Präteritum versus Präsensperfekt

Eine der Hauptschwierigkeiten bei einer grammatischen Beschreibung der deutschen Tempora liegt darin, den Unterschied zwischen den beiden Vergangenheitstempora Präteritum und Präsensperfekt angemessen zu fassen. Hierzu trägt eine kompositionale Analyse bei (s. Einfaches versus zusammengesetztes Vergangenheits-Tempus und Präteritum/Präsensperfekt mit Temporaladverbialia).

In der Literatur werden die beiden Tempora Präteritum und Präsensperfekt in ihrer Beziehung zueinander unterschiedlich betrachtet. Die Spannweite bewegt sich zwischen einem absoluten Bedeutungsunterschied und einer synonymen Verwendung der beiden Tempora. Tatsächlich können die beiden Tempora oft gegeneinander ausgetauscht werden, ohne dass sich die Bedeutung des Satzes signifikant verändert. Dies heißt jedoch nicht, dass Präteritum und Präsensperfekt in ihrer Funktion identisch sind (s. Unterschiede im Gebrauch von Präteritum/Präsensperfekt)

Der Bedeutungsunterschied zwischen Präteritum und Präsensperfekt kann nicht kontextlos bzw. kotextlos beschrieben werden, da verschiedene Kriterien zum Bedeutungs- bzw. Verwendungsunterschied beitragen (s. Weitere Unterscheidungskriterien).

Einfaches versus zusammengesetztes Vergangenheits-Tempus

Durch die in den Einheiten zum Präsensperfekt, Präteritum und Formenbestand des deutschen Tempussystems gegebene Beschreibung ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Tempora bereits klar:

Das Präsensperfekt ist – im Gegensatz zum Präteritum – eine zusammengesetzte Zeit und wird entsprechend auch in zwei Schritten interpretiert.

Bei Sätzen ohne Temporaladverbialia führt der Unterschied in der kompositionalen Interpretation von Präsensperfekt und Präteritum zunächst nicht zu einer unterschiedlichen zeitlichen Einordnung:

Hans arbeitete.
Hans hat gearbeitet.

Beide Sätze sind unter den gleichen Umständen wahr oder falsch. Der Unterschied reduziert sich darauf, dass im Fall des Präteritums die Betrachtzeit in einem Interpretationsschritt erreicht wird, während im Fall des Präsensperfekt die Betrachtzeit in zwei Schritten erreicht wird. Dies kann an Sätzen mit Temporaladverbialia illustriert werden.

Präteritum/Präsensperfekt mit Temporaladverbialia

Temporaladverbialia, die mit dem Präsensperfekt auftreten, können mit Bezug auf die Betrachtzeit des Obertempus Präsens interpretiert werden:

Das Fliegen beispielsweise, das für Ikaros eine Vermessenheit war, ist heute eine vertraute Möglichkeit geworden (...). (Bollnow 1962, 50)
Wie es gegen sieben hell geworden ist, schließt es sich einer großen Gnuherde an. (Grzimek, B. & Grzimek, M. 1967, 202)
Die Pflicht des Staates, den Geist zu ernähren auch abseits vom kontrollierbaren Zwecke, ist heute für die Vertreter des Geistes angenehmer geworden, weil diese Vorsorge gesetzlich geregelt, und weil sie anonym geworden ist. (Heimpel 1960, 79)
Ich habe 1978 in der Debatte um den schnellen Brüter als Forschungsminister im Bundestag erklärt, dass wir aus unserer politischen Verantwortung heraus uns die Möglichkeit offen halten müssen, "technische Entwicklungen notfalls zu widerrufen (...)". Heute ist diese Situation eingetreten. (Zeit, 12.9.1986, 25)

Oder die Deutung erfolgt mit Bezug auf den Infinitiv Perfekt:

Sie haben übrigens gestern auch etwas Merkwürdiges gesagt. (Larsen o.J., 19)
Über die Vorstellungen Prof. Dittrichs hat 'Die Norddeutsche' bereits gestern ausführlich berichtet. (Norddeutsche/Weser-Zeitung, 8.9.1973, 13)

Äußerungen mit Präteritum in Kombination mit Temporaladverbialia sind eindeutig zu verstehen, da sich das Temporaladverbiale nur auf die Betrachtzeit des Präteritums beziehen kann:

Damals eroberte Napoleon halb Europa.

Dieser Satz hat immer nur die eine Lesart, in der sich damals auf die Betrachtzeit bezieht, wohingegen

Damals hat Napoleon halb Europa erobert.

je nach Kontext zwei Lesarten hat:

  • Die Lesart, in der sich das Temporaladverb auf die Betrachtzeit des Infinitiv Perfekt bezieht, besagt, dass Napoleon zu der mit damals bezeichneten Zeit, die in unserer Vergangenheit liegt, halb Europa erobert
  • Die Lesart, in der sich damals auf das Obertempus Präsens bezieht, besagt, dass Napoleon zu der mit damals bezeichneten Zeit, deren Lage zu unserer Gegenwart im Prinzip irrelevant ist, bereits halb Europa erobert hat

In der ersten Lesart könnte man damals auf das gesamte Intervall zwischen 1796 und 1812 beziehen, in der zweiten nur auf einen Zeitpunkt, etwa um 1812.

Sätze im Präsensperfekt mit einem Temporaladverbiale, das sich auf die Betrachtzeit des Infinitiv-Perfekt-Satzrestes bezieht, sind mit entsprechenden Präteritumsätzen fast bedeutungsgleich:

  1. Gestern ging Helmut ins Kino.
  2. Gestern ist Helmut ins Kino gegangen.

In der Interpretation des ersten Satzes (a) muss die Betrachtzeit gemäß der Festlegung für das Präteritum vor der Sprechzeit liegen und ist außerdem durch gestern spezifiziert.

Im zweiten Satz (b) ist die Betrachtzeit für das Obertempus – das Präsens – nicht ausdrücklich spezifiziert, weshalb sie nach den Interpretationsregeln für das Präsens mit der Sprechzeit gleichgesetzt werden kann. Die Betrachtzeit für den Satzrest liegt nach den Interpretationsregeln für den Infinitiv-Perfekt vor seiner Orientierungszeit, die wiederum mit der Betrachtzeit des Obertempus identisch und hier gleich der Sprechzeit ist. Zusätzlich wird sie – die Betrachtzeit des Infinitiv-Perfekt-Satzrestes – durch gestern spezifiziert.

Der Unterschied zwischen beiden Sätzen liegt also lediglich darin, dass im ersten Satz die Betrachtzeit, auf die sich das Temporaladverb bezieht, in einem Interpretationsschritt erreicht wird, im zweiten Satz hingegen in zwei Schritten. Dies ist jedoch in vielen Kontexten irrelevant.

Das Präsensperfekt erlaubt, zwei Temporaladverbialia in einem Satz zu haben, von denen sich eines auf das Obertempus, das zweite auf den Infinitiv-Perfekt-Satzrest bezieht. Diese Möglichkeit, die selten genutzt wird, zeigt das folgende Beispiel:

Ich muss Ihrer Auffassung widersprechen, dass heute kein noch aktiver Journalist Konrad Adenauer früher kennengelernt hat als Sie. (Spiegel, 3/1985, 8, Leserbrief)

Zu der Zeit, als der Leserbrief geschrieben wurde, lebte Konrad Adenauer bekanntermaßen nicht mehr. Der Satz muss deshalb so interpretiert werden, dass sich heute auf das Obertempus bezieht, früher als Sie auf den Infinitiv-Perfekt-Satzrest.

Ein Ersatz der Präsensperfektform durch eine Präteritalform macht solche semantische Manöver unmöglich und erzwingt eine Interpretation, nach der sich sowohl heute als auch früher als Sie auf die eine Betrachtzeit für das Präteritum beziehen. Dies wäre nur möglich, wenn der durch früher als Sie abgegrenzte Zeitabschnitt sich mit dem von heute bezeichneten Intervall überschnitte, was aber in Widerspruch zu unserem Weltwissen geraten müsste.

Wenn Sätze mit zwei Temporaladverbialia beim Präsensperfekt selten sind, dann liegt das wohl daran, dass sie recht komplizierte semantische Verarbeitungsschritte erfordern.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den beiden Tempora besteht darin, dass in Präsensperfektsätzen zukunftsbezügliche Temporaladverbialia auftreten können, in Präteritumsätzen jedoch nicht:

Morgen Mittag habe ich das gemacht.

ist ein möglicher, sogar gängiger Satz des Deutschen. Das komplexe Temporaladverbiale morgen Mittag muss hier in Bezug auf die Betrachtzeit des Obertempus gedeutet werden, da nur diese Interpretation nicht widersprüchlich ist. Dagegen ist ein entsprechender Präteritumsatz in der Regel nicht möglich:

* Morgen Mittag machte ich das.

Die Betrachtzeit für das Präteritum muss vor der Sprechzeit liegen, woraus sich ein Widerspruch mit der Interpretation von morgen ergäbe.

Unterschiede im Gebrauch von Präteritum/Präsensperfekt

Bei Sätzen ohne Temporaladverbialia führt der Unterschied in der kompositionalen Interpretation von Präsensperfekt und Präteritum zunächst nicht zu einer unterschiedlichen zeitlichen Einordnung:

Hans arbeitete.
Hans hat gearbeitet.

Beide Sätze sind unter den gleichen Umständen wahr oder falsch. Der Unterschied reduziert sich darauf, dass im Fall des Präteritums die Betrachtzeit in einem Interpretationsschritt erreicht wird, während im Fall des Präsensperfekt die Betrachtzeit in zwei Schritten erreicht wird (s. oben).

Mit diesem Unterschied kann man auf zweierlei Weisen umgehen: Man kann ihn ignorieren, wodurch die Sätze quasi austauschbar werden. Entsprechend finden sich Beispiele, bei denen der Unterschied quasi neutralisiert ist. So etwa hier:

(...) – aber dass mein Mann mich nahm, trotz meinem Kind, dass er Angela ein liebevoller Vater geworden ist, der keinen Unterschied gemacht hat zwischen ihr und seinen eigenen Kindern, das weißt du nicht. (Jung 1965, 43)

Dies wird vor allem im Oberdeutschen stark genutzt, wo Präteritalformen zumindest in gesprochener Sprache selten sind, auch Präteritum-Perfekt-Formen, an deren Stelle Formen treten, die man als 'Präsensperfekt-Perfekt' bezeichnen könnte:

Ich hab`s zwar das alles schon vorher gehört gehabt, dass so was möglich ist, aber ich hab's nicht, für realistisch gehalten, dass das sich verwirklichen könnte.
(Manfred Rommel, 2. 9. 1998 im Gespräch mit Martin Born in SWR 4: Unternehmungen)
Aber du hast scho wiederamoi oan sitzn ghabt in aller Früah, und am Abend hast as dann wiedar amoi zoagn müaßn. (Konstantin Wecker, "Willy" (1977), zitiert nach: songkorpus.de)

Andererseits aber kann die Wahl zwischen beiden Formen auch im Sinne der Fokussierung des kompositionalen Unterschiedes zwischen beiden Tempusformen genutzt werden:
Wählt ein Sprecher, der beide Formen nutzt, an einer bestimmten Stelle statt des aus Hörer- wie Sprecherperspektive einfacheren Präteritums das komplexere Präsensperfekt, wird die – gegenüber dem Präteritumsatz zusätzliche – Betrachtzeit für das Obertempus fokussiert. Das betont, dass das zurückliegende Ereignis von der Sprechzeit her gesehen als besonders relevant für die Gegenwart zu betrachten ist.

Ein solcher Effekt kann sich einstellen, wenn in einer Präteritumsequenz ein Präsens und dann ein Präsensperfekt auftritt:

Ich wollte Fenster putzen. Damit ich von außen an das Fenster herankommen konnte, legte ich ein Bügelbrett auf die Fensterbank. Mein Mann, der schwerer als ich ist, setzte sich innen auf das Bügelbrett, und ich putzte auf dem Brett stehend das Fenster von außen. Plötzlich klingelte es an der Haustür. Als mein Mann unten öffnete, fand er mich vor dem Eingang liegend. Wir wissen bis heute nicht, wer geklingelt hat. (Spiegel, 51/1984, 200, Hohlspiegel)

Präsensperfekt eignet sich auch dazu, Vorzeitigkeit zum Ausdruck zu bringen; vor allem kann durch Präsensperfekt Vorzeitigkeit zu im Präsens berichteten Ereignissen dargestellt werden:

Ein junger Mann, den ich zuerst für einen Zuhälter halte, besteht darauf, meinen Whisky zu zahlen, weil er Vater geworden ist: "for the first time!" (Frisch 1966, 217)
Ich habe in den Ausführungen von Herrn Strasser wesentlich dies bemerkt, dass man eine kleine philologische Veränderung vorgenommen hat, nämlich dass man nicht mehr von der "Brechung der Zinsknechtschaft" redet, weil das eine durch die Abgedroschenheit und Inhaltslosigkeit fragwürdige Formel geworden ist, sondern dass man sie ersetzt hat durch das schöne Wort der "produktiven Kreditschöpfung". (Heuss 1964, 428)
Auch hier ist es nicht nötig, die Beispiele weiter zu häufen, nachdem die zur Rede stehende Erscheinung deutlich geworden ist. (Bollnow 1962, 167)

Erscheint Präsensperfekt im Kontext von im Präteritum dargestellten Ereignissen, handelt es sich stets um Sachverhalte, die etwa als Ergebnis einer Zustandsänderung auch für die Sprechzeit noch relevant sind:

Wie verwirrt Ida Ott durch die fünfjährige Not geworden ist, bewies eine Szene vor Gericht: vor dem Urteilsspruch wurde die alte Frau von ihrer Peinigerin umarmt. (Bild, 15.3.1967, 8)
Ich hörte, dass meine Mutter aufschrie, dann seufzte sie auf eine Weise, die mir deutlich machte, wie alt sie geworden ist. (Böll 1963, 39)

Weitere Unterscheidungskriterien

Bei der Unterscheidung von Präteritum und Präsensperfekt müssen noch weitere Überlegungen, z. B. hinsichtlich regionaler Varianten, textsortenspezifischer Verwendung, Register/Stil und phonetischer Kriterien beachtet werden:

Die Verwendung von Präteritum oder Präsensperfekt ist oftmals textsortenabhängig. In Erzählungen z. B. herrscht das Präteritum vor (vgl. Weinrich 2001 und 2007). In verschiedenen Zeitungssorten (Schlagzeilen, Sensationsmeldungen) wird ebenfalls das Präteritum bevorzugt. Das Präsensperfekt dagegen dominiert in den Printmedien z. B. in Kurzmeldungen (Latzel 1975).

Alle bisher genannten Unterscheidungskriterien sind für den süddeutschen Sprecher bezüglich seiner gesprochenen Sprache nicht relevant. Seit dem 16./17. Jahrhundert ist im Oberdeutschen der sog. Präteritumsschwund belegt.
Der Präteritumsschwund ist in einigen Regionen Süddeutschlands in der gesprochenen Sprache absolut, in der geschriebenen Sprache teilweise ausgeprägt.
An Stelle des Präteritums tritt das Präsensperfekt als einzige Vergangenheitsform. Aspektuelle Unterschiede (Perfektivität und Imperfektivität) werden dann mit Hilfe lexikalischer Mittel ausgedrückt.
Im folgenden Beispielsatz wird z. B. durch die Fokuspartikel gerade klar, dass Rosetta ihr Schnitzelessen noch nicht beendet hatte, als die Nachricht gesendet wurde.

Rosetta hat gerade ihr Schnitzel gegessen, als die Meldung im Radio kam.

Aufgrund des nicht vorhandenen Präteritums wird in logischer Folge das Präteritumperfekt durch eine "superkomponierte" Form (auch "doppelte Perfektform"; vgl. Ammann 2005) ersetzt, da auch das im Präteritum stehende Hilfsverb des Präteritumperfekts durch die periphrastische Form des Präsensperfekt ausgetauscht wird (diese Konstruktion wird auch Doppelumschreibung genannt):

Ich habe gegessen gehabt.
für:
Ich hatte gegessen.

Regional übergreifend ist in der gesprochenen Sprache eher das Präsensperfekt, in der geschriebenen Sprache das Präteritum das vorherrschende Tempus. Ähnlich verhält es sich mit der Umgangssprache versus der Hochsprache. Während in der Umgangssprache eher das Präsensperfekt verwendet wird, wird in der geschriebenen Hochsprache eher das Präteritum gebraucht. Darüber hinaus bestimmen verschiedene sprachliche Register die Tempusverwendung: In formellen Kommunikationssituationen wird z. B. der Anteil der Sätze im Präteritum höher sein als in informellen Gesprächssituationen.

PräsensperfektPräteritum
in der gesprochenen Sprachein der geschriebenen Sprache
im Oberdeutschenim Niederdeutschen
in der Umgangssprachein der Hochsprache
in informellen Gesprächssituationenin formellen Gesprächssituationen

Freilich drücken diese Polarisierungen nur Tendenzen aus, eine absolute Gültigkeit beanspruchen sie nicht.

Phonetische Gründe sind verantwortlich für die Vermeidung von Präteritumformen einiger Verben in der 2. Person Singular und Plural. Die Ausspracheschwierigkeiten führen dazu, dass Präsensperfektformen bevorzugt werden:

rasten

du rastetest vs. du hast gerastet
ihr rastetet vs. ihr habt gerastet

arbeiten

du arbeitetest vs. du hast gearbeitet
ihr arbeitetet vs. ihr habt gearbeitet

Verwendungsunsicherheit besteht bei heute ungewöhnlich gewordenen Formen starker Verben, welche sich teilweise im Übergang zu schwachen Verben befinden. Die Präteritumsform wird vermieden bzw. umgangen:

backen

Karlo buk/backte einen Kuchen. vs. Karlo hat einen Kuchen gebacken.

Übung: Präsensperfekt

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