Präteritum versus Präsensperfekt
Eine der Hauptschwierigkeiten bei einer grammatischen Beschreibung der deutschen Tempora liegt darin, den Unterschied zwischen den beiden Vergangenheitstempora Präteritum und Präsensperfekt angemessen zu fassen. Hierzu trägt eine kompositionale Analyse bei (s. Einfaches versus zusammengesetztes Vergangenheits-Tempus und Präteritum/Präsensperfekt mit Temporaladverbialia).
In der Literatur werden die beiden Tempora Präteritum und Präsensperfekt in ihrer Beziehung zueinander unterschiedlich betrachtet. Die Spannweite bewegt sich zwischen einem absoluten Bedeutungsunterschied und einer synonymen Verwendung der beiden Tempora. Tatsächlich können die beiden Tempora oft gegeneinander ausgetauscht werden, ohne dass sich die Bedeutung des Satzes signifikant verändert. Dies heißt jedoch nicht, dass Präteritum und Präsensperfekt in ihrer Funktion identisch sind (s. Unterschiede im Gebrauch von Präteritum/Präsensperfekt)
Der Bedeutungsunterschied zwischen Präteritum und Präsensperfekt kann nicht kontextlos bzw. kotextlos beschrieben werden, da verschiedene Kriterien zum Bedeutungs- bzw. Verwendungsunterschied beitragen (s. Weitere Unterscheidungskriterien).
Einfaches versus zusammengesetztes Vergangenheits-Tempus
Durch die in den Einheiten zum Präsensperfekt, Präteritum und Formenbestand des deutschen Tempussystems gegebene Beschreibung ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Tempora bereits klar:
Bei Sätzen ohne Temporaladverbialia führt der Unterschied in der kompositionalen Interpretation von Präsensperfekt und Präteritum zunächst nicht zu einer unterschiedlichen zeitlichen Einordnung:
Hans hat gearbeitet.
Beide Sätze sind unter den gleichen Umständen wahr oder falsch. Der Unterschied reduziert sich darauf, dass im Fall des Präteritums die Betrachtzeit in einem Interpretationsschritt erreicht wird, während im Fall des Präsensperfekt die Betrachtzeit in zwei Schritten erreicht wird. Dies kann an Sätzen mit Temporaladverbialia illustriert werden.
Präteritum/Präsensperfekt mit Temporaladverbialia
Temporaladverbialia, die mit dem Präsensperfekt auftreten, können mit Bezug auf die Betrachtzeit des Obertempus Präsens interpretiert werden:
Oder die Deutung erfolgt mit Bezug auf den Infinitiv Perfekt:
Äußerungen mit Präteritum in Kombination mit Temporaladverbialia sind eindeutig zu verstehen, da sich das Temporaladverbiale nur auf die Betrachtzeit des Präteritums beziehen kann:
Dieser Satz hat immer nur die eine Lesart, in der sich damals auf die Betrachtzeit bezieht, wohingegen
je nach Kontext zwei Lesarten hat:
- Die Lesart, in der sich das Temporaladverb auf die Betrachtzeit des Infinitiv Perfekt bezieht, besagt, dass Napoleon zu der mit damals bezeichneten Zeit, die in unserer Vergangenheit liegt, halb Europa erobert
- Die Lesart, in der sich damals auf das Obertempus Präsens bezieht, besagt, dass Napoleon zu der mit damals bezeichneten Zeit, deren Lage zu unserer Gegenwart im Prinzip irrelevant ist, bereits halb Europa erobert hat
In der ersten Lesart könnte man damals auf das gesamte Intervall zwischen 1796 und 1812 beziehen, in der zweiten nur auf einen Zeitpunkt, etwa um 1812.
Sätze im Präsensperfekt mit einem Temporaladverbiale, das sich auf die Betrachtzeit des Infinitiv-Perfekt-Satzrestes bezieht, sind mit entsprechenden Präteritumsätzen fast bedeutungsgleich:
- Gestern ging Helmut ins Kino.
- Gestern ist Helmut ins Kino gegangen.
In der Interpretation des ersten Satzes (a) muss die Betrachtzeit gemäß der Festlegung für das Präteritum vor der Sprechzeit liegen und ist außerdem durch gestern spezifiziert.
Im zweiten Satz (b) ist die Betrachtzeit für das Obertempus – das Präsens – nicht ausdrücklich spezifiziert, weshalb sie nach den Interpretationsregeln für das Präsens mit der Sprechzeit gleichgesetzt werden kann. Die Betrachtzeit für den Satzrest liegt nach den Interpretationsregeln für den Infinitiv-Perfekt vor seiner Orientierungszeit, die wiederum mit der Betrachtzeit des Obertempus identisch und hier gleich der Sprechzeit ist. Zusätzlich wird sie – die Betrachtzeit des Infinitiv-Perfekt-Satzrestes – durch gestern spezifiziert.
Der Unterschied zwischen beiden Sätzen liegt also lediglich darin, dass im ersten Satz die Betrachtzeit, auf die sich das Temporaladverb bezieht, in einem Interpretationsschritt erreicht wird, im zweiten Satz hingegen in zwei Schritten. Dies ist jedoch in vielen Kontexten irrelevant.
Das Präsensperfekt erlaubt, zwei Temporaladverbialia in einem Satz zu haben, von denen sich eines auf das Obertempus, das zweite auf den Infinitiv-Perfekt-Satzrest bezieht. Diese Möglichkeit, die selten genutzt wird, zeigt das folgende Beispiel:
Zu der Zeit, als der Leserbrief geschrieben wurde, lebte Konrad Adenauer bekanntermaßen nicht mehr. Der Satz muss deshalb so interpretiert werden, dass sich heute auf das Obertempus bezieht, früher als Sie auf den Infinitiv-Perfekt-Satzrest.
Ein Ersatz der Präsensperfektform durch eine Präteritalform macht solche semantische Manöver unmöglich und erzwingt eine Interpretation, nach der sich sowohl heute als auch früher als Sie auf die eine Betrachtzeit für das Präteritum beziehen. Dies wäre nur möglich, wenn der durch früher als Sie abgegrenzte Zeitabschnitt sich mit dem von heute bezeichneten Intervall überschnitte, was aber in Widerspruch zu unserem Weltwissen geraten müsste.
Wenn Sätze mit zwei Temporaladverbialia beim Präsensperfekt selten sind, dann liegt das wohl daran, dass sie recht komplizierte semantische Verarbeitungsschritte erfordern.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den beiden Tempora besteht darin, dass in Präsensperfektsätzen zukunftsbezügliche Temporaladverbialia auftreten können, in Präteritumsätzen jedoch nicht:
ist ein möglicher, sogar gängiger Satz des Deutschen. Das komplexe Temporaladverbiale morgen Mittag muss hier in Bezug auf die Betrachtzeit des Obertempus gedeutet werden, da nur diese Interpretation nicht widersprüchlich ist. Dagegen ist ein entsprechender Präteritumsatz in der Regel nicht möglich:
Die Betrachtzeit für das Präteritum muss vor der Sprechzeit liegen, woraus sich ein Widerspruch mit der Interpretation von morgen ergäbe.
Unterschiede im Gebrauch von Präteritum/Präsensperfekt
Bei Sätzen ohne Temporaladverbialia führt der Unterschied in der kompositionalen Interpretation von Präsensperfekt und Präteritum zunächst nicht zu einer unterschiedlichen zeitlichen Einordnung:
Hans hat gearbeitet.
Beide Sätze sind unter den gleichen Umständen wahr oder falsch. Der Unterschied reduziert sich darauf, dass im Fall des Präteritums die Betrachtzeit in einem Interpretationsschritt erreicht wird, während im Fall des Präsensperfekt die Betrachtzeit in zwei Schritten erreicht wird (s. oben).
Mit diesem Unterschied kann man auf zweierlei Weisen umgehen: Man kann ihn ignorieren, wodurch die Sätze quasi austauschbar werden. Entsprechend finden sich Beispiele, bei denen der Unterschied quasi neutralisiert ist. So etwa hier:
Dies wird vor allem im Oberdeutschen stark genutzt, wo Präteritalformen zumindest in gesprochener Sprache selten sind, auch Präteritum-Perfekt-Formen, an deren Stelle Formen treten, die man als 'Präsensperfekt-Perfekt' bezeichnen könnte:
(Manfred Rommel, 2. 9. 1998 im Gespräch mit Martin Born in SWR 4: Unternehmungen)
Andererseits aber kann die Wahl zwischen beiden Formen auch im Sinne der Fokussierung
des kompositionalen Unterschiedes zwischen beiden Tempusformen genutzt werden:
Wählt ein
Sprecher, der beide Formen nutzt, an einer bestimmten Stelle statt des aus Hörer- wie
Sprecherperspektive einfacheren Präteritums das komplexere Präsensperfekt, wird die – gegenüber dem
Präteritumsatz zusätzliche – Betrachtzeit für das Obertempus fokussiert. Das betont, dass das
zurückliegende Ereignis von der Sprechzeit her gesehen als besonders relevant für die Gegenwart zu
betrachten ist.
Ein solcher Effekt kann sich einstellen, wenn in einer Präteritumsequenz ein Präsens und dann ein Präsensperfekt auftritt:
Präsensperfekt eignet sich auch dazu, Vorzeitigkeit zum Ausdruck zu bringen; vor allem kann durch Präsensperfekt Vorzeitigkeit zu im Präsens berichteten Ereignissen dargestellt werden:
Erscheint Präsensperfekt im Kontext von im Präteritum dargestellten Ereignissen, handelt es sich stets um Sachverhalte, die etwa als Ergebnis einer Zustandsänderung auch für die Sprechzeit noch relevant sind:
Weitere Unterscheidungskriterien
Bei der Unterscheidung von Präteritum und Präsensperfekt müssen noch weitere Überlegungen, z. B. hinsichtlich regionaler Varianten, textsortenspezifischer Verwendung, Register/Stil und phonetischer Kriterien beachtet werden:
Die Verwendung von Präteritum oder Präsensperfekt ist oftmals textsortenabhängig. In Erzählungen z. B. herrscht das Präteritum vor (vgl. Weinrich 2001 und 2007). In verschiedenen Zeitungssorten (Schlagzeilen, Sensationsmeldungen) wird ebenfalls das Präteritum bevorzugt. Das Präsensperfekt dagegen dominiert in den Printmedien z. B. in Kurzmeldungen (Latzel 1975).
Alle bisher genannten Unterscheidungskriterien sind für den
süddeutschen Sprecher bezüglich seiner gesprochenen Sprache nicht relevant. Seit dem 16./17.
Jahrhundert ist im Oberdeutschen der sog. Präteritumsschwund belegt.
Der
Präteritumsschwund ist in einigen Regionen Süddeutschlands in der gesprochenen Sprache absolut, in
der geschriebenen Sprache teilweise ausgeprägt.
An Stelle des Präteritums tritt das
Präsensperfekt als einzige Vergangenheitsform. Aspektuelle Unterschiede (Perfektivität und
Imperfektivität) werden dann mit Hilfe lexikalischer Mittel ausgedrückt.
Im folgenden
Beispielsatz wird z. B. durch die Fokuspartikel gerade klar, dass Rosetta ihr
Schnitzelessen noch nicht beendet hatte, als die Nachricht gesendet wurde.
Aufgrund des nicht vorhandenen Präteritums wird in logischer Folge das Präteritumperfekt durch eine "superkomponierte" Form (auch "doppelte Perfektform"; vgl. Ammann 2005) ersetzt, da auch das im Präteritum stehende Hilfsverb des Präteritumperfekts durch die periphrastische Form des Präsensperfekt ausgetauscht wird (diese Konstruktion wird auch Doppelumschreibung genannt):
für:
Ich hatte gegessen.
Regional übergreifend ist in der gesprochenen Sprache eher das Präsensperfekt, in der geschriebenen Sprache das Präteritum das vorherrschende Tempus. Ähnlich verhält es sich mit der Umgangssprache versus der Hochsprache. Während in der Umgangssprache eher das Präsensperfekt verwendet wird, wird in der geschriebenen Hochsprache eher das Präteritum gebraucht. Darüber hinaus bestimmen verschiedene sprachliche Register die Tempusverwendung: In formellen Kommunikationssituationen wird z. B. der Anteil der Sätze im Präteritum höher sein als in informellen Gesprächssituationen.
Präsensperfekt | Präteritum |
in der gesprochenen Sprache | in der geschriebenen Sprache |
im Oberdeutschen | im Niederdeutschen |
in der Umgangssprache | in der Hochsprache |
in informellen Gesprächssituationen | in formellen Gesprächssituationen |
Freilich drücken diese Polarisierungen nur Tendenzen aus, eine absolute Gültigkeit beanspruchen sie nicht.
Phonetische Gründe sind verantwortlich für die Vermeidung von Präteritumformen einiger Verben in der 2. Person Singular und Plural. Die Ausspracheschwierigkeiten führen dazu, dass Präsensperfektformen bevorzugt werden:
rasten
ihr rastetet vs. ihr habt gerastet
arbeiten
ihr arbeitetet vs. ihr habt gearbeitet
Verwendungsunsicherheit besteht bei heute ungewöhnlich gewordenen Formen starker Verben, welche sich teilweise im Übergang zu schwachen Verben befinden. Die Präteritumsform wird vermieden bzw. umgangen:
backen