Die Bedeutung der Tempora
Die einzelnen Kategorien der Kategorisierung Tempus werden zwar morphologisch am Verb bzw. am Verbalkomplex kenntlich gemacht, das jeweilige Tempus bezieht sich jedoch auf den ganzen sprachlichen Ausdruck. Mit dem Wechsel des Tempus bei sonst gleicher Ausdrucksseite eines Satzes verandert sich die Bedeutung des Satzes. Die Tempora tragen in der sprachlichen Kommunikation also nicht unerheblich zur Konstituierung der Au?erungsbedeutung bei.
Mit der Verwendung von Tempora konnen Sprecher Sachverhalte auf einer imaginaren Zeitschiene anordnen, die von der Vergangenheit uber die Gegenwart in die Zukunft reicht. Alle Satze des Deutschen, die eine finite Verbform enthalten, mussen in einem der sechs Tempora realisiert werden. Tempuslose Satze gibt es im Deutschen nicht. Allerdings werden kommunikative Minimaleinheiten mit infiniten Verbformen wie z. B. weiterfahren, nicht anhalten! (bei einem Verkehrsunfall) oder solche ohne eine Verbform wie z. B. Borsencrash in Frankfurt! (als Schlagzeile in der Tagespresse) nicht zeit- aber tempuslos gebraucht.
Neben den Tempora gibt es im Deutschen weitere Moglichkeiten, Zeitbezuge herzustellen. Besonders die Satzadverbialia sind in der Lage, Sachverhalte zeitlich einzuordnen. Diese Moglichkeit zeigt sich besonders in Verbindung mit dem "neutralsten" Tempus, dem Prasens. Trotz der Prasensformen wird auf Grund der Adverbialia z. B. in Satz (1) auf die Vergangenheit und in Satz (2) auf die Zukunft Bezug genommen:
(2) Verschie?en Sie Ihr gutes berufliches Pulver nicht zu fruh, denn erst ab morgen kommen die Karrieresterne so richtig in Fahrt. (Rhein-Zeitung, 08.06.2009)
Neben den Adverbialia konnen beispielsweise auch Namen von historischen Personlichkeiten (3) oder historische Ereignisse (4) trotz des Prasens einen eindeutigen Vergangenheitsbezug herstellen:
(die tageszeitung, 03.06.2005)
(4) Der Drei?igjahrige Krieg vernichtet ganze Ortschaften. (Rhein-Zeitung, 10.01.2007)
Andererseits konnen Adverbialia im Konflikt mit Tempora stehen, was zu unsinnigen Satzen fuhrt (5):
Dynamische Zeitinterpretation
Die Bedeutung der Tempora, bzw. die Auswirkung der Tempora auf die Bedeutung der Satze wird deutlich durch das Zusammenspiel verschiedener Zeitintervalle, die bei der Bedeutungszuweisung vom Sprecher bzw. dem Horer berucksichtigt werden mussen. Wir unterscheiden dabei im Zusammenhang einer kommunikativen Au?erung die Sprechzeit, die Ereigniszeit, die Betrachtzeit und die Orientierungszeit. Die Betrachtung der Korrelation zwischen diesen Zeitintervallen erlaubt eine dynamische Analyse der Tempora, die zum Teil auf logischen Uberlegungen aufbaut. Diese logisch dynamischen Interpretationen der Tempora gehen in wesentlichen Teilen auf den Physiker und Philosophen Hans Reichenbach zuruck.
Weitere Aspekte, die bei der dynamischen Tempusinterpretation der zusammengesetzten Zeiten berucksichtigt werden mussen, sind das Obertempus, der tempuslose Satzrest und der Infinitiv Perfekt.
Zunachst aber sollen die Zeitintervalle naher betrachtet werden.
Zeitintervalle (Sprech-, Ereignis-, Betracht-, Orientierungszeit)
Sprechzeit
Die Sprechzeit ist der Zeitabschnitt oder Zeitpunkt, in bzw. zu welchem die sprachliche Au?erung gemacht wird, sie ist die tatsachliche Zeit des Sprechens oder des Niederschreibens. Die Sprechzeit ist fur die Rezipienten in der Regel uber den sprachlichen Kotext und den au?ersprachlichen Kontext erkennbar.
Ereigniszeit
Die Ereigniszeit ist die Zeit, in welcher der beschriebene Sachverhalt, das dargestellte Ereignis, tatsachlich stattfand, stattfindet oder stattfinden wird.
Die Ereigniszeit kann zwar durch Temporaladverbialia spezifiziert werden:
Dennoch ist trotz spezifizierender Temporaladverbialia wie in (7) die Ereigniszeit nicht genau feststellbar:
Das Adverb gestern grenzt zwar die Ereigniszeit in der Vergangenheit auf den Tag vor der Sprechzeit ein, bleibt aber immer noch vage, da der genaue Zeitpunkt des Sprechens im Tagesablauf nicht festgelegt wird.
Da die Ereigniszeit durch sprachliche Mittel nie vollig prazise beschrieben werden kann, bei negierten Satzen sogar keine Ereigniszeit vorhanden ist,
bedienen wir uns bei der Bedeutungszuordnung von Tempora eines weiteren Zeitintervalls, der Betrachtzeit.
Betrachtzeit
Die Betrachtzeit ist der Zeitabschnitt, den die Tempusform des Verbs und eventuell vorhandene Temporaladverbialia fur die Interpretation eines Satzes vorgeben. Generell uberlappen sich Ereigniszeit und Betrachtzeit, sind aber genaugenommen niemals identisch, auch wenn die Ereigniszeit durch Temporaladverbialia eingegrenzt werden kann. Besonders dann, wenn in sprachlichen Au?erungen keine Temporaladverbialia, sondern nur Tempusformen zur Zeiteinordnung verwendet werden, kann eine Ereigniszeit nur relativ durch die Betrachtzeit festgelegt werden. In Satz
wird nicht festgelegt, wann das beschriebene Ereignis genau stattfand, nur dass es in einer Betrachtzeit stattfand, die eindeutig vor der Sprechzeit lag. Die Betrachtzeit ist der Zeitraum, auf den der Blick des Sprechers gerichtet ist.
Orientierungszeit
Die Orientierungszeit ist eine Hilfskonstruktion der dynamischen Zeitinterpretation, sie
ist keine Zeit, die linear ablauft wie die Sprechzeit oder die Ereigniszeit. Sie ist der
Ausgangspunkt der Zeitanalyse.
Im einfachsten Fall ist die Sprechzeit die
Orientierungszeit, von der ausgehend wir den ausgedruckten Sachverhalt auf der linearen Zeitschiene
verorten. Bei zeitlich komplexeren Handlungsablaufen dient die Orientierungszeit auch der
Neuperspektivierung, um den komplexen linearen Handlungsablaufen oder zusammengesetzten Tempora
Bedeutung zuzumessen.
Korrelationen zwischen den Zeitintervallen
Die Tempora geben grundsatzlich an, wie die Relation zwischen der Sprechzeit bzw. der Orientierungszeit und der Betrachtzeit zu sehen ist.
Zunachst fallt im ersten Satz eine erste Orientierungszeit mit der Sprechzeit zusammen. Ausgangspunkt ist der Sprechzeitpunkt, der Blick ist gerichtet auf die Betrachtzeit, die durch das Temporaladverbiale um zehn Uhr naher bestimmt ist. Danach tritt ein Perspektivenwechsel ein. Die Betrachtzeit (um zehn Uhr) wird zur zweiten Orientierungszeit fur die Analyse des zweiten Satzes. Damit ist nicht mehr die Sprechzeit Ausgangspunkt der Bedeutungszuweisung, sondern die Betrachtzeit wird zur neuen Orientierungszeit, von welcher aus der Blick auf eine neue Betrachtzeit fallt, die zwei Stunden vor zehn Uhr liegt.
Hier wird nun deutlich, dass Tempusformen dynamisch interpretiert werden mussen. Die eingefuhrten Betrachtzeiten werden als Orientierungszeiten an die Folgesatze weitergereicht, sodass komplexe Zeitablaufe interpretierbar sind.
Die Bedeutung der einfachen Tempora
Die Bedeutung der einfachen Tempora ergibt sich aus der Relation zwischen Sprechzeit und Betrachtzeit. Die Betrachtzeit des Prasens kann sowohl vor der Sprechzeit liegen (11), mit der Sprechzeit zusammenfallen (12) oder nach der Sprechzeit liegen (13).
(12) Gerade spricht der Bundesprasident im Fernsehen zur Lage der Nation.
(13) Nachstes Jahr kommt die gro?e Steuerreform.
Beim Prateritum dagegen liegt die Betrachtzeit immer vor der Sprechzeit und beim Futur liegt die Betrachtzeit nach der Sprechzeit oder uberlappt diese.
Die Bedeutung der zusammengesetzten Tempora
Die Berucksichtigung der Korrelationen zwischen den verschiedenen oben beschriebenen Zeitintervallen kommt besonders bei der Interpretation der zusammengesetzten Zeiten Prasensperfekt, Prateritumperfekt und Futurperfekt zur Geltung.
Rein morphologisch betrachtet, bestehen die zusammengesetzten Tempora Prasensperfekt, Prateritumperfekt und Futurperfekt aus einer finiten Form der Hilfsverben haben oder sein im Prasens oder im Prateritum und einem Partizip II, bzw. aus einer finiten Form des Hilfsverbs werden und dem Infinitiv Perfekt. Die Tempusform des Hilfsverbs bei den zusammengesetzten Zeiten nennt man jeweils Obertempus. Demnach ist das Obertempus von Prasensperfekt das Prasens, das Obertempus von Prateritumperfekt ist das Prateritum und das Obertempus von Futurperfekt ist das Futur.
Bei der Interpretation der erwahnten zusammengesetzten Tempora gerat zunachst die Betrachtzeit des jeweiligen Obertempus in den Blick. Sie wird genauso in Relation zur Sprechzeit gesetzt wie bei den einfachen Tempusformen Prasens, Prateritum und Futur. Die Betrachtzeit des Obertempus wird dann zu einer Orientierungszeit, von welcher die nunmehr tempusneutralisierte zweite Betrachtzeit in den Blick genommen wird. Die tempusneutralisierte Betrachtzeit wird tempusloser Satzrest genannt. Sie entspricht der Proposition einer Au?erung. Die Relation zwischen Orientierungszeit und dem tempuslosen Satzrest kommt durch eine infinite Perfektkonstruktion aus dem Infinitiv des Hilfsverbs und dem Partizip II (z. B. gemacht haben) zum Ausdruck.
Bei dieser Konstruktion liegt grundsatzlich der tempuslose Satzrest als Betrachtzeit vor der Orientierungszeit:
Exemplarisch soll die Tempusinterpretation der zusammengesetzten Zeiten am Prateritumperfekt dargestellt werden:
Die Bedeutungszuschreibung erfolgt in zwei Schritten. Zunachst wird relativ zur Sprechzeit die Betrachtzeit des Obertempus Prateritum in den Blick genommen. Die Betrachtzeit liegt beim Prateritum immer vor der Sprechzeit. Wie bei allen zusammengesetzten Zeiten wird die Betrachtzeit des Obertempus zur neuen Orientierungszeit, die wiederum Ausgangspunkt fur eine zweite Betrachtzeit ist. Diese zweite Betrachtzeit des tempuslosen Satzrestes liegt bei allen zusammengesetzten Tempora vor der neuen Orientierungszeit.