Prosodie

Mit dem Begriff Prosodie bezeichnen wir diejenigen phonologischen Erscheinungen, deren Geltungsdomäne über den Einzellaut hinausgreift und deren Charakteristika sich aus dem Zusammenspiel der akustischen Merkmale Dauer, Intensität, Grundfrequenz ergibt (vgl. Selting 1995), d. h. in erster Linie Ton und Intonation, Akzent, Rhythmus, Quantität. Diese prosodischen Erscheinungen werden in der Literatur auch unter dem Begriff Suprasegmentalia zusammengefasst, wodurch hervorgehoben wird, dass sie der Artikulation der einzelnen Laute (Segmente) bzw. Lautketten (Segmentketten) überlagert werden und diese sozusagen begleiten.

Im Unterschied zu den einzelnen Lauten erfüllen die prosodischen Aspekte der Sprache nicht nur linguistische, sondern auch paralinguistische und extralinguistische Funktionen, d. h., sie dienen nicht nur zum Ausdruck der Satzmodi und der relativen Gewichtung von Wort- und Äußerungskomponenten sowie zu deren rhythmischen Gestaltung und Gliederung in Sinneinheiten (Phrasierung), sondern sie signalisieren auch Einstellungen und Emotionen der Sprecher und vermitteln Informationen über deren Alter, Geschlecht, physische Befindlichkeit etc.

Die akustisch-phonetischen Parameter, aus denen sich die verschiedenen prosodischen Erscheinungen zusammensetzen, haben jeweils artikulatorische und auditiv-perzeptive Korrelate, wobei für unsere Darstellung letztlich die auditiv-perzeptive Perspektive maßgeblich ist: Der Dauer entspricht die wahrgenommene Länge, der Intensität die Lautstärke und die unterschiedlichen Grundfrequenzwerte werden als unterschiedliche Tonhöhen wahrgenommen.

Bei der Prosodie handelt es sich nicht um zusätzliche oder periphere Eigenschaften einer Sprache, da als Sprecher einer Sprache letztlich nur gelten kann, wer ihre Prosodie beherrscht. Die Prosodie ist daher ein wichtiger Aspekt auch im L2-Erwerb, kann doch eine mangelhafte Beherrschung der Prosodie die Realisation der segmentalen Aspekte beeinflussen und zu kommunikativen Missverständissen führen.

Die prosodischen Systeme der europäischen Sprachen weisen weitgehende Ähnlichkeiten auf. Die prosodischen Merkmale sind diejenigen auffälligen Eigenschaften einer Sprache, die man sofort erkennt, wenn man das Sprechen in einer fremden Sprache hört. Aus der Alltagspraxis wissen wir, dass wir bei uns unbekannten Sprachen aufgrund des Klangs mit großer Sicherheit bestimmen können, ob es sich um eine europäische oder nicht europäische (z.B. fernöstliche oder afrikanische) Sprache handelt. So sind die Ähnlichkeiten zwischen dem deutschen und dem ungarischen prosodischen System auch weitaus größer als die Unterschiede.
Bei genauerer Betrachtung sieht man jedoch auch wesentliche Unterschiede, die im Falle des Ungarischen im Vergleich mit den meisten anderen europäischen Sprachen wegen der nicht indogermanischen Herkunft des Ungarischen wohl größer sind als im Vergleich der indogermanischen europäischen Sprachen miteinander. Die Einzelunterschiede werden in den folgenden Einheiten systematisch beschrieben. Hier werden nur die auffälligsten Unterschiede hervorgehoben, die sogar oft auch kommunikationsstörend sein können, wenn sich der Fremdsprachenlerner sie nicht bewusst macht.
Im Ungarischen benutzt man im Allgemeinen wesentlich weniger Tonbewegungen als im Deutschen (bzw. als in den meisten anderen europäischen Sprachen). Deshalb klingt das ungarische Sprechen für Ausländer als ziemlich eintönig. Diese Eigenschaft der ungarischen Prosodie erklärt sich damit, dass im Ungarischen sowohl der Wortakzent als auch der Satzakzent gebunden und dadurch prosodisch weniger stark markiert sind. Im Gegensatz dazu sind Akzente im Deutschen grundsätzlich beweglich und müssen deshalb prosodisch eindeutig markiert werden. (Der Wortakzent steht zwar auch im Deutschen meistens an der ersten Silbe des Wortes, es gibt aber viele systembedingte Ausnahmen, der Satzakzent kann hingegen auf alle Satzkonstituenten fallen, abhängig davon, was der Sprecher hervorheben will.)
In beiden Sprachen hat die Intonation ferner eine satzmodusmarkierende Funktion, indem Entscheidungsfragesätze intonatorisch markiert werden. Während sie sich im Deutschen durch einen steigenden Grenzton abheben, werden sie im Ungarischen mit einem steigend-fallenden Tonmuster markiert: der Ton steigt an der vorletzten Sprechsilbe des Satzes, ist am Satzende jedoch fallend. Dies macht ungarische Fragesätze für Ausländer schwer erkennbar, andererseits verursacht Missverständnisse in der Kommunikation ungarischer Deutschlerner: Wenn ein deutscher Fragesatz vom Sprecher nach dem ungarischen Intonationsmuster realisiert wird, wird er vom Hörer meistens nicht als Frage-, sondern als Aussagesatz verstanden.

In unserer thematischen Einheit werden wir in erster Linie Intonation und Akzentsetzung betrachten, d.h. diejenigen Eigenschaften, die sich unmittelbar auf die informationsstrukturelle Organisation auswirken. Auf Rhythmus und Quantität werden wir nur insoweit eingehen, als sie zur typologischen Charakterisierung des Deutschen beitragen. Darüber hinaus werden wir als weitere prosodische Erscheinung die Pausen besprechen, insofern als sie für die Analyse der Intonation relevant sind.

In der nachfolgenden Einheit liegen zahlreiche Beispielsätze in vertonter Form vor. Die Tonbeispiele können Sie über das Lautsprechersymbol im mp3-Format abrufen. Über das Abspiel-Symbol gelangen sie zu einer genauen Aufschlüsselung des Tonverlaufes in Form eines praat-Spektogramms (Abobe-Flash-Animation).

Diese Einheit setzt sich aus folgenden Untereinheiten zusammen:

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