Akzentuierung der Komposita

Allgemeine Prinzipien

Bei der Beschreibung der Regularitäten, die für die Akzentuierung der Komposita gelten, muss man grundsätzlich unterscheiden zwischen Kopulativ- und Determinativkomposita.

  1. In Determinativkomposita bekommt das Determinans den Hauptakzent:

(1) Lagerbestand (Lager + Bestand)
(2) Straßenbahn (Straßen + Bahn), Straßenbahnschaffner (Straßenbahn + Schaffner)
(3a)Hungerhilfe (Hunger + Hilfe)

  1. Werden weitere Wörter (modifizierend nach links) angebunden, können sie ihren Hauptakzent verlieren.

(3b)Welthungerhilfe (Welt+ Hungerhilfe)

  1. In Kopulativkomposita behalten die Wortbildungseinheiten ihren Hauptakzent.

(4) [Sapir-Whorf]-Hypothese, schwarz-rot-gold

  1. Verliert ein Wort in der Komposition seinen Hauptakzent, so wird er durch einen Nebenakzent ersetzt, es sei denn, der Hauptakzent ist unmittelbar benachbart. Gelangen zwei Nebenakzente durch Kompositionsprozesse in unmittelbare Nachbarschaft, so bleibt nur der vom Hauptakzent am weitesten entfernte erhalten.

(5) Bohnen + KaffeeBohnenkaffee + ExperteBohnenkaffeeexperte

(6) Straßen + BahnStraßenbahn + WagenStraßenbahnwagen

  1. Homonyme Wörter können durch Verlagerung des Hauptakzents auf die nächste schwere Silbe bzw. den nicht-akzentuierten Teil eines Kompositums unterschieden werden.

(7) Aktiv – aktiv, Passiv – passiv

Zur Akzentuierung der Determinativkomposita

Grundprinzip der Determinativkomposita ist, dass einem Basislexem/Determinatum ein Determinans (genauer gesagt: Spezifikans) vorausgeht, welches das Basislexem semantisch näher bestimmt; Prototyp: Krankenkasse. Dieser Vorgang potenziert sich bei mehr-als-zweigliedrigen Determinativkomposita: [Betriebs→(krankenkasse)], [(Lindenblüten)→tee]. Andere Sprachen (etwa die slawischen und romanischen) setzen Spezifizierungen eher durch Präpositionalkonstruktionen oder Adjektivierung um:

Telefonzelle(frz.) cabine téléphonique(poln.) budka telefoniczna
Ferienhaus(frz.) maison de vacances(poln.) dom wczasowy

Das Spezifikans ist daran erkennbar, dass es gegenüber der Basis (stärker) akzentuiert ist. Dieser Faktor wirkt auch bei mehrgliedrigen Komposita. So kann man in den Beispielen Betriebskrankenkasse und Lindenblütentee an der unterschiedlichen Verteilung der Intensität der beiden hinteren Glieder ablesen, dass zwei verschiedene strukturelle Typen vorliegen, nämlich [A→(BC)] als Intensitätsgrade 4-3-2 gegenüber [(AB)→C] als 4-2-3 (einer fünf Grade umfassenden Skala). Beim Typ Lindenblütentee ist das relative (= untergeordnete) Spezifikans Linden- gleichzeitig Teil des absoluten (= höchstrangigen) Spezifikans, wird also prosodisch aufgewertet.

Um die Akzenthierarchie eines Kompositums zu bestimmen, muss die Rangordnung der Spezifizierungen von unten nach oben nachvollzogen werden: Autobahn, Stadt→(autobahn); Dorfschule, (Dorfschul(e))→lehrer usw. Auf jeder Stufe der Rangordnung wird eine interne Prädikation vollzogen – einer (thematischen) Basis wird ein (rhematisches) Spezifikans mit höherem Intensitätsgrad zugewiesen –, vergleichbar der Prädikation durch einen mit Kopula angebundenen qualifizierenden Ausdruck (Adjektiv, Präpositionalphrase):Rotwein: der Wein←ist rot; Holzhaus: Das Haus←ist aus Holz.

In der Sprechpraxis besteht allerdings eine Neigung zur Nivellierung der schwächeren Glieder, so dass die strukturelle Rangordnung verschleiert wird. Daher sind die prosodischen Muster in den Komposita der beiden dreigliedrigen Typen pragmatisch so gut wie gleich: Schwa-Silben und andere essentiell unbetonte Silben werden extrem abgeschwächt, die Silben mit Nebenakzent erscheinen als gleichwertig, die Betonung des absoluten Spezifikans ragt als wesentliches Merkmal heraus:

(a)Typ Betriebskrankenkasse, Binnenwasserstraße,Stadtautobahn:[A→(BC)]
(b)Typ Hinterhauswohnung,Lindenblütentee, Dorfschullehrer:[(AB)→C]

Das prosodische Grundmuster von Nominalkomposita weist aus den dargestellten Gründen Anfangsbetonung auf. Es gibt jedoch Abweichungen, die strukturelle Besonderheiten signalisieren. Da bei ihnen der Hauptakzent nicht, wie erwartbar, auf der ersten Konstituente liegt, könnte man von „De-Initialisierung des Hauptakzents“ sprechen (z. B. Jahrzehnt, Sonntagmittag, Bundesverdienstkreuz). Dieses Phänomen findet sich auch in anderen Komposita bildenden Sprachen, wenn auch vielleicht nicht aus denselben Gründen (vgl. niederl.: zondagmiddag, rijksscholeninspectie; engl./amerik.: mankind, Madison Avenue, evening star).

Die Zugehörigkeit von Spezifikans oder Basis zu bestimmten semantischen Feldern kann für die Akzentuierung bedeutsam sein. Gleichzeitig kommen formal-funktionale Kriterien zum Tragen. So gibt es Felder, in denen abweichende Betonung häufig ist, und Wortbaupläne, die sie begünstigen. Da in denselben Bereichen auch das Grundmodell sowie Schwankungen auftreten, ist es sinnvoll, von Tendenzen zu sprechen:

(A) Quantifizierungen und Skalen

Jahrtausend, Zweipersonenhaushalt, Dreigroschenoper, Hundertmeterlauf
ABER: Dreipunktsicherheitsgurt, Viertaktmotor, Zwölftontechnik, Allradfahrzeug
SCHWANKUNGEN: Fünfuhrtee / Fünfuhrtee, Einfamilienhaus / Einfamilienhaus

Formal konstatiert man in diesem Bereich oft die Umkehrung der Spezifizierungsrelation: Die zweite Konstituente spezifiziert als Element eines Kontrstparadigmas die erste:

Jahrhundert / Jahrtausend, auch Fälle wie Sonntagmorgen / Sonntagabend,

ähnlich wie bei appositiv nachgestellten Eigennamen oder Adjektiven (Stadt Köln, Berg Atos, Alu matt, Röslein rot).

Andererseits kann gerade das Fehlen eines Kontrastparadigmas für den ersten Term maßgeblich sein. Dieser ist dann nicht differenzierend, was ihn als Spezifikans disqualifiziert. Das Kompositum bezeichnet ein Unikat, einen festen Begriff bis hin zur Metapher, Metonymie und zum exozentrischen Kompositum:

Dreikaiserjahr, Sechstagerennen, Siebenmeilenstiefel, Siebengelstadt, Zweifrontenkrieg, Dreisehoch, ABER: Zweistromland.

(B) Koordinatensysteme, Topographie, Toponyme

Zwei wesentliche Typen sind zu unterscheiden.

  1. solche mit Himmelsrichtungen und Abstufungen:

Südamerika, Nordwest(en), Großglockner, Oberammergau, Neubrandenburg
ABER: Westbahnhof, Südkreuz, Norddeutschland, Oberhausen, Neukölln / Neukölln

  1. solche mit Bezugsgrößen, oft Flussnamen, im ersten Teil:

Donaueschingen, Rheinfelden, Nikolassee, Mönchengladbach

Die nebenakzentuierte Bezugsgröße in Typ (b) ist nicht zu verwechseln mit einem echten hauptakzentuierten Spezifikans wie inWuppertal.

(C) Ähnlich steckt auch die erste Konstituente bei Bezeichnungen von politisch-gesellschaftlichen oder infrastrukturellen Einrichtungen einen Gültigkeitsrahmen für die nachfolgenden Konstituenten ab; die mittlere Konstituente ist oberstes Spezifikans

  1. Bundesgerichtshof, Bundesautobahn, Jahreshauptversammlung [B→(AC)].
  2. ABER: Stadtsparkasse, Reichshauptstadt [A→(BC)], Kreisratsvorsitzender
  3. SCHWANKUNGEN: Bundeskanzleramt / Bundeskanzleramt

(D) Die interessanteste Kategorie ist jedoch die folgende, denn hier liegt Überkreuzbezug vor

Weltgesundheitsorganisation, Bundesjustizministerium, Landesbaubehörde[(B←(A)→C)]

Hier verdeckt die äußere Form des Kompositums die zugrunde liegende Bezugsstruktur, denn es kann auch die erste mit der dritten Komponente als Grundkompositum gelten und die mittlere als Hauptakzentträger absolutes Spezifikans sein (= Bundesministerium für Justiz).

Adjektivische und analytische Lösungen anderer Sprachen bestätigen die Relevanz der Überkreuz-Lesart: Weltgesundheitsorganisation [= frz.: Organisation mondiale de la santé].

(E) In verschiedenen Feldern, z. B. bei Typ A, gibt es den Fall, dass die ersten beiden Komponenten einen syntaktischen Block bilden – in der Regel eine NP oder ein bereits bestehendes Kompositum –, der als Spezifikans geschlossen mitsamt der ursprünglichen Betonung in das Kompositum integriert ist. Dieser Faktor überschneidet sich mit den anderen, muss aber als dominant eingestuft werden

Dreisehoch [er ist (drei se) hoch], Schönwettergebiet [hier ist immer (schönes Wetter)].

Zur Akzentuierung der Kopulativkomposita

(F) Andere Gründe bzw. Wirkungen hat die Akzentuierung der Kopulativkomposita. Manches, was sich kognitiv als „sowohl / als auch“ darstellt, ist via Stereotyp dem Grundmuster des Determinativkompositums angeglichen (Strumpfhose, Dichterkomponist). Demgegenüber wirkt die gegenläufige Betonung bestimmter Toponyme (Rheinland-Pfalz) geradezu als Indiz der Desintegration oder folgt dem Modell von Vor- und Zuname (Peter Pohl).

Klare Verhältnisse liegen vor bei Farbkombinationen: De-Initialisierung bei gleichzeitiger Präsenz verschiedener gleichwertiger Entitäten (Schwarzweißfilm, schwarz-rot-gold), Anfangsbetonung bei Verfremdung (also Spezifizierung) einer Farbe durch eine zweite (blaugrünes Meer, grauweißer Schnee).

(G) Bei Adjektiv- und Verbal-Komposita herrscht prinzipielle Analogie zu Nominalkomposita, Abweichungen sind jedoch eng determiniert. Adjektivische Komposita kennen unbetonte Anfangselemente nur als Präfixe oder in Phrasenkomposita:

durchwachsener Speck, verkehrte Welt, ein zweibibeldickes Buch.

Echte Verbalkomposita sind dagegen selten und meist sekundäre, aus Nomina abgeleitete Konstruktionen mit Initialbetonung (schwingschleifen, mähdreschen). Ansonsten schlägt sich nur der Gegensatz Präfix/Präverb in der Akzentuierung unbetont/betont nieder.

(H) Sprachtypische Betonungsmuster:

Betonungsmuster sind wohl der am stärksten dominante Faktor. Ihnen sind alle Komposita unterworfen. Auf der Basis der für das Deutsche typischen Tendenz zum Alternieren lassen sich Schemen der folgenden Art ausmachen, nachzuprüfen an allen vorgenannten Beispielen:

(sowie Varianten) [a = Akzent, n = Nebenakzent]

Die intonatorischen Komposita im Norwegischen folgen der morphologisch motivierten Mehrsilberbetonungsregeln, was zur Folge hat, dass in solchen Komposita Haupt- und Nebenakzente vorkommen, die zugleich den informativen Wert der Kompositumsbestandteile prägen. Hauptakzente sind dabei Träger der informativ wichtigeren Markierung. Topologisch tendieren Hauptakzente zur initialen Silbe, was in einer gewissen Kongruenz mit norwegischen Wortbildungsregeln steht, vgl. mesteparten mit hauptbetontem [ɛ]- und nebenbetontem [ɑ]-Stamm. Im Großen und Ganzen sind also die norwegischen und deutschen Regeln der Betonung von intonatorischen Komposita gleich. Es muss aber auf die Tatsache hingewiesen werden, dass die norwegischen lexikalisch selbstständigen Präfixe wie over- oder under- im Gegensatz zum Deutschen immer die Hauptbetonung eines intonatorischen Kompositums tragen, z. B. oversette ‚übersetzen’, underskrive ‚unterschreiben’. Ihre Trennbarkeit vom Verb resultiert phonetisch immer mit intonatorischen Phrasen oder mit einer Sequenz von Mehrsilbern (z. B. nach dem Muster: oppdra vs. dra opp). So wird im Norwegischen – anders als im Deutschen – das mis-Präfix (haupt)betont (z. B. misbruke), weil seinem informativen Wert dadurch Rechnung getragen wird (im Gegensatz zu z. B. unbetontem be-, vgl. betale).

Die Regeln für Tonem II-Realisierung in norwegischen intonatorischen Komposita lassen sich nur schwer zusammenstellen, was aus ihrer begrenzten Systematizität, regionalen Instabilität sowie den idiolektalen Sprecherneigungen resultiert. Die auf eigenen experimentellen Untersuchungen basierenden diesbezüglichen Analysen bieten u.a. Kristoffersen 2000 und Wetterlin 2010.

Übung: Wortakzent bei Komposita

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