haben.
Das Mädchen wird gekommen sein. - den Infinitiv werden II:
Das Mädchen wird gerufen werden.
werden II dient zur Bildung des werden-Passivs im Indikativ und in den entsprechenden Konjunktiven. In dieser Verwendung regiert werden
- das Partizip II eines Vollverbs:
Das Mädchen wird/wurde gerufen.
Das Mädchen werde/würde gerufen. - das Partizip II eines Modalverbs (in Vollverbverwendung):
Das wird immer gewollt.
Das werden-Passiv wird hier als zentrales Passiv betrachtet. Am Rande des verbalen Paradigmas befindet sich das sein-Passiv. Dabei handelt es sich um Kombinationen aus dem Hilfsverb sein und dem Partizip II:
Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die Rektion der einzelnen Hilfsverben im Deutschen und die Funktion der jeweils entstehenden Verbalkomplexe:
Hilfsverb | regierte infinite Verbform | Funktion des Verbalkomplexes |
sein | Partizip II eines Vollverbs | Präsensperfekt
und Präteritumperfekt, sein-Passiv |
sein | worden | Präsensperfekt und Präteritumperfekt im werden-Passiv |
haben | Partizip II eines Vollverbs/Modalverbs, Infinitiv eines Modalverbs | Präsens- und Präteritumperfekt |
werden I | Infinitiv eines Vollverbs/Modalverbs, Infinitiv des Hilfsverbs haben/sein (Infinitiv Perfekt), Infinitiv werden II | Futur, Futurperfekt, konjunktivische würde-Form |
werden II | Partizip II eines Vollverbs/Modalverbs | werden-Passiv |
Die norwegischen Hilfs- bzw. Modalverben in Hilfsverbfunktion bilden folgende Gruppen:
- ha und være – zur Bildung der zusammengesetzten Tempusformen presens perfektum und preteritum perfektum
- bli und være – als Hilfsverben im Passiv
- skulle und ville – als Modalverben in
Hilfsverbfunktion zur Bildung der Futurformen
(daneben können Futurformen auch mit komme til å gebildet werden)
ha und være dienen zur Bildung der periphrastischen Formen des presens perfektum und des preteritum perfektum. Im Unterschied zum Deutschen gibt es im Norwegischen keine eigenen Konjunktivformen. Beide Hilfsverben regieren das perfektum partisipp eines Vollverbs:
Han har jobbet. (Deutsch: Er hat
gearbeitet.)
Han hadde jobbet. (Deutsch:
Er hatte/hätte gearbeitet.)
Han har/er
kommet. (Deutsch: Er ist gekommen.)
Han
hadde kommet. (Deutsch: Er war/wäre
gekommen.)
Han var kommet. (Deutsch: Er
war/wäre gekommen.)
bli und være dienen zur Bildung der periphrastischen Passivformen. Sie regieren das perfektum partisipp eines Vollverbs. Modalverben sind im Norwegischen nicht passivierbar.
Kvinnen blir/er/ble/var funnet.
skulle, ville und komme til å dienen zur Bildung der periphrastischen Tempusformen des presens futurum, preteritum futurum, presens perfektum futurum und des preteritum perfektum futurum. Sie regieren dabei
- den Infinitiv eines Vollverbs:
Kvinnen vil/skal/kommer til å reise. (presens futurum)
Kvinnen ville/skulle/kom til å reise. (preteritum futurum) - den Infinitiv eines Modalverbs:
Kvinnen vil/skal/kommer til å kunne reise. (presens futurum)
Kvinnen ville/skulle/kom til å kunne reise. (preteritum futurum) - den Infinitiv des Hilfsverbs ha oder
være:
Kvinnen vil/skal/kommer til å ha/være reist. ( presens perfektum futurum)
Kvinnen ville/skulle/kom til å ha/være reist. ( preteritum perfektum futurum) - den Infinitiv bli (Passiv):
Kvinnen skal/vil/kommer til å bli funnet.
Vollverbverwendung der Hilfsverben haben, sein und werden
Die Verben haben, sein und werden können auch als Vollverben verwendet werden.
haben
Im VALBU - Valenzwörterbuch deutscher Verben werden alleine 17 unterschiedliche Bedeutungen für die Vollverbverwendung von haben angenommen.
Die Bedeutung "mit etw. ausgestattet sein" hat haben z. B. in Satz (1):
(1) Am Anfang hatte Eichel Glück. [die tageszeitung, 13.05.2004]
"von etwas befallen sein" in Satz (2):
(2) Max […] und Maren […] wird klar, dass der Igel Flöhe gehabt haben muss. [ZDF mediathek, 27.02.2007]
Auch das norwegische ha kann als Vollverb verwendet werden:
(1') Til å begynne med hadde han flaks.
(2') Hunden hadde lopper.
sein
Unter sein verzeichnet das VALBU Vollverbverwendungen, wie z. B. "von irgendwoher stammen" in Satz (3):
(3) Sie ist aus Småland. [die tageszeitung, 09.12.2005]
"etwas vertreten" in Satz (4):
(4) Der Kaiser war der Überzeugung, daß der "Unwahrheit" kein Existenzrecht gebühre. [Frankfurter Allgemeine, 24.09.2005]
Das norwegische være ist ebenfalls auch als Vollverb zu finden:
(3') Hun er fra Oslo.
werden
Auch für werden sind Vollverbbedeutungen verzeichnet:
Im Sinne von "entstehen" in Satz (5):
(5) Egal, was wird - es wird mich so oder so weiterbringen. [Hamburger Morgenpost, 06.05.2005]
Oder in der Bedeutung von "gesund werden" in Satz (6):
(6) "Das wird wieder, Kaptein. Bloß keine Panik. Das ist alles nicht ansteckend." [Hartwig, Hansi: Suse an Bord. S. 277]
Im Unterschied zu ha und være ist das norwegische bli jedoch nur in der Bedeutung von bleiben als Vollverb zu finden:
Jeg blir.
sein und werden als Kopulaverben
Als Kopulaverben dienen sein und werden der Zuschreibung einer Identifikation, einer Eigenschaft (7) und bei Personen oft auch einer Berufsbezeichnung (8):
(7) Das Projekt war eine schöne Erfahrung. [Frankfurter Allgemeine, 05.09.2001]
(8) Erst später macht sie die Begabtenprüfung für die Pädagogische Hochschule und wird Lehrerin. [die tageszeitung, 23.01.2006]
Entsprechend können auch være und bli im Norwegischen als Kopulaverben verwendet werden:
(7') Prosjektet var en fin erfaring.
(8') Først senere ble hun lærer.