Ortsspezifikation

Gegenstand

Hier liegt es nahe, zuerst an Gegenstände im alltäglichen Sinn des Wortes zu denken: Tische, Stühle, Kleidungsstücke und dergleichen mehr. Tatsächlich befinden sich solche Gegenstände ja auch immer an bestimmten Orten, auch wenn man nicht immer weiß, wo. Und doch sind es weder Gegenstände in diesem alltäglichen Sinn noch deren Benennungen, die hinsichtlich eines Ortes spezifiziert werden können, sondern vielmehr Propositionen als die sprachlichen Entwürfe von Sachverhalten.

Auf den ersten Blick mag dies etwas verwirren, denn schließlich ist es das Buch, das auf dem Tisch liegt und nicht ein Sachverhalt oder eine Proposition. Das ist zweifellos korrekt beobachtet, doch betrifft es nicht die Frage, was Gegenstand einer Ortsspezifikation sein kann, denn in einem Satz wie Das Buch liegt auf dem Tisch. wird mit der Phrase auf dem Tisch keine Ortsspezifikation erreicht, sondern mittels eines Präpositivkomplements ein Argument formuliert: Zum Ausdruck gebracht wird, dass zwischen dem Buch und dem Tisch eine bestimmte Beziehung besteht, die als 'liegen auf' bezeichnet wird.

Ortsspezifikationen hingegen liegen in den folgenden Beispielen vor.

Gegen 1 Uhr morgens schlug einer der beiden die Bedienung des Clubs an der Reichenberger Straße hinter dem Tresen nieder und stahl die Kasse.
(Berliner Zeitung 25.5.1998, 22)

Nun ist man komplett und legt - ich schliesse wehmütig die Augen und sehe den Mond über einer Reeperbahn-Soulkaschemme der siebziger Jahre aufgeh'n -, mit Soul-Jazz-Funk-Rock Marke Rufus (ohne Chaka Khan) oder Crusaders, Baujahr zirka 1975 - los.
(Züricher Tagesanzeiger 22.7.1997, 16)
Ortsspezifikationen dienen dazu, Propositionen im Hinblick auf die räumliche Lage der entworfenen Sachverhalte genauer zu bestimmen.

Da alle Ereignisse und Zustände unvermeidlich eine Position im Raum haben müssen, können - mit einer mehr theoretisch als praktisch wichtigen Ausnahme - alle Propositionen in dieser Hinsicht spezifiziert werden. Die Ausnahme bilden logische und mathematische Propositionen, bei denen eine Ortsspezifikation grammatisch zwar akzeptabel scheint, aber wenig Sinn macht, weil ihre Geltung grundsätzlich weder an Ort noch an Zeit gebunden ist. Selbst die Annahme, dass sie überall und jederzeit oder nirgendwo und niemals gelten, verfehlt den Sinn solcher Propositionen.

Diese Feststellung ist nicht so zu verstehen, als sei eine kommunikative Ausdruckseinheit wie Zwei und zwei ist überall vier inakzeptabel. Man kann dergleichen durchaus sagen und als wohlgeformt betrachten. Der Punkt ist, dass solche Aussagen in gewisser Weise den Sinn ihrer Basispropositionen verfehlen: Logische Relationen haben weder eine Wo- noch eine Wann-Dimension. Das ist so charakteristisch für sie, wie es für alle anderen Prädikate charakteristisch ist, solche Dimensionen der Spezifikation einzurichten. Unter bestimmten Umständen kann es jedoch angebracht sein, dergleichen festzuhalten, etwa, wenn man jemandem erklären will, wie es um die Geltung logischer Gesetze bestellt ist.

Die Feststellung, dass es grundsätzlich möglich ist, eine Ortsspezifikation auf eine in dieser Hinsicht noch unspezifizierte Proposition anzuwenden, besagt nicht, dass der Gebrauch von Ortsspezifikationen in der Kommunikationspraxis keinerlei Beschränkung unterliegt.

Eine vergleichende Untersuchung verschiedener Propositionen zeigt, dass Ortsspezifikationen in Verbindung mit bestimmten Prädikaten mehr oder weniger akzeptabel wirken können.

Peter trinkt in Europa ein Bier.

Was mit diesem Satz festzustellen wäre, wirkt ohne weiteren Kontext einigermaßen seltsam. Weniger seltsam wären etwa in der Kneipe, am Tresen, bei Bruno. Vergleichbares gilt für alle Arten von Ereignissen. Bei der Betrachtung isolierter Beispiele zeigen sich diese Erwartungen besonders deutlich. Da es bei der Eröffnung von Dimensionen der Spezifikation kein Mehr oder Weniger gibt, kann diese Erscheinung nur pragmatisch erklärt werden.

Verfahren

Am hohen Entwicklungsstand der Verfahren, Ortsspezifikationen vorzunehmen, zeigt sich die große kommunikative Bedeutung, die diesen Spezifikationen zukommt. Die einschlägigen Verfahren lassen sich unter drei Gesichtspunkten systematisieren.

  • Eine Ortsspezifikation kann definit [d], indefinit [i] oder generisch [g] gehalten sein.
  • Sie kann in Form einer Nennung [n], einer Charakterisierung [c] oder eines Verweises [v] erfolgen.
  • Sie kann absolut [a], in der Sprechsituation [s], an einem als Betrachtpunkt eingeführten Ort [p] oder flexibel [f] verankert sein - wobei eine flexible Verankerung von Fall zu Fall als Verankerung in der Sprechsituation oder am eingeführten Ort zu deuten ist.

Beispiele

Die Beispiele erfassen natürlich weder die kombinatorisch noch die tatsächlich möglichen Verfahren.

Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf E. Schegloff, Notes on a Conversational Practice: Formulating Place, in: D. Sudnow (Hrsg.), Studies in Social Interaction, New York, London 1972, 75-119, der die Formulierung von Ortsspezifikationen unter konversationssanalytischem Aspekt betrachtet. Schegloff untersucht englische Formulierungen, doch lassen sich seine Erkenntnisse weitgehend auf das Deutsche übertragen.

(1) In Dinkelsbühl scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. (d\n\a)
(2) Vor der dritten Ampel müssen Sie sich links einordnen. (d\c\f)
(3) Wo Schiller geboren wurde, wurde ein kleines Museum eingerichtet. (d\c\a)
(4) Eine erste Pause machen wir bei der Schwester meines Freundes. (i\c\a)
(5) Drei Kilometer weiter trafen wir auf eine Wandergruppe. (d\c\p)
(6) Dort backen sie die besten Brezeln! (d\v\f)
(7) In einem kleinen katalanischen Dorf haben wir dann einen hervorragenden Wein getrunken. (i\c\a)
(8) Im Mischwald findet man die meisten Pilze. (g\c\a)
(9) Zehn Meter von rechts von hier hat vor gut zwei Wochen der Blitz eingeschlagen. (g\c\s)
(10) Heute bin ich wieder ganz daneben. (g\v\f)

Ortsspezifikationen erfolgen - von deiktisch realisierten Spezifikationen abgesehen - stets relational. So wird etwa in den Beispielen (1), (2), (4), (5), (7) und (8) nicht einfach ein Ort genannt oder beschrieben, sondern zugleich das Verhältnis, in dem der mit der Basisproposition entworfene Sachverhalt zu diesem Ort steht. Das heißt: Was wir als Ortsspezifikation bezeichnen, wird genau genommen in zwei Schritten erreicht: Es wird erstens ein Ort genannt oder eine definite oder indefinite Charakterisierung eines Ort gegeben. Dieser Ort dient dann zweitens als Ankerpunkt für die 'eigentliche' Ortsspezifikation.

Zunächst mag dieses zweischrittige Verfahren umständlich erscheinen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass es ausgesprochen leistungsfähig ist: Statt für jeden Ort im Raum eine eigene Bezeichnung oder Charakterisierung zu fordern, erlaubt es, dieselben Charakterisierungen für eine Vielzahl von Orten zu nutzen, deren Positionen relativ zu demselben Ort bestimmt werden können.

Zwischen einer Ortsspezifikation und einer bereits in Komponenten ihrer Basisproposition realisierten weiteren Ortsspezifikation kann es zu Interferenzen kommen, jedoch nur dann, wenn letztere sich als Spezifikation der Basisproposition auswirkt. Das ist dann der Fall, wenn die Ortsspezifikationen innerhalb der Komponente zeitgleich mit der gesamten Proposition gelten und wenn der entworfene Sachverhalt an dem damit bestimmten Ort situiert sein muss. Bei einem Satz wie (11) muss das der Fall sein, wenn vergraben nicht als nachzeitig interpretiert wird, bei (12) nicht:

(11) Die im Keller gelagerten Kartoffeln vergraben sie im Garten.
(12) Die in Siena geborene Sängerin tritt zur Stunde in Basel auf.

Zu der Unverträglichkeit der Ortsspezifikationen in (11) kommt es, weil das Prädikat der Basisproposition so geartet ist, dass der Ort des entworfenen Ereignisses identisch sein muss mit dem Ort, an dem sich die Kartoffeln befinden, und weil die interne Ortsspezifikation deren aktuale Befindlichkeit feststellt. In (12) ist auch von zwei verschiedenen Orten die Rede, an denen sich ein Individuum befindet, aber die interne Spezifikation ist verbunden mit einer Zeitspezifikation, die auf sich eine andere als die Ereigniszeit der Basisproposition bezieht.

Ausdrucksmittel

Da die Ausdrücke, mit denen Ortsspezifikationen realisiert werden, sofern sie nicht rein deiktisch sind, typischerweise mit bestimmten Präpositionen gebildet werden, liegt es nahe zu versuchen, die entsprechenden Präpositionalphrasen als Ausdrücke der Ortsspezifikation zu identifizieren. Dabei ist jedoch zweierlei zu bedenken.

  • In vielen Fällen führt eine Identifikation zu zutreffenden Einschätzungen, aber mehr als ein Indiz ist das Auftreten der einschlägigen Präpositionen nicht, denn es liegt nicht allein an ihnen, ob ein Ausdruck zur Realisierung einer Ortsspezifikation geeignet ist. Das zeigen Ausdrücke wie in Erinnerung, auf Verdacht, bei Gegenwind. Zu der Präposition muss ein Eigenname oder eine Deskription treten, der oder die einen räumlichen Gegenstand und damit zugleich einen Ort im Raum denotiert, dann kann mit dieser Präposition zum Ausdruck gebracht werden, in welchem Verhältnis die Basisproposition zu dem denotierten Ort zu sehen ist.
  • Präpositionalphrasen, die in der Funktion einer propositionsspezifizierenden Ortsspezifikation gebraucht werden, sind nicht ausschließlich auf diese Funktion festgelegt. Sie können auch, wie die Beispiele (11) und (12) zeigen, in attributiver Funktion gebraucht werden. Ihre Bedeutung ist zwar in beiden Verwendungen dieselbe, nicht aber die Funktion, die sie beim Aufbau einer Proposition erfüllen.

Wie bereits die Beispiele zeigen, sind Präpositionalphrasen nicht die einzigen Ausdrucksmittel, mit denen Ortsspezifikationen vorzunehmen sind. Hinzu kommen freie situierende Genitivphrasen.

Es kommt ein Wanderer des Wegs.

Besonders positiv sei die Errichtung von Netzwerken, die den Kulturinitiativen auch anderen Orts neue Märkte und neues Publikum erschlössen.
(Frankfurter Rundschau 28.12.1999, 5)

Die Studentin insistiert und spitzt die Vorwürfe noch weiter zu und erreicht, daß ihre Klage höheren Orts angenommen, der Professor nicht befördert, schließlich sogar entlassen wird.
(die tageszeitung 4.8.1995, 16)

abseits, allseits, anbei, anderswo, daneben, draußen, drinnen, hier, irgendwo, links, nebenan, nirgends, nirgendwo, oben, ringsum, überall, unten, vis à vis

da, darunter, darauf, dort, dorthin, dorther, hier, hierhin.

Wissensvorausetzungen

Die erfolgreiche Verwendung von Präpositionalphrasen zur Ortsspezifikation ist abhängig von Wissensvoraussetzungen, die über reine Sprachbeherrschung hinausgehen. Vorauszusetzen ist dabei sowohl allgemeines Weltwissen als auch Situationswissen.

Im folgenden Beispiel werden für das Verständnis der Ortsspezifikation allgemeine geografische Kenntnisse vorausgesetzt.

Viele Touristen sind knapp einem verheerenden Hotelbrand im Osten von Kenia entkommen.
(www.spiegel.de/panorama/0,1518,263928,00.html)

Um die folgende Ortsspezifikation zu verstehen, muss man bereits sehr viel spezifischere Kenntnisse mitbringen: Man muss nicht nur wissen, in welcher Stadt sich das Bundesverfassungsgericht befindet, sondern darüber hinaus auch noch die neuere Geschichte der Stadt kennen.

Das Bundesverfassungsgericht wurde 1965-1969 nach Plänen von Paul Baumgarten an der Stelle errichtet, wo bis 1944 das von Heinrich Hübsch errichtete Hoftheater beheimatet war.
(www.karlsruhe.stadtmagazine.de)

Was im folgenden Beispiel vorausgesetzt wird, scheint so selbstverständlich, dass es als Voraussetzung gar nicht erkannt wird: Dass man als Adressat einer solchen Ortsspezifikation weiß, wo man sich aktual befindet.

Der Haupteingang der Universitätsbibliothek befindet sich im ersten Stock.

Im nächsten Beispiel wird sehr persönliches gemeinsames Wissen vorausgesetzt.

Also wir treffen uns dann heute Abend bei Petra.

Verwendungsbeschränkungen

Bei den adverbialen Ortsspezifikationen spielen Wissensvoraussetzungen kaum eine Rolle, dafür ist ihre Verwendbarkeit verglichen mit der lokalisierender Präpositionalphrasen meist stark eingeschränkt. Sie können mit Erfolg nur eingesetzt werden, wenn

  • von Ereignissen oder Zuständen die Rede ist, die sich in dem für Sprecher und Hörer sichtbaren Raum befinden und auch gestisch identifiziert werden könnten,
  • bereits im Vortext vorgenommene Ortsspezifikationen anadeiktisch wieder aufgenommen werden können.
Letztes Jahr waren wir im Sommer auf Elba. Dort hat es uns sehr gut gefallen.

Ausgenommen von diesen Beschränkungen sind nur Lokal-Adverbien wie allseits, überall und nirgends, die den gesamten Raum erfassen oder ausschließen.

Siehe weiter Propositionsspezifikationen.

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Autor(en)
Bruno Strecker
Bearbeiter
Elke Donalies
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