Zusammenfassung

Die Teilstudie zur Variation der starken Genitivendung begann mit einem Vergleich einiger wichtiger Darstellungen dieser Problematik. Dabei wurde versucht die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der Ansätze herauszuarbeiten sowie Fragestellungen abzuleiten, in denen Klärungs-, Überprüfungs- oder auch nur Präzisierungsbedarf bestand (Vergleich bisheriger Forschungsansätze). Es folgte die Formulierung einiger konkreter Fragen für die weitere Forschung, die zwar bei Weitem nicht als eine abgeschlossene To-do-Liste für diese Teilstudie zu verstehen waren, wohl aber als ihre Orientierungspunkte dienten (Resultierende Forschungsfragen).

Der auf die Auseinandersetzung mit der Forschungslage folgende allgemeine Datenüberblick (Datenüberblick und strukturierende Rolle der sog. starken Faktoren) stützte zunächst die verbreitete Meinung, dass die kurze Endung -s im großen Ganzen betrachtet den Normalfall bedeutet: Genitivnomen auf S machten fast drei Viertel aller Token mit einer Endung aus, und ausschließlich mit S erschienen über drei Viertel der Lexeme, die eine Endung zuließen. Bei denjenigen 7% der Lexeme, die in unserem Material mit beiden Endungen auftraten, überwogen allerdings leicht die ES-Realisierungen.

Nach dem Datenüberblick wurde die Untersuchung der Endungswahl zweigeteilt. Im ersten Block (Starke Faktoren und invariante Nomen) wurden die sog. starken Faktoren analysiert, die der bisherigen Forschung zufolge eine (tendenziell) ausnahmslose Wirkung erzielten. Da der lexikalische Faktor der Zugehörigkeit zum nicht ins appellativisch geprägte Nomensystem integrierten Sonderwortschatz bei positiver Ausprägung die Endung ES weitgehend verhinderte, dabei einen sehr großen Teil des Materials betraf und andere starke Faktoren teilweise dominierte, wurden Nomen der entsprechenden Sondergruppen1 aus den weiteren Betrachtungen ausgeschlossen. Im verbliebenen Material konnten so "unverschleiert" die aus der Fachliteratur bekannten lautlichen, prosodischen und morphologischen Faktoren als Nominalvariablen analysiert und hierarchisiert werden – Letzteres sowohl hinsichtlich der relativen Häufigkeit der bei positiver Ausprägung geforderten Endung (Durchschlagskraft), als auch hinsichtlich der Effektstärke (logarithmierte Odds Ratio, Phi-Koeffizient), die die Auswirkung auf die Gesamtheit der Genitivnomen (Reichweite) mit berücksichtigte. Ergänzt wurde die Reihe der starken Faktoren dabei um den Faktor der extrem hohen Frequenz, die fast ausnahmslos zur Endung -es führte. Die positiven Ausprägungen der starken Faktoren, also z. B der s-Auslaut, der Wortausgang auf eine Schwa-Silbe, die Sondergruppenzugehörigkeit oder die besagte extrem hohe Frequenz, lagen in unserem Material bei etwa 4 Mio. Token bzw. bei etwa 60% aller Token mit einer Endung vor.

1 Über Taggerannotationen bzw. umfassende (aber naturgemäß nicht vollständige) Listen identifizierte Fremdwörter, Eigennamen, Abkürzungen, Konversionen, Neologismen.


Im zweiten Block (Schwache Faktoren und frei variierende Nomen) wurden die der Spezialliteratur und Voruntersuchungen zufolge schwächeren Faktoren untersucht. Vorab wurden aus den Daten alle Nomen ausgeschlossen, die vom Einfluss der starken Faktoren betroffen sein konnten. In der verbliebenen Datenbasis, die jetzt größtenteils aus (zumindest potenziell) varianten Nomen bestand, die alle auf Konsonant(en) endeten, hatten die Token auf -s nur noch ein Übergewicht von 59%. Nach einer Analyse der Durchschlagskraft und der Reichweite der sog. schwachen Faktoren wurde zunächst der Übergangsbereich zu den starken Faktoren modelliert. Dabei zeigte sich, dass "schwache" Faktoren aus den Bereichen Silbenanzahl, Betonung, Vokalhöhe und Sonoritätshierarchie, obwohl sie im Hinblick auf die Durchschlagskraft tatsächlich allen "starken" Faktoren unterlegen waren, bei der Effektstärke (Phi-Koeffizient) mit diesen sehr gut mithalten konnten. Da bei den "schwachen" Faktoren (anders als bei den "starken") auch zahlreiche Faktorenkorrelationen vorlagen und daher mit relevanten Interaktionen zu rechnen war, wurde dies in einer exemplarischen Regressionsanalyse zum Zusammenwirken von Silbenanzahl, Beschaffenheit des konsonantischen Auslauts sowie Länge und Höhe des Vokals in der letzten Silbe problematisiert. Anschließend wurden die komplexen Einflussgrößen Vokallänge, Vokalhöhe, Sonorität und Komplexität des Auslauts detailliert unter die Lupe genommen, da ihre bisherige Behandlung als binäre Faktoren (Nominalvariablen) zu pauschal erschien.

Es zeigt sich insgesamt, dass nur ein geringer Teil der Nomen mit einer Endung (7%) als variationstauglich gelten kann. Die meisten Nomen bringen lexikalische, lautliche oder morphologische Voraussetzungen mit, die eine der beiden Endungen mehr oder weniger erzwingen. Allerdings sind einige Nomengruppen, die in der Literatur oft als tendenziell nur auf eine Endung beschränkt geführt werden, ziemlich weit von der Ausnahmslosigkeit entfernt (vgl. Frage a aus Resultierende Forschungsfragen): Bei den Nomen auf -sch und -st liegt die -es-Präferenz nur bei 80% bzw. 90% und bei den Nomen auf einen Diphthong zeigen mehr als 10% die "unerwartete" Endung -es. Die genannten Nomengruppen bilden somit bereits den Übergang zu den freier variierenden Nomen und die entsprechenden Faktoren sind nicht mehr zu den Faktoren zu zählen, die eine (tendenzielle) Ausnahmslosigkeit einer Endung bewirken.

Was die sog. schwachen Faktoren angeht, die im Feld der freier variierenden Nomen wirksam sein sollten, so ließ sich zwar für alle eine signifikante Wirkung nachweisen, diese fiel aber teilweise recht schwach aus. Insbesondere waren Einflussgrößen wie das Genus des Nomens und die Länge des Vokals (Diphthong nicht mitgerechnet) in der geschlossenen letzten Silbe sowohl im Hinblick auf die Durchschlagskraft als auch im Hinblick auf die Reichweite verhältnismäßig bedeutungslos. Sie wären daher bei der Vielzahl wichtigerer Faktoren in einer im Umfang limitierten Gesamtdarstellung der Variation der starken Genitivendung am ehesten vernachlässigbar. Von den sog. schwachen Faktoren müssten in eine angemessen gewichtete Darstellung auf jeden Fall die Faktoren Silbenanzahl und Betonung Eingang finden, aber auch die Sonorität der auslautenden Konsonanten und die Qualität des Vokals in der letzten Silbe, die in der Spezialliteratur weniger etabliert sind, verdienten eine Aufnahme (vgl. Frage b aus Resultierende Forschungsfragen). Insgesamt könnte sich eine solche Darstellung aus einer Kombination von starken und schwachen Faktoren zusammensetzen, etwa wie sie in Abbildung 1 (weiter unten) vorliegt.

Im oberen Teil der Abbildung (Bereich 'invariante Nomen') sind die (nahezu) obligatorischen Regeln gruppiert und unterhalb von 'Sonderwortschatz' hierarchisiert, und zwar so, dass die als relevanter eingeschätzten Regeln höher erscheinen. Die Hierarchie ist aus einem Versuch entstanden, die Durchschlagskraft und die Reichweite der jeweiligen Faktoren auszubalancieren, und darf nicht überbewertet werden. Im unteren Teil der Abbildung sind die Regeln in die ES-Gruppe und S-Gruppe aufgeteilt und in diesen Gruppen ebenfalls hierarchisiert. Die Regeln sind hier fakultativ, die Faktoren können miteinander korrelieren und interagieren, sie können sich gegenseitig stützen oder auch im Konflikt miteinander liegen (vgl. das Beispiel Falles, das einerseits ein /a/ enthält und andererseits auf Liquid auslautet). Die Darstellung suggeriert u. U., dass die Faktoren nur binär zu verstehen sind. Dies ist nicht immer der Fall, was unten noch diskutiert wird.

Abb. 1: Zentrale Faktoren der Endungswahl

In der Abbildung erscheint separat der Faktor 'Diphthong' in der geschlossenen letzten Silbe, der in traditionellen Darstellungen beim Faktor Vokallänge als langer Vokal mit behandelt wird. Folgt man solchen Auffassungen, so wirkt sich die Ausprägung lang (einschließlich der Diphthonge) marginal zugunsten von -s (vgl. Frage b aus Resultierende Forschungsfragen). Allerdings liegt das nur daran, dass Diphthonge in der geschlossenen letzten Silbe eine verhältnismäßig starke s-Tendenz auslösen, und damit die anderen langen Vokale "mitziehen", die separat betrachtet zu einer leichten -es Tendenz führen (vgl. Vokallänge). Daher empfiehlt es sich auf eine binäre Auffassung des Faktors Vokallänge zu verzichten bzw. den Diphthong in der geschlossenen letzten Silbe getrennt zu behandeln.

In Abbildung 1 erscheint der vorher als gewichtig eingeschätzte Faktor Sonorität nicht direkt (vgl. Frage c aus Resultierende Forschungsfragen). Dort sind nur seine polaren konsonantischen Ausprägungen Nasal/[l] und Plosiv zu finden, da sonstige Konsonantenarten als nicht auf eine Endung festgelegt gelten müssen. Modellhaft ist hier der Frikativ /f/, der zur Mitte der konsonantischen Sonoritätshierarchie hin tendiert und keine Endung eindeutig präferiert. Interessant erscheint, dass die Sonorität der Konsonanten auch in Konsonantengruppen am Nomenende eine Rolle spielt und zwar in der Weise, dass sich die Sonoritäts- bzw. Obstruenzpotenziale, die die beteiligten Konsonanten mitbringen, quasi miteinander verrechnen. Als prototypisch können hier die Verbindung von zwei Liquiden in Kerl mit einer eindeutigen Tendenz zu -s einerseits und die Verbindung von Plosiven in Punkt oder Papst andererseits dienen. Schließlich kann man den Faktor Sonorität- bzw. Obstruenz umfassender konzipieren und auch 'Auslaut auf Vokal' und 'Auslaut auf Diphthong' integrieren. Am sonoren Pol der komplexen Ordinalvariable stünde jetzt 'Auslaut auf Vokal', der sehr stark -s fordert, und die Variable würde sich über 'Auslaut auf Diphthong', 'Auslaut auf /l/' etc. bis hin zu 'Wortausgang auf komplexe Koda', der stark die Endung -es fördert, am obstruenten Pol erstrecken.

Abbildung 1 in Frequenz fasst nur sprachsystematische Faktoren zusammen – mit einer Ausnahme: Kombiniert mit Einsilbigkeit erscheint dort der performanzbasierte Faktor 'hohe (Lexem-)Frequenz' (vgl. Frage e aus Resultierende Forschungsfragen). Dem nicht nur auf hohe Werte eingeschränkten Faktor Lexemfrequenz kommt bei Einsilbern eigentlich die Bedeutung als Verhältnisvariable zu (was durch den Pfeil im unteren Teil der Abbildung angedeutet wird). D. h. dass extrem häufige Einsilbern fast ausschließlich die Endung -es wählen und dass mit abnehmender Häufigkeit der Lexeme prinzipiell auch die relative Häufigkeit der -es-Token abnimmt, sodass die sehr seltenen Einsilber ähnlich dem nicht-integrierten Wortschatz stark zur Endung -s tendieren. Bei Mehrsilbern scheint der Faktor Lexemfrequenz eher unbedeutend zu sein.

Lediglich angeschnitten werden konnte hier die Rolle der rhythmischen Parameter (Frage f aus Resultierende Forschungsfragen). Dass Einsilber und Nomen mit Ultima-Betonung zu -es tendieren, Nomen mit Pänultima-Betonung dagegen zu -s lässt sich sehr gut mit der allgemeinen Tendenz zum Trochäus als dem im Deutschen bevorzugten Fuß vereinbaren. Diese Tendenz scheint hier auch an einigen anderen Stellen wirksam zu sein (z. B. bei Nomen auf eine geschlossene Schwasilbe, die die Endung -s selegieren). Eine genauere Untersuchung prosodischer Verhältnisse, auch über das Nomen hinaus, war hier nicht mehr möglich, sie könnte aber weitere Klärungen der Bedingungen der Endungsvariation mit sich bringen.

Im unteren Teil der Abbildung werden die Einsilbigkeit und die Betonung anders als die anderen Faktoren mit Pfeilen repräsentiert. Dies steht dafür, dass sie immer mit den anderen Faktoren korrelieren und dass ihre Wirkung dabei so konzeptualisiert werden kann, dass sie den "Ausgangspunkt" für die Bemessung der Wirkung anderer für variante Nomen relevanter Faktoren verschieben. Die durch Kästchen repräsentierten Faktoren im unteren Bereich der Abbildung behalten also ihre Relevanz sowohl für Einsilber als auch für Mehrsilber, sowohl für ultimabetonte Mehrsilber als auch für andere Mehrsilber, nur ist bei Einsilbigkeit und Ultimabetonung generell von einem höheren Anteil der ES-Token auszugehen.

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Marek Konopka
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