Mit echtem bayerischem Senf oder mit echtem bayerischen Senf? — Flexion bei artikellosen Folgen von Adjektiven
Diese kleine Lobeshymne auf den echten bayerischen Senf könnte von Sprechern/Schreibern der deutschen Sprache ohne viel zu überlegen so akzeptiert werden (vorausgesetzt, sie mögen bayerischen Senf). Aber wenn sie ausdrücken wollen, dass sie ihre Weißwurst nur mit der oben erwähnten würzigen Beigabe essen möchten, dann zögern plötzlich viele:
oder
mit echtem bayerischen Senf?
Man kann ja auch ins Grübeln kommen, wenn man sich z.B. die beiden folgenden Belege aus der Presse anschaut:
[St. Galler Tagblatt, 09.10.1998; Appenzeller Ziege: Zuchtziel erreicht]
[St. Galler Tagblatt, 01.10.2001; Ziegenböcke von guter Qualität]
Wie werden denn mehrere Adjektive hintereinander im Allgemeinen flektiert?
Allgemeine Regel
Für den modernen Sprachgebrauch gibt es eine allgemeine Regel für die Flexion von mehreren Adjektiven, die einem Nomen vorangehen. Diese Regel besagt, dass die Adjektive parallel, d.h. gleichmäßig flektiert werden. Das bedeutet, dass die Adjektive dieselbe Endung haben. Wenn das erste Adjektiv eine sogenannte schwache Endung hat, dann bekommen die ihm folgenden anderen Adjektive dieselbe schwache Endung. Wird das erste Adjektiv aber stark flektiert, so werden alle anderen ihm folgenden Adjektive auch stark flektiert.
Alle Adjektive sind schwach flektiert:
Alle Adjektive sind stark flektiert:
Zu den Gründen, wann ein Adjektiv stark oder schwach flektiert wird, vgl. Der große Bluff und ein großer Bluff — Artikelwahl und Adjektivflexion.
Schwache Adjektivflexion
Nominativ | der nette Mann | das nette Kind | die nette Frau | die netten Leute |
Akkusativ | den netten Mann | das nette Kind | die nette Frau | die netten Leuten |
Dativ | dem netten Mann | dem netten Kind | der netten Frau | den netten Leuten |
Genitiv | des netten Mannes | des netten Kindes | der netten Frau | der netten Leute |
Starke Adjektivflexion
Nominativ | roter Wein | dünnes Glas | große Freude | dünne Gläser |
Akkusativ | ohne roten Wein | ohne dünnes Glas | ohne große Freude | ohne dünne Gläser |
Dativ | mit rotem Wein | mit dünnem Glas | mit großer Freude | mit dünnen Gläsern |
Genitiv | dank roten Weins | dank dünnen Glases | dank großer Freude | dank dünner Gläser |
Wenn ein Adjektiv ohne Artikel verwendet wird, dann wird es stark flektiert:
Ich gehe gerne bei schönem Wetter spazieren.
Nach der oben erwähnten allgemeinen Regel müssten also die beiden Adjektive des Beispiels in der Überschrift gleichmäßig stark flektiert werden:
Ich gehe gerne bei schönem winterlichem Wetter spazieren.
Aber wieso gibt es denn so viele Belege, in denen das erste Adjektiv stark und das zweite Adjektiv schwach flektiert wird?
Abweichung von der allgemeinen Regel
Im aktuellen Sprachgebrauch findet man neben vielen Sätzen, in denen nach der allgemeinen Regel eine artikellose Adjektivfolge gleichmäßig stark flektiert wird, auch sehr viele Sätze, in denen die Adjektive einer artikellosen Adjektivfolge ungleichmäßig flektiert werden, und zwar wird das erste stark und das zweite (und gegebenenfalls das dritte) schwach flektiert. Diese Abweichung der allgemeinen Regel findet man nur in Adjektivfolgen im Dativ Singular Maskulinum oder Neutrum!
Ich gehe gerne bei schönem winterlichen Wetter spazieren.
Beleg mit Adjektiven, die gleichmäßig stark flektiert sind:
[Rhein-Zeitung, 25.03.2013]
[Süddeutsche Zeitung, 05.02.2014]
[Mannheimer Morgen, 07.06.2001, Biergartenfest für guten Zweck]
[die tageszeitung, 07.05.2003, S. 20]
Beleg mit Adjektiven, die ungleichmäßig (stark – schwach) flektiert sind:
[Berliner Zeitung, 21.08.1999, S.49]
[Mannheimer Morgen, 26.09.2012]
[Die Zeit (Online-Ausgabe). 08.06.2000, Nr.24]
[Mannheimer Morgen, 10.03.2003, Kommentar: Völlig schnuppe]
Woher kommt dieses Phänomen?
In älteren Grammatiken, wie z. B. in "Der Große Duden – Grammatik der deutschen Sprache" von 1935, S. 205-206, gab es eine Regel, wonach die Flexion von zwei oder mehreren artikellosen aufeinander folgenden Adjektiven verschieden war, je nach dem, ob das zweite Adjektiv mit dem Nomen "eine begriffliche" Einheit bildet, die durch das erste Adjektiv näher bestimmt wird, oder ob beide Adjektive gleichermaßen das Nomen näher bestimmen. Wenn zwischen beiden Adjektiven weder ein Komma noch und stehen können, ist es ein Zeichen dafür, dass das zweite Adjektiv mit dem Nomen eine begriffliche Einheit bildet. Das erste Adjektiv wird dann stark und das zweite schwach flektiert. Können Komma oder und zwischen beiden Adjektiven stehen, ist das ein Zeichen dafür, dass diese Adjektive gleichberechtigt sind. Sie werden dann beide gleichermaßen stark flektiert.
[...] ein Habit aus leichtem, lichtem Flanell. [Thomas Mann, Felix Krull, 1954]
"Gehen dem Hauptwort zwei Eigenschaftswörter voraus, so ist zu unterscheiden, ob das dem Hauptwort unmittelbar voranstehende mit diesem einen Begriff bildet, der durch das vorausgehende Eigenschaftswort näher bestimmt werden soll, oder ob beide Eigenschaftswörter in gleicher Weise dem Hauptwort als Beifügung beigelegt sind. In jenem Falle steht (im Wesfall und im Wemfall) das letzte Eigenschaftswort in der schwachen, in diesem Fall in der starken Form. Beide Fälle lassen sich leicht dadurch unterscheiden, daß man in jenem die Eigenschaftswörter weder durch einen Beistrich trennen noch durch und verbinden kann, während beides in diesem Falle möglich ist bzw. eins von beiden sogar geschehen muß.
Beispiele: Bewirtet mit köstlichem weißen Weine = mit köstlichem Weißwein; dagegen mit schmackhafter, gesunder Kost, oder: mit schmackhafter und gesunder Kost. Dort ist die Rede von weißem Weine, der köstlich, hier von einer Kost, die schmackhaft und gesund ist. Zwischen (der Geschmack) alter herber Weine und (der Geschmack) alter herben Weine ist ein Unterschied. Im letzten Fall ist nur ein Gegensatz gedacht, nämlich der zu jungen herben Weinen, während im ersteren an einem Gegensatz zu jungen und zu süßen Weinen gedacht werden kann." (Der große Duden - Grammatik der deutschen Sprache, 1935, S.205-206)
Wie ist der jetzige Sprachgebrauch?
In einer Untersuchung von Ivar Ljungerud über die Literatursprache nach 1900 (S. 253 ff.) wurde schon festgestellt, dass außer im Dativ Singular Maskulinum und Neutrum die gleichmäßige Flexion von Adjektivfolgen – ob begriffliche Einheit oder nicht – die übliche ist. Nur im Dativ Singular Maskulinum und Neutrum wird in artikellosen Adjektivfolgen häufig ungleichmäßig flektiert (stark – schwach), und zwar je nachdem, ob die Gruppe Adjektiv+Nomen als eine begriffliche Einheit empfunden wird oder nicht, was im Einzelfall allerdings häufig schwer zu entscheiden ist.
Aktuelle Texte zeigen ein ähnliches Bild: Die gleichmäßige Flexion von artikellosen Adjektivfolgen (stark – stark) ist zwar die übliche, aber im Dativ Singular Maskulinum und Neutrum kommen beide Möglichkeiten ungefähr gleich häufig vor, wobei die ungleichmäßige Flexion von Adjektiven (stark – schwach), die weder durch Komma noch durch und oder oder bzw. aber getrennt sind, sogar leicht überwiegt. Es ist unklar, ob die ungleichmäßige Flexion (stark – schwach) darin begründet ist, dass das zweite Adjektiv mit dem Nomen eine "begriffliche Einheit" bildet, denn häufig kommt die gleiche Adjektivfolge mal gleichmäßig (stark – stark), mal ungleichmäßig (stark – schwach) flektiert vor, ohne erfassbaren Bedeutungsunterschied. (Da die ungleichmäßige Flexion sich auf die Folge -em/-en begrenzt, ist die Begründung vielleicht eine rein euphonische, viele -ems hintereinander sprechen sich nicht so leicht aus?)
Belege ohne Komma, und o. Ä.:
[die tageszeitung, 14.08.2002]
[Rhein-Zeitung, 01.03.2014]
[Niederösterreichische Nachricht, 12.06.2014]
[Mannheimer Morgen, 12.06.2014]
Belege mit Komma, und o.Ä.:
[St. Galler Tagblatt, 02.05.1998; Rund um die «Insel»]
[St. Galler Tagblatt, 27.05.1997; Blockzeiten für Schulunterricht]
[Die Südostschweiz, 14.05.2011]
[St. Galler Tagblatt, 13.06.2013]
[Mannheimer Morgen, 29.05.2000: Im Zeichen des Frühlings]
[Berliner Zeitung, 24.01.2003, S. 10]
[Die Zeit (Online-Ausgabe), 18.11.1999, Nr. 47; Das große Datensterben]
[die tageszeitung, 20.02.2008]
[Berliner Zeitung, 24.06.2003]
[Rhein-Zeitung, 08.03.2013]
Fazit
a) Die Flexion des zweiten (und dritten usw.) Adjektivs darf immer der Flexion des ersten Adjektivs folgen.
b) Bei artikellosen Folgen von Adjektiven, die weder durch Komma noch durch und, oder bzw. aber getrennt sind, hat man im Dativ Singular Maskulinum und Neutrum die Wahl zwischen gleichmäßiger (stark – stark) und ungleichmäßiger (stark – schwach) Flexion.
c) Bei artikellosen Folgen von Adjektiven, die durch Komma, und, oder bzw. aber getrennt sind, sollte man sich besser an die gleichmäßige (stark – stark) Flexion halten - auch wenn im öffentlichen Sprachgebrauch vereinzelt die ungleichmäßige Flexion zu finden ist.