Nicht standardsprachlich anerkannter Wegfall der Genitivendung

Während sich die Grammatikschreibung traditionell auf die Darstellung von normgerechter Endungslosigkeit konzentriert, ist die einschlägige Forschungsliteratur stärker auch mit Fällen befasst, in denen – vor allem im Bereich der Mündlichkeit – die Genitivmarkierung bei starken Nomen ausfällt, ohne dass dies bislang standardsprachlich anerkannt ist (vgl. Appel 1941, Winter 1966, Weier 1968, Hentschel 1993, Wurzel 1993, Rowley 1998, Wiedenmann 2004, Ágel 2006, Paulfranz 2013 für einen Überblick; vgl. a. Duden 9, 2007). Im Mittelpunkt stehen dabei u.a. starke Maskulina auf -en (des Rahmen/Garten/Hafen usw.)1, Substantivierungen von Infinitiven (des Rennen), Verwandtschaftsbeziehungen, wenn sie als individualisierte Personenbezeichnungen verwendet werden und damit den Eigennamen nahe stehen (z.B. die Größe seines Vater, Appel 1941: 20), Diminutiva (des Pferdchen, Appel 1941: 23f.), bestimmte (geläufige) Fremdwörter (z.B. auf -ing: des Leasing(s), auf Sibilant: des Strauß(es), des Proporz(es), vgl. Duden 9, 2007: 329f., 988ff.), Komposita mit s-Fuge (des Offizierskasino, Appel 1941: 31), Farbwörter (des Grün/Blau usw., vgl. Duden 9, 2007: 304) sowie Fälle, in denen der Wegfall der Genitivmarkierung durch Eigenschaften der (morpho-) syntaktischen Umgebung begünstigt bzw. ausgelöst wird. Nach Appel (1941: 27ff.) handelt es sich bei Letzteren vor allem um die folgenden Kontexte:2

1 Der Schwund des -s bei Substantiven auf -en wird oft als Analogiebildung zu den Genitivformen schwacher Maskulina betrachtet (vgl. z.B. Duden 4, 2009: 203) oder in Zusammenhang gebracht mit der Bildung neuer Deklinationsschemata (vgl. Poitou 2004, Peschel 2009, Thieroff 2009, Krischke 2012). Ferner ist dafür argumentiert worden, dass der Wegfall des /-s/ bei dieser Nomenklasse durch die Präsenz eines ebenfalls auf -en endenden Adjektiv begünstigt wird (vgl. z.B. Appel 1941:11).

2 Appel identifiziert weitere Fälle von syntaktisch motiviertem s-Schwund, in denen ein Genitiv durch alternative Konstruktionen (wie z.B. Präpositionialphrasen bzw. Appositionen) ersetzt wird. Da diese keine endungslosen Genitive darstellen, werden sie hier nicht weiter behandelt.

  1. s-Haltigkeit des unmittelbaren morphologischen oder syntaktischen Kontexts
    Darunter lassen sich folgende Fälle subsumieren:
    1. Komposita mit s-Fuge, in denen Fugenelement und Genitivendung in Konkurrenz zueinander zu treten scheinen (des Offizierkasinos vs. des Offizierskasino, wegen Landfriedensbruch vs. wegen Landfriedenbruchs; Appel 1941: 31);
    2. (mehrere) s im Anlaut (die Sachsen sind in den Mittagsstunden des Sonnabend-∅ in Sybillenort eingetroffen, S. 31) bzw. im Auslaut (des Ehrgeiz-∅/Kreditausschuss-∅). Für den Wegfall der Genitivendung bei s-Haltigkeit im Anlaut macht Appel lautlich-rhythmische Gründe verantwortlich ("Ein auslautendes 's' mit genitivischer Bedeutung an 'Sonnabend' würde den Fluss der anlautenden 's' durchbrechen", S. 31), während sie im zweiten Fall ähnlich wie der Grammatikduden davon ausgeht, "daß das auslautende 's' die Funktion des genitivischen 's' mit übernimmt" (S. 32).
  2. Besondere Länge des genitivischen Komplexes
    Die Genitivendung kann ausbleiben, wenn dem genitivischen Nomen ein Artikel und eines oder mehrere Adjektive auf -en vorausgehen (Appel 1941: 34ff.). Appel geht hier davon aus, dass der Genitivcharakter der Phrase durch Artikel und dekliniertes Adjektiv bereits "genügend ausgeprägt erscheint" (S. 34f.) und das Genitiv-s daher ausgelassen werden kann.
  3. Koordinierte Substantive im Genitiv
    Appel führt hier Fälle an, in denen die koordinierten Nomen "untereinander in besonderer Zusammengehörigkeit stehen" (S. 37; vgl. auch Wegfall der Genitivendung bei Paarformeln, s.o.). Dazu zählen insbesondere auch Aufzählungen. Der Genitiv wird hier oft nur am zweiten Glied der Koordination markiert (Ich war des Staunen und Sehens müde..., S. 38) oder ganz weggelassen (die Erziehung eines Knaben oder eines Mädchen, S. 38). Appel führt den Wegfall darauf zurück, dass in den vorliegenden Fällen "eine Geschlossenheit der Formen" (S. 39) vorliege, die durch eine regelhafte Setzung des Genitiv-s durchbrochen würde, vgl. auch Fälle wie Peter und Marias Auto.
  4. Subordinierte Substantive im Genitiv
    Appel zufolge kann aus stilistischen Gründen ein Genitiv-s wegfallen, wenn dem genitivischen Nomen ein weiteres "subordiniertes" Genitivattribut nachgestellt wird (Genitivketten wie die Einsicht in dessen Pläne des beabsichtigten Ausbau-∅ des Kölner Doms; Appel 1941: 40).
  5. Einwirkung eines größeren sprachlichen Komplexes, der den Genitiv übergreift
    Appel zufolge kann ein Wegfall der Genitivendung in Kontexten ausgelöst werden, in denen die Genitivphrase in einer Nominalphrase eingebettet ist, die eine andere (dominierende) syntaktische Funktion realisiert (S. 42f.). Darunter subsumiert sie Dative in lokativer Funktion (Sie hat ihn zum Zeichen des Anfang gesandt), Akkusativkomplexe (Wenn wir in das Innere des Gärtchen hineinblicken) und den Objektsgenitiv (Das Betreten des Gemüsegarten ist verboten).
  6. Abblassen des genitivischen Gehaltes in Fügungen mit Präpositionen
    Nach Präpositionen, die den Genitiv regieren, treten endungslose Varianten auf, bei denen der Genitiv nur noch am Artikel markiert ist: Sie muß dableiben wegen des Neubau; inmitten des großen politischen Geschehen (S. 44). Appel führt den Ausfall der Genitivendung hier darauf zurück dass durch die Konkurrenz des Dativs die entsprechenden Formen "keinen spezifischen genitivischen Gehalt mehr" besitzen (S. 44).

Wie eine nähere Betrachtung der Beispiele bereits nahelegt, sind vom syntaktisch bedingten Wegfall der Genitivendung insbesondere solche Nomen betroffen, die aufgrund ihrer lexikalischen Eigenschaften ohnehin zur Endungslosigkeit tendieren ("Substantive mit labilem s", vgl. Appel 1941). Darüber hinaus können wir beobachten, dass es in einigen der Beispiele nicht eindeutig ist, auf welchen Faktor die Endungslosigkeit zurückzuführen ist. So kann in (1a) der Ausfall der Genitivendung entweder durch das Vorliegen einer Genitivkette (wie Appel behauptet) oder die Länge des Genitivkomplexes begründet werden. Analog dazu könnten für (1b) entweder das Verblassen des genitivischen Gehalts nach Präpositionen (Appel 1941: 44) oder wiederum das Vorliegen eines Adjektivs (oder Nomens (in 1b)) auf -en relevant sein.

(1)

  1. die Einsicht in dessen Pläne des beabsichtigten Ausbau-∅ des Kölner Doms
    (Appel 1941: 35)
  2. inmitten des großen politischen Geschehen-∅
    (Appel 1941: 44)

Beispiele analog zu (1a) lassen sich auch im DeReKo finden, vgl.:

(2)

  1. Der türkische Keeper dürfte erst im Fall des Erreichen-∅ des Finales wieder mitwirken.
    (HMP08/JUN.02228 Hamburger Morgenpost, 24.06.2008, S. 7; Keeper Volkan bleibt gesperrt)
  2. Die Kombination bekannter und unbekannter Namen entspreche exakt der Linie des Kunstmuseum-∅ des Kantons Thurgau in der Kartause Ittingen, erklärte Kurator Markus Landert bei der gestrigen Vorstellung des Jahresprogramms..
    (A09/JAN.01628 St. Galler Tagblatt, 09.01.2009, S. 30; Art brut und Starkunst)

Auch hier stellt also die Gewichtung und Hierarchisierung der unterschiedlichen von Appel postulierten Faktoren ein Forschungsdesiderat dar. Generell scheint es jedoch plausibel zu sein, anzunehmen, dass eine Häufung der Faktoren die Tendenz zur Endungslosigkeit verstärkt (s.u. für eine weitergehende Diskussion).

Generell stellt sich die Frage, inwiefern sich Appels Thesen zur endungslosen Realisierung des Genitivs im Rahmen einer Korpusstudie nachweisen lassen. Dabei gilt es u.a. zu überprüfen, ob sich die relevanten Tendenzen verstärkt haben, oder ob vielmehr ein Wandel zu weniger (stilistisch bzw. informationsstruturell nutzbarer) Variation erfolgt ist (in vielen Fällen, bei denen Appel noch eine Tendenz zur Endungslosigkeit beobachtet hat, scheint zumindest auf den ersten Blick heute die sichtbare Genitivmarkierung obligatorisch zu sein). In Abschnitt Nicht-normgerechte endungslose Genitive: Korpusbefunde wollen wir daher zumindest eine Auswahl der von Appel genannten Faktoren einer korpuslinguistischen Überprüfung unterziehen.

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Autor(en)
Eric Fuß
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