Präzisierung quantitativer Aussagen
In diesem Abschnitt befassen wir uns zunächst mit der Frage, mit welcher Häufigkeit endungslose Formen in verschiedenen Klassen von Substantiven auftreten. Dabei geht es vor allem darum, die eher impressionistischen Befunde der bisherigen Forschungsliteratur wie „häufig endungslos“ durch korpuslinguistisch fundierte Angaben zu ersetzen. Wir konzentrieren uns in diesem Zusammenhang zunächst auf die folgenden Problembereiche:
- Invariante Fälle: Welche Nomen bzw. Klassen von Nomen erscheinen obligatorisch endungslos (d.h., es liegt keine Variation vor)?
- Variante Fälle: Welche Nomen bzw. Klassen von Nomen erscheinen potentiell endungslos? Mit welcher Häufigkeit treten endungslose Formen in verschiedenen Substantivklassen auf?
Darüber hinaus wollen wir uns mit der Frage befassen, ob sich bestimmte, in der Literatur diskutierte Fälle nicht-standardsprachlich anerkannter Endungslosigkeit im Korpus nachweisen lassen bzw. ob endungslose Genitive in diesen Kontexten signifikant häufiger auftreten als bei anderen Nomen. Dabei konzentrieren wir uns auf Nomen, die auf -en auslauten, Diminutive und Verwandtschaftsbeziehungen.
Beginnen möchten wir mit einer zunächst recht trivial anmutenden Fragestellung,
nämlich der absoluten Häufigkeit endungsloser Formen nach Lemmata. Eine relevante Anfrage in der
SQL-Datenbank ergibt das folgende Resultat:
Nomen | Belegzahl |
1. FC | 13951 |
2. VfL | 8941 |
3. SV | 8661 |
4. MTV | 7570 |
5. TSV | 7381 |
6. Euro | 6240 |
7. SC | 4996 |
8. Wolfsburg | 4654 |
9. Nationalsozialismus | 4094 |
10. HSV | 3441 |
11. Sozialismus | 3149 |
12.Terrorismus | 2920 |
13, Fonds | 2794 |
14.VfB | 2785 |
15. Irak | 2706 |
16. Islam | 2382 |
17. Juni | 2283 |
18. Währungsfonds | 2202 |
19. TC | 2155 |
20. Holocaust | 2088 |
Tabelle 1: 20 häufigste Fälle von Nullendungen, nicht bereinigt
Unter den ersten 10 am häufigsten endungslos auftretenden Formen finden sich
sieben Abkürzungen wie FC, VFL oder SV, die in der Regel Sport-
bzw. Fußballvereine bezeichnen. Eine Überprüfung der relevanten Belege zeigt jedoch, dass hier
überwiegend Fälle vorliegen, in denen die erwähnten Abkürzungen Bestandteil komplexer Eigennamen
wie 1. FC Köln oder Vfl Wolfsburg sind. Da in diesem Fall der
Genitiv (wenn überhaupt) nur am Zweitglied des Namens markiert werden kann, sind die erwähnten
Abkürzungen für unsere Studie nicht einschlägig (eine Überprüfung der endungslosen Belege von
FC hat gezeigt, dass nach Abzug der Fälle, die von einem weiteren Nomen/Eigennamen
gefolgt werden, von 13591 Belegen weniger als 500 relevante Fälle übrig bleiben). Wir haben uns
daher entschlossen, diese Fälle nicht weiter zu berücksichtigen. Gleiches gilt für Lemmata, die
ausschließlich als Erstglieder komplexer Eigennamen (bzw. eigennamenähnlicher Ausdrücke) auftreten
und daher keine Genitivendung tragen können. Dazu gehören die Abkürzungen St. und
Dr. sowie die Lemmata New (meist in Zusammenhang mit Ausdrücken
wie New Yorks) und World (überwiegend in Ausdrücken wie
des World Wide Web oder des World Trade Center). Die
resultierende bereinigte Liste der 20 häufigsten endungslos auftretenden Lemmata (in
GenitivDB) sieht
dann wie folgt aus:
Nomen | Belegzahl |
1. Euro | 6240 |
2. Wolfsburg | 4654 |
3. Nationalsozialismus | 4094 |
4. HSV | 3441 |
5. Sozialismus | 3149 |
6. Terrorismus | 2920 |
7. Fonds | 2794 |
8. Irak | 2706 |
9. Islam | 2382 |
10. Juni | 2283 |
11. Währungsfonds | 2202 |
12. Holocaust | 2088 |
13. Kapitalismus | 2058 |
14. Kosovo | 1986 |
15. DFB | 1879 |
16. Kommunismus | 1866 |
17. Jazz | 1816 |
18. Tourismus | 1767 |
19. ZDF | 1714 |
20. Dollar | 1701 |
Tabelle 2: 20 häufigste Fälle von Nullendungen, bereinigt
Die bereinigte Liste scheint die zunächst die Befunde der einschlägigen
Grammatiken zu bestätigen. Unter den im Korpus am häufigsten endungslos auftretenden Substantiven
befinden sich
- Eigennamen (Wolfsburg1 , Irak, Kosovo)
- eigennamenähnliche Appellative (oft fremdsprachlichen Ursprungs): Monatsnamen (Juni), Musikstile (Jazz), Währungen (Euro, Dollar), Religionen (Islam), (singuläre) historische Ereignisse (Holocaust)
- Fremdwörter auf -(ismu)s (Nationalsozialismus, Sozialismus, Terrorismus, Kapitalismus, Kommunismus, Tourismus, Fonds, Währungsfonds)
- Abkürzungen (HSV, DFB, ZDF)
Dabei zeigt sich, dass für viele der genannten Wörter gleich mehrere der
Faktoren zutreffen, die in der Literatur für Endungslosigkeit verantwortlich gemacht werden:
Irak und Kosovo sind nicht-native Eigennamen, HSV, DFB
und ZDF sind Eigennamen und Abkürzungen, die eigennamenähnlichen Wörter
sind gleichzeitig überwiegend nicht-nativ, Jazz ist zugleich nicht-nativ,
eigennamenähnlich und endet auf Sibilant etc. Dies weist darauf hin, dass die Kombination mehrerer
Faktoren, die die Wahl der Nullendung günstig beeinflussen, zu einer Verstärkung des relevanten
Effekts führt.
Im Zusammenhang mit der Liste in Tabelle
2 muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass absolute Häufigkeit nicht mit
Systematizität bzw. Konsistenz der Nullvariante gleichzusetzen ist. So enthält
Tabelle 2 sowohl Wörter, die ohne Ausnahme
endungslos auftreten (z.B. nicht-native Appellative auf -ismus), als auch
Beispiele für grammatische Variation. Dabei kann die endungslose Variante überwiegen (so treten im
Korpus neben 6240x Euro lediglich 317 Beispiele für Euros auf);
es tritt jedoch auch der umgekehrte Fall auf (2706 Beispielen für Irak stehen 4925
Fälle von Iraks gegenüber). Das folgende Diagramm gibt die Verhältnisse für die
Substantive in Tabelle 2 wieder.
Abbildung 1: 20 häufigste Fälle von Nullendungen: Verhältnis von endungslosen und nicht-endungslosen Formen
Das quantitative Verhältnis von endungslosen und overt markierten Genitivformen
soll in der Folge näher beleuchtet werden. Beginnen möchten wir mit Fällen, in denen (scheinbar)
keine Variation zu beobachten ist und ausschließlich endungslose Formen möglich sind. Im
Mittelpunkt soll dabei die Frage stehen, welche Faktoren bzw. Kombinationen von Faktoren eine
ausnahmslos endungslose Realisierung des Genitivs auslösen.