Ihre Ausführungen schließen Sie mit Formulierungen, die wir schon aus Ihrer aller Briefen/Briefe kennen — Flexion in komplexen Nominalphrasen

Verwirrend, wie die hier angebotenen Alternativen wirken, möchte man erst einmal annehmen, dass das Ganze einfach missglückt ist und eigentlich gesagt werden sollte aus all Ihren Briefen. Geht man jedoch davon aus, dass ernstlich eine dieser Formen gewählt werden sollte, kann nur festgestellt werden: Beides klingt nicht nur reichlich verquer, man findet bei genauerer Betrachtung nur schwer eine gängige Regel, nach der die Phrase korrekt zu bilden wäre.

Unsere Einschätzung der im Titel formulierten Frage beruht dabei durchaus nicht auf normativen Vorstellungen von korrektem Deutsch, denn bei beiden Formen handelt es sich keineswegs um von Puristen missbilligte, doch in der Praxis gängige Ausdrucksweisen wie etwa wegen dem Auto oder meiner Schwester ihre Schwägerin. Recherchen in den riesigen Textkorpora des Instituts für Deutsche Sprache führten am 5. 9. 2012 für die Sequenz aus ihrer/Ihrer aller zu gerade mal zwei Fundstellen:

... denn wie du dich nun gebärden magst, ob leidenschaftsbleich oder menschlich-gemütlich, - allen deinen Gestalten, wie sie zu unserer ungläubigen Erheiterung oder Erschütterung sich einstellen, eignet etwas Schreckliches und heilig Bedrohliches, aus ihrer aller Augen spricht die Verwandtschaft mit der letzten in ihrer Reihe, die uns schließlich ebenfalls' zukommen' wird, die unverkennbare Familienähnlichkeit mit dem Tode.
[Thomas Mann, Werke, (Erstv. 1921), 1960, Bd. 10 (S. 591)]
Das Publikum ist genauso begeistert wie die Musiker selbst, wenn die "Rentnerband" beim Seniorenausflug Melodien aus ihrer aller "Sturm- und Drangzeit" zum Besten gibt.
[Rhein-Zeitung, 18.06.2005]

Suchen nach in ihrer/Ihrer aller und mit ihrer/Ihrer aller waren nur unwesentlich erfolgreicher (16 bzw. 4 Fundstellen). Bedenkt man, dass sich in denselben Korpora allein 98 Belege für die offensichtlich falsch geschriebene Form geschreiben finden, dann wird deutlich, dass auf der Grundlage einiger weniger Fundstellen keine Aussagen zum Sprachgebrauch möglich sind. Tatsächlich sprechen, wie gleich noch zu zeigen sein wird, nicht einmal die wenigen Funde zugunsten einer der infrage stehenden Ausdrucksformen, denn diese unterscheiden sich in entscheidender Hinsicht von den Belegstellen.

Bei der Bildung der Sequenzen aus Ihrer aller Briefe und aus Ihrer aller Briefen handelt es sich um wohl Versuche, einen Ausdruck in Analogie zu einer durchaus akzeptablen Konstruktion zu bilden. Wenn keiner der Versuche zu einem eindeutig akzeptierten Ergebnis führt, so ist dies darauf zurückzuführen, dass das vorangestellte Genitivattribut Ihrer aller bei Nomina wie Brief zu Irritationen führt, die in den vermeintlich analogen Fällen nicht auftreten.

Der Fragesteller – es gab ihn wirklich, wir haben uns die Frage nicht ausgedacht! – hat den Ort, an dem seine Konstruktion in Schwierigkeiten gerät, durchaus richtig identifiziert, doch er irrt sich mit der Annahme, eine der Formen müsse akzeptabel sein.

Die infrage stehenden Ausdruckssequenzen sind nach dem Muster solcher Formen gebildet:

  • aus dessen Briefen
  • in Helmuts Briefen
  • von Mutters Briefen
  • in aller Munde
  • mit unser aller Hilfe

Grundsätzlich sind solche Bildungen auch mit Ihrer/ihrer aller möglich – etwa in Ihrer aller Namen, mit Ihrer aller Hilfe. Doch ohne Einschränkung akzeptiert werden sie nur dort, wo sie nicht zu Irritationen hinsichtlich der Flexion des darauf folgenden Nomens führen. Bei den wenigen in den Korpora gefundenen Belegen treten solche Irritationen nicht auf, denn es handelt sich dabei stets um Feminina im Singular (etwa Zeit, Hilfe, Unterstützung) oder um Nomina, die nur eine Pluralform haben (etwa Namen, Augen, Frauen).

Bei der Sequenz aus Ihrer aller Briefe/Briefen ergibt sich ein Konflikt:

  1. Einerseits hat auf aus zwingend eine Dativform zu folgen, und die lautet bei der Mehrzahl von Brief eindeutig Briefen, weshalb die Formulierung aus Ihrer aller Briefe in jedem Fall als ungrammatisch zu gelten hat,
  2. andererseits ergibt sich mit Ihrer aller Briefen eine Nominalphrase, die bei korrekter Analyse zwar durchaus als korrekt gelten könnte, jedoch vermieden wird, weil sie den Eindruck erweckt, als Nominalphrase falsch formuliert zu sein und damit ein elementares Prinzip der Bildung von Präpositionalphrasen zu verletzen.
Zu erklären ist dieser Konflikt so: Anders als bei den entsprechenden Pluralformen der 1. und der 2. Person, bei denen sich die Genitive von Pronomina (unser, euer) und Possessiv-Artikel (unserer, eurer) eindeutig unterscheiden, liegt bei Ihrer/ihrer als Pronomen und als Possessiv-Artikel Formengleichheit vor. Deshalb endet die Analogie von ihrer/Ihrer und unser oder euer, wo – wie bei aus Ihrer aller Briefe/Briefenihrer/Ihrer als Pronominalform zu verwenden wäre, doch nicht eindeutig als solche zu identifizieren ist.

Eine ernsthafte Lücke in dem, was sich sagen lässt, ergibt sich dadurch nicht. Man kann jederzeit auf Formulierungen wie diese ausweichen:

Ihre Ausführungen schließen Sie mit Formulierungen, die wir schon aus Briefen von Ihnen allen kennen.

Wer glaubt, damit nicht zurechtzukommen, wollte vermutlich von Anfang an etwas ganz anderes sagen.

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Autor(en)
Bruno Strecker
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