Zur normativen Einordnung der Nullrealisierung

Wie aus der vorausgehenden Darstellung deutlich wird, ist das Phänomen der grammatischen Variation im Zusammenhang mit endungslosen Genitiven bislang noch unzureichend erfasst; insbesondere fehlt es an einer systematischen Aufarbeitung und Darstellung der quantitativen Verhältnisse. Der Grammatikduden unterscheidet hier zwischen "obligatorischer", "überwiegender", "häufiger", "standardsprachlich anerkannter", "potentieller" und "nicht standardsprachlich anerkannter" Endungslosigkeit, ohne diese Aussagen durch weitere empirisch-quantitative (z.B. korpusbezogene) Befunde zu stützen; ähnlich vage Angaben finden sich im Zweifelsfälle-Duden, der von "notwendigem", "zweifelsfrei möglichem", "möglichem" und "nicht-korrektem" Wegfall des Genitiv-s spricht. Darüber hinaus zeigt eine exemplarische Gegenüberstellung ausgewählter Fälle, dass die Aussagen zum Status des Wegfalls der Genitivendung in den einschlägigen Darstellungen zwar viele Übereinstimmungen aufweisen, aber trotzdem nicht immer deckungsgleich sind. Dabei zeigt sich, dass insbesondere der Duden eine konservativere Haltung vertritt und die Setzung des -s anerkennt (z.B. bei maskulinen Personennamen mit sekundärem Artikel) bzw. fordert (z.B. bei Gattungsbezeichnungen, die aus Personennamen hervorgegangen sind), wenn andere Grammatiken davon bereits absehen. Ferner lässt sich feststellen, dass die Empfehlungen zur Realisierung der Genitivendung in den letzten 50 Jahren einigen Schwankungen unterliegen und auf diese Weise Sprachwandeltendenzen im Gegenwartsdeutschen reflektieren. So erkennt der Grammatikduden erst seit der Ausgabe von 2006 den endungslosen Gebrauch von Wochentagen als normgerecht an. Die folgende Tabelle (basierend auf Paulfranz 2013: 53ff.; hier neu geordnet, gekürzt und ergänzt durch Beispiele und die Empfehlungen des aktuellen Zweifelsfälle-Dudens (ZD)) gibt einen Überblick über die Aussagen zur endungslosen Realisierung des Genitivs in einer Reihe einschlägiger Grammatiken zum Deutschen.1

1Die verwendeten Kürzel schlüsseln sich wie folgt auf: D: Ausgaben der Duden-Grammatik; J: Grammatik der deutschen Sprache von Walter Jung; G: Neue deutsche Grammatik von Heinz Griesbach; S: Grammatik der deutschen Sprache von Dora Schulz und Heinz Griesbach; H: Handbuch der deutschen Grammatik von Elke Hentschel und Harald Weydt; E: Deutsche Grammatik von Johannes Erben; W: Textgrammatik der deutschen Sprache von Harald Weinrich; SSt: Einführung in die Grammatik der deutschen Gegenwartssprache von Karl-Ernst Sommerfeldt und Günther Starke; ZD: Zweifelsfälle-Duden.


Art des NomensMit Endung (-s)Ohne EndungBeide Varianten möglich
Eigennamen mit Artikelmaskuline Personennamen mit sekundärem Artikel (des kleinen Peter)in pränominaler Position: ZD(2007)in postnominaler Position: ZD (2007)"meist ungebeugt" (D 1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009); J (1990); "fällt oft weg" (S 1978)
feminine Personennamen mit sekundärem Artikel (der kleinen Anna) -D (2009), ZD (2007)-
Personennamen, die zur Gattungsbezeichnung geworden sind (des Dobermanns)D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006 und 2009)-J (1990)
Personennamen, die zur Produktbezeichnung geworden sind (des Diesel(s))--D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009)
geographische Namen (des Neckar(s))--D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009); J (1990); S (1978), SSt (1998); ZD (2007)
nicht-native geograpshische Namen (des Mississippi(s))--Variation mit Tendenz zur Endungslosigkeit (D 2009)
nicht-native geographische Namen, mehrsilbig und auf s-Laut (des Amazonas)-D (2009)-
transparente Zusammensetzungen (des Feldberg(s))-ZD (2007)D (2006, 2009)
geographische Namen mit vorangestelltem Adjektiv und sekundärem Artikel (des alten Europa(s))--D (2006, 2009); J (1990); ZD (2007)

Tabelle 1a: Empfehlungen einschlägiger Grammatiken zum Gebrauch des Genitiv-s


Art des NomensMit Endung (-s)Ohne EndungBeide Varianten möglich
Artikellose Eigennamen(inkl. Feminina in attributiver Funktion; Marias/Peters Auto)D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009); J (1990); S (1978); G (1990); H (2003); W (2005); SSt (1998); ZD (2007)--
Personennamen auf s-Laut (Fritz' Auto) nur in Schriftsprache: -ens (S 1978)--ens, Apostroph oder Ersatzkonstruktionen D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009): J (1990); S ( 1978); G (1990); W (2005); ZD (2007)
geographische Namen (Deutschlands, Berlins)D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009); J (1990)-wenn durch Attribute näher gekennzeichnet (S 1978; G 1990, J 1990)
eigennamenähnliche AppellativeMonatsnamen-wenn sie dem Wort Monat folgen (D 1959, 1973, 1984, 1995, 1998; J 1990; S 1978; G 1990; ZD 2007)D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009); J (1990); S (1978); G (1990); Tendenz zur Endungslosigkeit insbes. bei vorangestelltem Substantiv (ZD 2007)
WochentageD (1959, 1973, 1984, 1995, 1998); J (1990)-D (2006, 2009)
Kunstepochen (des Barock(s))--D (1984, 1995, 1998, 2006, 2009); ZD (2007)
Produktbezeichnungen (des Aspirin(s))-S (2006, 2009)
Verwandtschaftsbeziehungen (des Vaters)D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009); S (1978); G (1990); W (2005); ZD (2007)--

Tabelle 1b: Empfehlungen einschlägiger Grammatiken zum Gebrauch des Genitiv-s


Art des NomensMit Endung (-s)Ohne EndungBeide Varianten möglich
AppellativeD (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009)--
starke Maskulina auf -en (des Garten(s)) D (2009)-endungslose Form nicht normgerecht (D 2009)
Fremdwörter auf -us (des Sozialismus, des Omnibusses)selten (bei stärkerer Integration) D (2006, 2009)D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009); J (1990)-
Fremdwörter auf s-Laut (des Indes(es), Atlas(es))--D (2009)
Zitate (z.B. aus Fremdsprachen: des Entrcote(s))--D (2009)
deutschsprachige Buch- und Zeitungstitel (des Spiegels)D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998); J (1990)--
Konversion (nicht flektierbare Quellwortart: des Gegenüber(s))--D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009); ZD (2007)
Paarformeln (des eigenen Grund und Boden(s))Markierung am zweiten Nomen D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009); J (1990); ZD (2007)--
mehrteilige feste Verbindungen (des Vitamin(s) C)--D (2009)
Kurzwörter (des Ufos, des Profis)D (2009)--
Initialkurzwörter (des EKG(s))-meist ohne: D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009)-
Schreibabkürzungen (des 15. Jh.)-meist ohne: D (1959, 1973, 1984, 1995, 1998, 2006, 2009)-

Tabelle 1c: Empfehlungen einschlägiger Grammatiken zum Gebrauch des Genitiv-s

Grundlage der Einschätzung, ob eine bestimmte Instanz des s-Schwunds der Sprachnorm entspricht, scheint – zumindest implizit – die Geläufigkeit der Form in der Schriftsprache zu sein. Auch hier fehlt es allerdings an eindeutigen quantitativen Kriterien. Im Zusammenhang mit der normativen Einordnung der endungslosen Realisierung des Genitivs lassen sich die folgenden Forschungsdesiderate formulieren, wobei wir uns im Rahmen der vorliegenden Pilotstudie auf den ersten Problemkomplex konzentrieren möchten:

  1. Korpuslinguistisch fundierte Überprüfung und Systematisierung quantitativer Aussagen zum Wegfall des Genitiv-s: Eine wesentliche Aufgabe einer korpusbasierten Aufarbeitung des Phänomens besteht darin, Aussagen über die relative Häufigkeit endungsloser Formen zu präzisieren.
  2. Evaluierung der Standardnähe – inwiefern kann ein korpuslinguistischer Ansatz zur Neubewertung gängiger (semi-präskriptiver) Aussagen zu Standardnähe/ Akzeptabilität endungsloser Varianten (insbesondere bei niederfrequenten Phänomenen) beitragen (vgl. auch Bubenhofer et al. 2013)?
  3. Sprachwandeltendenzen in der Gegenwartssprache: Lässt sich in den Daten eine zunehmende Tendenz zum Wegfall der Genitivmarkierung nachweisen (Entwicklungen bei Namen, Fremdwörtern, starken Maskulina auf /-en/ etc.)?

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Autor(en)
Eric Fuß
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