Flexionsklassen der Verben

Zur Charakterisierung der Flexionseigenschaften von Verben werden im Deutschen traditionell die von Jacob Grimm geprägten Bezeichnungen stark und schwach verwendet. Man unterscheidet zwei große Hauptklassen von Vollverben: schwache und starke Verben. Grundlage dieser Einteilung ist die unterschiedliche Bildung der finiten Verbformen des Präteritums und der infiniten Verbform des Partizip II (Partizip Perfekt). Eine kleine Gruppe von Verben trägt Züge sowohl schwacher als auch starker Flexion, ihre Vertreter werden deshalb gemischte bzw. unregelmäßig schwache Verben genannt.

Unter flexionsmorphologischen Gesichtspunkten bilden neben den Vollverben auch die Modalverben eine (mit Einschränkungen) homogene Flexionsklasse. Die Grundlage der Einteilung von Modalverben in eine gemeinsame Flexionsklasse ist durch die besondere, von den starken/schwachen Verben abweichende Distribution der Personal-/Numerussuffixe im Präsens gegeben (endungslose 1./3. Ps.).

Die Hilfsverben haben, sein und werden weisen uneinheitliche Flexionsmuster auf. Sie bilden keine eigene Flexionsklasse sondern werden traditionell den Hauptklassen zugeordnet oder werden wie in ProGr@mm kontrastiv gesondert betrachtet. Suppletivformen, die vereinzelt auch bei starken/gemischten Verben vorkommen, sind in den Flexionsparadigmen der Hilfsverben, insbesondere bei sein, sehr häufig.

Eine besondere Rolle bei der Klassifizierung der Verben spielen auch ihre Stammformen, die flexionsklassenabhängig unterschiedlich ausgeprägt sind (siehe unten).

Eine besondere Rolle bei der Klassifizierung der polnischen Verben nach der Flexion spielt Affigierung zum Stamm des Verbs, vgl. czyt-a (dt. lesen), czyt-a-m (ich lese), czyt-a(er las), czyt-a-no (es wurde gelesen) oder rys-ow-ać (zeichnen), rys-uj(ich zeichne), rys-ow-ał (er zeichnete), rys-ow-ano (es wurde gezeichnet). Für diese Dreiteilung der flexivischen Verbstruktur in Stamm, Infix und Flexionsendung (von Tokarski 1958, 1973 für die lexikographischen Zwecke vorgeschlagen, zum Teil mit kritischem Kommentar u.a. von Bańko 2005 und Nagórko 2005 für die grammatische Betrachtungsperspektive übernommen) wollen wir hier plädieren, weil sie die Konjugation des Verbs auf ein Paradigma (nur mit zwei konkurrierenden Endungen im Sg., 1. Ps.) reduziert, während die traditionellen Grammatiken, die zwei erste Komponenten des Verbs als Infinitivstamm und die dritte als Flexionsendung bzw. die erste Komponente als Verbthema und die zwei letzten als themabildende Verbsuffixe bezeichnen, die Konjugation somit zu drei oder vier Mustern erweitern und unnötig komplizieren. Beide klassifikatorische Ansätze (der lexikographische und der strikte grammatische) umfassen nicht alle Verben, die sie dann als unregelmäßig bezeichnen. Die Konjugation des polnischen Verbs im Präsens sieht folgendermaßen aus:

SingularPlural
1. Personrysuj-ę (zeichnen), czyta-m (lesen)rysuje-my, czyta-my
2. Personrysuje-sz, czyta-szrysuje-cie, czyta-cie
3. Personrysuj-e, czyta-Ørysuj-ą, czytaj-ą

Die polnischen Verben lassen sich auf Grund formaler Ausprägung der Stammformen bei Berücksichtigung des Infixes (nach Tokarski 1958, 1973 przyrostek czasownikowy) in 18 Klassen einteilen, darunter 11 Hauptklassen und 7 Unterklassen, denen verschiedene Alternationen zu Grunde liegen. Die übrigen Verben, die sich keiner Klasse einfügen lassen, werden zu den unregelmäßigen Verben gezählt, z. B. bać się (dt. sich fürchten), powinien (sollen), hierher gehören auch die Verben mit den Suppletivformen wie być (sein), iść (gehen), (genauer dazu vgl. verbale Stammparadigmen im Polnischen).

Schwache Verben bilden die Präteritalformen (nur) durch Affigierung, z. B.: lache — lachte.

Starke Verben bilden ihre Präteritalformen mit Hilfe des Ablauts (Vokalwechsel), z. B. sehe — sah.

Schwache Verben affigieren ge- an die Partizipialstammform (bzw. ge-...-(e)t an die Präsensstammform), z. B. er hat gelacht.

Starke Verben affigieren ge-...-en an die Partizipialstammform, z. B. er hat gesungen.

Verben mit festem Präfix affigieren nur das Suffix -(e)t bzw. -en, z. B. ich habe erzählt/verloren. Bei Verben mit abtrennbarem Präverb wird ge- wird zwischen Präverb und Verbstamm eingefügt, z. B. er wurde ausgelacht.

Produktivität

Schwache Verben stellen im Deutschen die produktive Flexionsklasse für Verben dar. Neue Verb-Lexeme wie z. B. simsen, emailen, toppen, zappen flektieren schwach:

Er fand ein Bier im Kühlschrank, setzte sich damit auf den Bettrand und zappte durch die Fernsehprogramme. [Mannheimer Morgen, 01.04.2004]

Alle tippen fleißig SMS. Doch was wird heute eigentlich alles per Handy gesimst? [Hamburger Morgenpost, 03.02.2007]

Die Flexionsklassen starker und gemischter Verben, die sich durch Stammformenbildung mit Hilfe von Vokalwechseln auszeichnen, sind hingegen nicht produktiv. Flexionsklassenwechsel vollziehen sich im heutigen Deutsch zu Gunsten der schwachen Verben, wobei eine schwache und eine starke/gemischte, teilweise nur einzelne Stammformen betreffende Konjugation parallel Bestand haben können (z. B. fragen – fragte(frug) – gefragt).

Die produktivste Flexionsklasse ist die Klasse der Verben, an deren Stamm das Infix –ow– hinzugefügt wird. Es handelt sich dabei um Fremdwörter, die durch Affigierung in das Konjugationssystem des Polnischen eingegliedert worden sind: faks - faksować, skaner - skanować, mail - mailować, sms - smsować, ksero - kserować. Einen hohen Grad an Produktivität weist auch die Klasse mit dem Infix –e– und sie betrifft die deadjektivalen Stammbildungen, die einer Größe eine Beschaffenheit zuordnen: czernieć (dt. schwarz werden), czerwienieć (rot werden), drożeć (teuer werden), łysieć (kahl werden). Eine interessante Klasse der Verben hinsichtlich der Produktivität ist diese mit Infixen –yw– / –iw– . Die nach diesem Muster gebildeten und konjugierten Verben betonen die Iterativität der Tätigkeit: czytać (lesen) - czytywać, pisać (schreiben) - pisywać, widzieć (sehen) - widywać, machać (winken) - wymachiwać. Des Weiteren ist das Infix –n– auch produktiv, die entsprechenden Verben bezeichnen ein Ereignis, das plötzlich und vorübergehend ist: błyskać się (blitzen) - błysnąć, gwizdać (pfeifen) - gwizdnąć, wrzeszczeć (schreien) - wrzasnąć.

Verbale Stammparadigmen

Die Stammformen eines Verbs können im Deutschen flexionsklassenabhängig entweder genau zwei (schwache Verben) oder bis zu fünf (starke Verben) verschiedene formale Ausprägungen besitzen. Letztere unterscheiden sich hauptsächlich durch einen Vokalwechsel, der den Vokal der Stammform des einfachen (einteiligen) Verbs betrifft, z. B.:

schwach: lach-, lachte-
stark: sprech-, sprich-, sproch-, sprach-, spräch-

Zum Vokalwechsel kann in einzelnen Fällen begleitend ein Konsonantenwechsel treten, der wie bei sprech-[ç]/sproch-[x] (Allophone) vorhersagbar ist. Die Konsonantenwechsel im Flexionsparadigma einiger starker (z. B. zieh-/zog-) und gemischter Verben (z. B. bring-/brach-) sind Ergebnis historischer Lautwandelprozesse (vgl. Vernersches Gesetz), von denen nur bestimmte Stammformen im Paradigma betroffen waren. Von Suppletion bzw. Suppletivformen ist die Rede, wenn in Flexionsparadigmen Wortformen vorkommen, die mit verschiedenen, nicht (durch Vokalwechsel) abgeleiteten Stammformen gebildet werden. Suppletivformen können wie bei den oben erwähnten Konsonantenwechsel als Ergebnis historischer Lautwandelprozesse vergleichsweise geringe morpho-phonologische Unterschiede aufweisen oder wie bei sein/war völlig unterschiedlich sein.

Den Stammformen kommt in Verbindung mit den Flexionssuffixen die Funktion zu, die Flexionskategorien finiter Verformen zu kennzeichnen bzw. infinite Verbformen (Infinitiv/Partizip II) zu bilden. Die Stammformen bilden ein verbspezifisches Stammparadigma, dessen Aufbau flexionsklassenabhängig ist, d. h. bei schwachen, gemischten und starken Verben haben die Stammformen unterschiedliche Ausprägungen.

  • Die Stammformen schwacher Verben lassen sich aus der Präsensstammform herleiten. Die Stammparadigmen starker Verben sind vielfältig, lassen sich aber unter gewissen Gesichtspunkten (Ablautreihen, phonologische Bedingungen) ordnen.
  • Die Modi Indikativ, Konjunktiv und Imperativ lassen sich aus den Tempusstammformen herleiten.
  • Der Infinitivstamm ist bei schwachen, gemischten und starken Verben immer mit der (primären) Präsenstammform identisch.

Die polnischen Verben lassen sich auf Grund bestimmter Infixe, die zwischen den Stamm und die Flexionsendung hinzugefügt werden, klassifizieren. Die Infinitivendung hat drei formale Ausprägungen: –ć, –, oder –ąć. Im Flexionsparadigma der jeweiligen Klasse kann es zu Veränderungen der Infixe kommen – ein Hauptgrund für komplizierte Klassifizierung der polnischen Verben in 18 Verbklassen! Die häufigsten Veränderungen betreffen den Konsonantenwechsel, darunter die Palatalisierung (z. B. m - mi, b - bi) oder die funktionale Palatalisierung (z. B. s - sz, r - rz). An diese Konsonantenalternationen kann sich auch ein Vokalwechsel anschließen (z. B. e - o). Die weiteren Veränderungen sind die Erweiterung des Infixes um –j– oder die Reduktion des Infixes. In der folgenden Tabelle werden einige Stammparadigmen dargestellt.

InfinitivPräsensstammformenPräteritalstammformen
czyt-a-ć (lesen)czyt-a- / czyt-aj-czyt-a-
umi-e-ć (können)umi-e- / umi-ej-umi-a- / umi-e-
rys-ow-ać (zeichnen)rys-uj-rys-ow-
ciąg-n-ąć (schleppen)ciąg-n- / ciąg-ni-ciąg-n-
chud-n-ąć (abnehmen)chud-n- / chud-ni-chud-Ø-
pal-i-ć (rauchen)pal-Ø- / pal-ipal-i-
licz-y-ć (zählen)licz-Ø- / licz-ylicz-y-
leci-e-ć (fliegen)lec-Ø- / lec-ileci-a- / leci-e-
słysz-e-ć (hören)słysz-Ø- / słysz-ysłysz-a- / słysz-e-
wypyt-yw-ać (ausfragen)wypyt-uj-wypyt-yw-
bi-Ø-ć (schlagen)bi-j-bi-Ø-
gi-ą-ć (biegen)gi-ą-ć (biegen) g-n- / g-ni-gi-ą- / gi-ę-
tłuc-Ø(zerschlagen)tłuk-Ø- / tłucz-etłuk-Ø-

Die restlichen Verben, deren Stammformen sich keiner der Verbklasse einfügen lassen, werden zu unregelmäßigen Verben gezählt. Hierher werden auch die Verben mit den Suppletivstammformen hinzugefügt. Einige von diesen Verben führen wir in der Tabelle auf:

być (sein)iść (gehen)siąść (sich setzen)
1. Ps. Sg.jestemidęsiądę
2. Ps. Sg.jesteśidzieszsiądziesz
3. Ps. Sg.jestidziesiądzie
1. Ps. Pl.jesteśmyidziemysiądziemy
2. Ps. Pl.jesteścieidzieciesiądziecie
3. Ps. Pl.idąsiądą
3. Ps. Sg. Prät.był (er), była (sie)szedł (er), szła (sie)siadł (er), siadła (sie)
3. Ps. Pl. Prät.byli, byłyszli, szłysiedli, siadły

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